Anti-Wef-Proteste: Die ganze Stadt ist Bühne

Nr. 4 –

Fantasievoller Protest, lange Polizeikordons und seltsame Festnahmen: der 22. Januar 2005 in Bern.

«In Bern haben sich am Samstagabend die Demonstranten gegen das Wef aufgelöst.»

NZZ online vom letzten Wochenende

10.30 Uhr: In den Erstklasswagen des Intercity Zürich-Bern liegen «Tipps für Jungunternehmer mit Träumen» auf: «Legen Sie Ihr Gewissen ab, falls Sie noch eins haben. Gehen Sie keine langfristigen Verbindungen ein. Was Sie mit Ihren Partnern verbindet – vergessen Sie das nie –, sind nur temporäre Interessen. Der Gesetzgeber setzt Ihnen Grenzen. Loten Sie diese aus, brechen Sie Tabus. Es gibt keine falschen Entscheidungen, nur schlechte Anwälte. Investieren Sie in Zukunftsmärkte wie Antidepressiva, Klingeltöne und Fernsehsender.»

12 Uhr: Fünfzig bis hundert WestschweizerInnen werden in der Bahnhofunterführung eingekesselt und einzeln kontrolliert. Auch in der Altstadt und vor der Lorrainebrücke gibt es zahlreiche Kontrollen. Wer Gegenstände wie Filzstifte, Spraydosen oder Taucherbrillen auf sich trägt, wird festgenommen. Auf dem Kornhausplatz finden bedruckte Einkaufstaschen («Das Wef geht mir auf den Sack» und «Das Wef kommt mir nicht in die Tüte») reissenden Absatz. Ein blaues Meer ergiesst sich in die Innenstadt: Immer mehr Polizeiwagen fahren auf. Aargauer, Solothurner und Basler PolizistInnen sind zur Unterstützung der Berner Polizei angereist.

12.30 Uhr: Eine Sekte namens «Zeugen Kapitalisti» in braunen Kutten pilgert durch die Innenstadt und betritt den McDonald’s in der Marktgasse zu Gesängen von «Konsumiert noch mehr» (zur Melodie von «Kumbaya, my Lord»). Auf dem Kornhausplatz verteilt ein Maskierter «Antirepressiva»: Sugus und Zettelchen mit den Meldetelefonnummern für Festgenommene und Verletzte. Auf einer alten Schreibmaschine können Wünsche an das Wef geschrieben werden. Eine Velodemo nähert sich der Innenstadt.

13 Uhr: Die bewilligte Tanzparade gegen das Wef ist auf einer Route ausserhalb der Altstadt unterwegs. Drei Frauen, die unter dem Motto «Poesie des Widerstands» Texte von Friedrich Dürrenmatt, Kurt Marti, Hilde Domin und anderen vorgelesen haben, werden von der Polizei abgeführt, dazu auch noch ein Journalist von Radio Rabe, der sie interviewen wollte. (Stadtpolizei-Informationschef Franz Märki erklärt später gegenüber dem «Bund», «der Journalist sei nicht unter den Festgenommenen aufgeführt».) Eine Partei der Sicherheit (PS) wirbt für ihre Anliegen. Ihr Geschenk an PassantInnen: zehn Zentimeter lange Stacheldrahtstücke.

13.30 Uhr: Der freie WOZ-Mitarbeiter Thomas Stahel wird auf dem Weg zur bewilligten Tanzparade auf der Nydeggbrücke festgenommen, weil er ein zehn Zentimeter langes Stück Stacheldraht auf sich trägt. Er wird mit anderen Inhaftierten zum Polizeistützpunkt beim Park and Ride Neufeld gebracht. Eine Augenzeugin beschreibt diesen Ort wie folgt: «In einer Garage sind zwei Käfige aufgebaut, durch einen Sichtschutz getrennt. Bevor ich in den ersten Käfig zu den zirka vierzig Insassen reingesteckt werde, muss ich mich an die Wand stellen. Ich werde fotografiert. (...) Wir warten im Käfig, die Hände auf den Rücken gebunden. Neue Festgenommene folgen. (...) Die Käfige sind provisorisch in einer Tiefgarage aufgebaut. Es ist kalt, abzusitzen ist auf dem kalten Betonboden nicht möglich.»

13.45 Uhr: Aus Lautsprechern, kleinen und grossen Radios in der ganzen Altstadt tönt die Extrasendung zu den Anti-Wef-Protesten des lokalen Alternativsenders Radio Rabe. Eine Demonstration von 300 Personen bildet sich auf dem Waisenhausplatz und zieht in Richtung Kornhausplatz. Die TeilnehmerInnen der Velodemonstration werden kontrolliert und müssen ihre Masken abgeben, die Mafalda, das Anti-Wef-Symbol, darstellen.

14 Uhr: Der ganze Kornhausplatz wird eingekesselt. Die anwesenden Personen verteilen sich in den umliegenden Gassen. Die «Zeugen Kapitalisti» beten den Polizeikordon an. «O Polizei, die du uns mit so viel Wärme und Zärtlichkeit beschützest, wir danken dir für deine Mühe. Praise the police, yeah!»

Hundert Leute blockieren den Bahnhofplatz und halten eine Kundgebung ab. Polizist P. Rügel tritt auf den Plan. Kurze Zeit später kontrollieren ihn die echten Polizisten von der Basler Polizei. P. Rügel darf seinen Knüppel behalten.

14.20 Uhr: Auf dem Bahnhofplatz versteigern einige KapitalistInnen die Welt. Sie geht für einen dreistelligen Milliardenbetrag weg. Anschliessend spielen sie noch eine Weile mit der Weltkugel.

15 Uhr: Eine Frau protestiert in einem kleinen Käfig auf dem Bundesplatz gegen das Demonstrationsverbot. «Achtung! Sie verlassen den demokratischen Sektor!», warnt ein Plakat am Gebäude der Nationalbank. Die Nachricht von der gelungenen Demonstration in Davos sorgt für gute Stimmung.

15.45 Uhr: Die Polizei kesselt einen Zug von einigen hundert Leuten auf der Schüttestrasse unterhalb der Kornhausbrücke ein. Leute protestieren von der Brücke herunter. Ein Polizeikordon drängt sie weg und blockiert die Brücke. Weitere PolizistInnen postieren sich vor dem Stadttheater. Die Menge bleibt vor der Polizei stehen, einige machen Musik und tanzen. Eine Pro-Wef-Gruppe («Golf statt Krawall») ruft nach mehr Polizei. Militärfahrzeuge transportieren PolizistInnen herum. Wie üblich bei Einsätzen während des Wef vermischen sich Polizei- und Militärmaterial. Kein Problem, sagt Berns Polizeidirektorin Barbara Hayoz später im «Bund»: «Die Armee ist in der Schweiz ein Teil von uns allen.»

16 Uhr: In den Gassen zwischen Waisenhausplatz und Bahnhof werden Leute kontrolliert, die die Altstadt verlassen.

16.30 Uhr: Ein Teil der Eingekesselten auf der Schüttestrasse wird kontrolliert und freigelassen, ein Teil festgenommen. Die meisten Leute verlassen die Altstadt. Der Rabe-Journalist schildert, was gleichzeitig im Park and Ride Neufeld geschieht: «Ich wurde in ein Zimmer geführt zu einem Polizisten hinter einem Bildschirm. Dieser wies auf meinen Presseausweis, der noch immer an meiner Jacke hing, und sagte zu seinen Kollegen: «Nehmt ihm dieses Ding weg! Dies interessiert uns einen Scheissdreck!», und warf den Ausweis auf die Seite. Alle meine Utensilien wurden bis aufs Kleinste untersucht. Dazu wurde ich schikaniert, lächerlich gemacht, und mehrere Polizisten (und Polizistinnen) im Raum lachten mit. Ich erlebte es als bewusste und gezielte Demütigung. Die ganze Stimmung war enorm aggressiv, feindlich, und es folgten diverse Drohungen.» Ein Teil der Verhafteten muss sich ausziehen: «Zum Schluss guckt sie mir auch noch in die Unterhose, vorne und hinten», schreibt eine Augenzeugin. Polizeidirektorin Hayoz erzählt dem «Bund» anderntags ihren Eindruck vom Einsatz: «Dabei empfinde ich es nicht so, dass das Auftreten der Polizei martialisch gewirkt hat, überhaupt nicht.»

17 Uhr: Aus dem Protokoll von Thomas Stahel: «Nach einem kurzen Aufenthalt im zweiten Käfig (ohne Handschellen) fuhr man mich mit einem Sixpack (Mannschaftstransporter) ums Gebäude, wo wir in einen dritten Käfig gesperrt wurden. (...) Dieser grössere Käfig wurde zusätzlich von drei oder vier Hunden bewacht, die durch die Unruhe sehr gestresst und aggressiv schienen. Auch hier wurde das Verlangen nach Wasser (und Essen) verweigert. Nach mehr als sechseinhalb Stunden wurde ich schliesslich zum Bahnhof gefahren und dort um 20.20 Uhr freigelassen.» Ein junger Mann wird von einem Polizeihund gebissen und muss ins Spital gebracht werden. Einschätzung von Barbara Hayoz laut «Tages-Anzeiger»: «Wir halten in Bern niemanden fest, der nichts gemacht hat.»

Nacht auf Sonntag: Die letzten Inhaftierten werden freigelassen.

Auch in anderen Städten der Schweiz haben sich Wef-GegnerInnen einiges einfallen lassen: «Die unberechenbaren MathematikerInnen» demonstrierten während einer Stunde in Davos und zogen bis vor das Kongresszentrum. In Wetzikon spazierten fünfzig Jugendliche permanent über die Fussgängerstreifen und blockierten den Verkehr. In Schaffhausen demonstrierten etwa vierzig Leute gegen Rassismus und das Wef. Die Gruppe «Aktiv unzufrieden» führte in St. Gallen verschiedene Aktionen durch. Ein Dutzend WinterthurerInnen setzte sich für freie Meinungsäusserung demonstrativ in die Marktgasse. Ein Churer verzierte die Gitter, die von der letzten Demonstration immer noch in der Stadt standen, mit Flugblättern. In der Berner Agglomeration kam es zu einer ganzen Reihe von Aktionen: Demo und Protestplakate in Wabern beim Bundesamt für Flüchtlinge, Blockierung des McDonald’s in Köniz und Demo in Bümpliz.

Das Berner Aktionsbündnis gegen das Wef schreibt am Dienstag: «Wir akzeptieren das Demoverbot des Berner Gemeinderats nicht und bestehen weiter auf unserem Recht auf freie Meinungsäusserung.» Das Bündnis ruft zu einer nächsten Demonstration in der Berner Innenstadt auf.