Polizeieinsatz in Bern: Schwere Vorwürfe
Bei einer Demonstration Anfang April kesselt die Berner Kantonspolizei 239 Personen ein und führt sie ab. Die Festgenommenen erheben nun schwere Vorwürfe in Bezug auf den Einsatz. Was war da los?
Vom Baldachin am Berner Hauptbahnhof hängen einige Demonstrantinnen ein Transparent: «Schweizer Waffen, Schweizer Geld morden mit in aller Welt» steht darauf. Am 7. April scheint die Sonne, mehrere Hundert Personen gehen auf die Strasse, um zu demonstrieren. Aus Solidarität mit Afrin, gegen den Militäreinsatz der türkischen Armee, die den kurdischen Kanton in Nordsyrien seit Mitte Januar bombardiert und Mitte März in der Stadt Afrin einmarschiert ist. In den vergangenen Monaten gab es in der Schweiz zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen – Ende Januar gingen in Zürich etwa geschätzte 15 000 Menschen auf die Strasse. Für die Demonstration vor zwei Wochen in Bern war keine Bewilligung eingeholt worden.
«Ich wollte für den Frieden einstehen und mich solidarisieren mit Menschen in Not», sagt die 17-jährige Aktivistin Mona Girard, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. «Die Demonstration in Bern war sehr schön und vielfältig. Es hatte Eltern mit Kinderwagen und auch ältere Leute.» Girard ist eine von 239 DemonstrantInnen, die später an diesem Samstag eingekesselt werden. Eine von vierzig Minderjährigen.
«Kessel aus Kalkül»
Die Demonstration bewegt sich ab vier Uhr nachmittags durch die Berner Innenstadt. Am Rand des Umzugs werden teils Parolen an die Wände gesprüht, ein Brunnen wird rot gefärbt – als Symbol für das Blutvergiessen in Afrin. Dann, eine gute Stunde später, kurz vor dem Bundesplatz, stellen sich PolizistInnen in Kampfmontur in den Weg. Drängen die Demonstration in die Spitalgasse zurück. Der öffentliche Verkehr wird dort für Stunden blockiert sein.
«Wie aus dem Nichts haben sie uns mit Gummischrot beschossen», berichtet die junge Berner Aktivistin Girard. «Ich war etwa zweieinhalb Stunden im Polizeikessel. Trotz der Hitze haben sie uns Wasser verweigert und uns keinerlei Informationen gegeben, wie es weitergeht. Wir durften nicht in den Schatten und auch nicht auf die Toilette.» Als Girard nach Wasser fragte, habe man ihr geantwortet: «Ihr steht auf der falschen Seite für das Recht auf Wasser.» Einem anderen Demonstranten habe man gesagt: «Mit wie viel Bar – aus dem Wasserwerfer – denn?»
Jérémie Reusser studiert Biochemie und ist im Vorstand der Berner Juso. Er ist überzeugt, dass die Polizei aus «Kalkül» mit dem Kessel den öffentlichen Verkehr in der Spitalgasse über Stunden blockierte – so ärgere sich die Bevölkerung über die linken DemonstrantInnen. «Man wollte mit dem Polizeieinsatz junge politisierte Leute einschüchtern», sagt Reusser, Leute, die vielleicht zum ersten Mal an einer Demonstration teilgenommen hätten. «Die Polizei wollte provozieren. Das wäre alles nicht nötig gewesen. Als der Befehl kam, die Demo solle umkehren, gab es einen kleinen Moment Verwirrung, weil das nicht alle gehört hatten. Aber man wollte dem Befehl Folge leisten.» Reusser wirft der Polizei zudem zahlreiche Regelverstösse vor: Unbeteiligte Passanten und Touristinnen seien in den Kessel geraten. Minderjährige Frauen seien von männlichen Polizisten durchsucht worden. «Sie schroteten auf Kopfhöhe in die Demo hinein, um eine Reaktion zu provozieren», so der 21-Jährige. Aber die DemonstrantInnen seien ruhig geblieben. «Trotzdem versucht man nun, den Polizeieinsatz politisch zu nutzen, und stellt uns als gewalttätig und als Chaoten hin.»
Videos, die der WOZ vorliegen, zeigen, wie PolizistInnen ihr Gummigeschossgewehr auf Kopfhöhe halten und abdrücken. Wie ein Greifertrupp von vier Polizisten plötzlich in den Kessel stürmt, eine Person packt und herausschleift. «Hey, hey», sind die Stimmen aus dem Kessel zu hören. «Beruhigt euch mal!» Ein 28-jähriger Demonstrant berichtet, wie ihm ein Polizist im Kessel grundlos mit einem Teleskopschlagstock mehrere Schläge verpasst habe – einen Schlag knapp oberhalb des Handgelenks. Andere PolizistInnen hätten reagiert und den Polizisten nach weiter hinten befohlen. Der Einsatzleiter habe die Sanität gerufen.
«Recht gewaltsam»
Nach etwa zweieinhalb Stunden wird die 17-jährige Girard aus dem Kessel geführt. «Recht gewaltsam» – obschon sie gesagt habe, sie komme freiwillig mit. «Sie haben mir Handschellen angelegt und mich ins Auto verfrachtet. Ich wurde zusammen mit einem Mann in eine Art Hundezwinger gesperrt. Es war sehr eng. Wir wussten nicht, wohin es geht oder was passiert. Die Polizei sagte uns nichts. Sie liessen uns im Auto warten. Wir hatten wenig Luft. Es hatte Leute mit Platzangst da drin.» Girard wird in eine Zelle in der Polizeiwache Neufeld gebracht – zusammen mit dreissig Frauen zwischen 16 und 50 Jahren, sagt sie. «Wir sassen auf dem Boden und warteten etwa vier Stunden.» Dann wird sie aus der Zelle zur polizeilichen Befragung geholt.
«Ich war das erste Mal im Neufeld. Für die jüngere Generation wird dieser Käfig wohl normal», sagt ein 43-jähriger Aktivist. Der Vater zweier Kinder wurde ebenfalls im Polizeikessel festgenommen. Das Vorgehen der Polizei ist für ihn völlig unverständlich. «Ich konnte kein Gewaltpotenzial an der Demonstration feststellen», sagt er. Er sei am Ende des Umzugs mitgelaufen und habe keine Durchsagen der Polizei gehört.
Sonnenbrille und Ballone
Die Polizei sagt wiederum, sie habe die DemonstrantInnen mehrfach gebeten, sich zu entfernen, und habe «aus Sicherheitsgründen» Gummigeschosse abgefeuert, um Abstand zu halten. Bei genauerer Nachfrage verweist der Sprecher von Sicherheitsdirektor Reto Nause an die Kantonspolizei, obschon sich Nause gegenüber der «Berner Zeitung» pointiert geäussert hatte: etwa dazu, dass «der Krieg in Afrin nur ein Vorwand» für die Demonstration und dass «ein politischer Inhalt nicht vorhanden» gewesen sei. Dass nur die «gewaltextremistischen» Sachbeschädigungen im Vordergrund gestanden hätten.
Hans-Jürg Käser ist Polizei- und Militärdirektor des Kantons Bern. Auch er verweist für «Erläuterungen zu einzelnen Einsätzen» an die Mediensprecher der Kantonspolizei Bern. Die Kantonspolizei wiederum schreibt, sie habe angesichts des «sehr umfangreichen und detaillierten Fragenkatalogs» der WOZ keine Zeit für Antworten – und verweist auf bereits getätigte Aussagen und ihre Pressemeldungen. Einer Medienmitteilung ist ein Foto angehängt. Es zeigt die beschlagnahmten Gegenstände hübsch sortiert: Neben ein paar Spraydosen und schwarzen Mützen liegen Ballone, ein Plastikeimer und eine Sonnenbrille.
Warum die Polizei von «Selbstschutz» spricht, erscheint dem Rechtsanwalt Viktor Györffy schleierhaft. Der Präsident des Vereins Grundrechte.ch sagt: «Das sind pauschale Behauptungen. Die bringt die Polizei zwar oft, aber sie erscheinen nicht fundiert.» Schliesslich habe niemand ernsthaft behauptet, dass es sich um eine extrem gefährliche Situation für die Polizei gehandelt habe. Zudem sei zu prüfen, ob das polizeiliche Vorgehen nicht schon im Ansatz illegal gewesen sei, so Györffy: «Der fast dreistündige Kessel und der mehrstündige Polizeigewahrsam kommen einer Freiheitsentziehung gleich.» Artikel 5 der EMRK zähle die zulässigen Gründe für einen Freiheitsentzug abschliessend auf. Solche Gründe könne er in diesem Fall nicht erkennen. Die Polizei hätte nach dem Kessel den DemonstrantInnen die Möglichkeit lassen müssen, sich zu entfernen. Oder aber sie hätte konkrete Gründe angeben müssen, warum sie einzelne Personen länger in Gewahrsam behalte. «Ob die Demonstration bewilligt war oder nicht, spielt dabei keine Rolle», so der Anwalt.
Als Mona Girard entlassen wird, scheint die Sonne nicht mehr. Es ist inzwischen Mitternacht. Ihre Mutter hat schon seit Stunden vor dem Gefängnis gewartet. «Wir wurden die ganze Zeit über psychisch fertiggemacht – teils mit sehr persönlichen Sprüchen», sagt die junge Aktivistin. «Sie sperrten uns ein wie Tiere, ohne dass wir irgendetwas verbrochen hatten.»
Neues Polizeigesetz
Der Grosse Rat hat im Januar die Totalrevision des Berner Polizeigesetzes verabschiedet. Es sieht massive Verschärfungen vor – etwa die Kostenüberwälzung. Bei dieser sollen künftig DemoorganisatorInnen bei Ausschreitungen die Kosten für den Polizeieinsatz bezahlen – bis zu 30 000 Franken pro Person.
Auch TeilnehmerInnen werden zur Kasse gebeten, wenn sie die Demo nicht auf polizeiliche Aufforderung hin verlassen. Ein linkes Bündnis ergreift das Referendum.