Beijing-Konferenz: Armut ist weiblich
189 Regierungen wollten vor zehn Jahren die Situation der Frauen verbessern. Die Bilanz ist niederschmetternd.
Die vierte Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing setzte einen neuen Akzent in der internationalen Debatte über Armutsbekämpfung und wirtschaftliche Entwicklung: Sie rückte den Zusammenhang von Geschlechterungleichheit und Armut ins Zentrum und sah die vielfältige Benachteiligung von Frauen als Ursache für die «Feminisierung der Armut», das überproportionale Anwachsen von Frauenarmut.
Entsprechend wurde in der Aktionsplattform, auf die sich in Beijing 189 Regierungen einigten, das «Empowerment», die Ermächtigung, von Frauen als ein ausschlaggebender Faktor für die Armutsbeseitigung betrachtet. Die Plattform forderte den verbesserten Zugang von Frauen zu Krediten, Landbesitz, Technologie und Ausbildung, den Aufbau sozialer Sicherungssysteme und die Berücksichtigung ihrer Bedürfnisse in wirtschafts- und entwicklungspolitischen Strategien.
Zehn Jahre später behaupten nun die Regierungen, sich um die Bekämpfung von Frauenarmut bemüht und durch eine Vielzahl von Massnahmen ihre Bildungs-, Erwerbs- und Einkommens-situation verbessert zu haben. Doch die Beijing+Zehn-Bilanzen zeigen grosse Widersprüche und Unterschiede zwischen und innerhalb der Regionen. Die europäischen Gleichstellungsministe-rinnen zogen etwa das lapidare Resümee: Fortschritte wurden erreicht, Ungleichheiten und Hindernisse bestehen weiterhin.
Die Armutsbilanz ist niederschmetternd: Heute leben viel mehr Frauen auf der Welt in Armut als 1995. Das liegt vor allem an der wachsenden Zahl von Armen in Afrika und Osteuropa. Während Armutsraten in Asien, vor allem in China, und Lateinamerika reduziert werden konnten, stieg die Zahl der Armen in Afrika zwischen 1990 und 2000 um 82 Millionen an.
Die Uno schätzt den Anteil der Frauen an den weltweit 1,3 Milliarden Menschen, die einkommensarm sind, auf siebzig Prozent. In den nationalen Berichten über die Umsetzung der Beijinger Aktionsplattform fehlt es jedoch immer noch an nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten. Trotzdem zeichnen sich Trends ab. Alle 189 Regierungen berichten, dass die Mehrzahl der Armen Frauen sind. Nur wenige Länder wie zum Beispiel Malaysia, Vietnam, Nicaragua und Chile legen Zahlen vor, die eine Reduktion von Frauenarmut zeigen.
In Afrika setzen die Regierungen ihre Hoffnungen auf eine stärkere Partizipation von Frauen an den «Armutsreduktionsstrategien» der Weltbank. In Lateinamerika ist bereits eine «Feminisierung der Armutsbekämpfung» und der Food-for-Work-Programme (Nahrungsmittel für Arbeit) zu beobachten. Zynischerweise steigert der Einbezug von Frauen gemäss der ökonomischen Logik die Effizienz solcher Programme, weil durch ihre gering entlohnte Arbeit die Kosten niedrig sind.
Zwar haben diese Programme eine Empowerment-Wirkung auf die Frauen, weil sie ihre Handlungsfähigkeit im öffentlichen Raum und ihr Selbstvertrauen erweitern. Doch die Effekte der Armutslinderung sind sehr begrenzt, weil keine dauerhaften sozialen Sicherungsnetze oder Einkommensquellen entstehen.
In Lateinamerika und der Karibik wird noch ein weiterer Widerspruch im Empowerment von Frauen beklagt: Obwohl es grosse Gleichstellungsfortschritte im Bildungsbereich gab, schlug sich dies nicht in gleichen Beschäftigungs- und Einkommensmöglichkeiten nieder. Auf den globalisierten Erwerbsarbeitsmärkten bestehen generell weiterhin markante Ungleichheitsstrukturen.
Zwar hält die Feminisierung der Beschäftigung weltweit an, und die Erwerbsrate von Frauen wächst schneller als die von Männern. Von daher verringert sich das Gefälle zwischen den Geschlechtern auf den globalisierten Erwerbsmärkten. Doch in keiner Region wurde die Geschlechtersegmentierung innerhalb der Erwerbsmärkte aufgebrochen, und nirgendwo konnten geschlechtsspezifische Einkommensunterschiede (im Weltdurchschnitt 25 Prozent) entscheidend verringert werden.
Im Zuge der Globalisierung nimmt überall die formelle Beschäftigung ab, während die Informalisierung (Beschäftigung in der Schattenwirtschaft) und Prekarisierung von Arbeit (unsichere und ungeschützte Arbeitsplätze) zunimmt. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation bleibt die Mehrzahl der Frauen in flexibler, prekärer, schlecht bezahlter Arbeit und Teilzeitbeschäftigung «kleben». In Europa etwa sind 83 Prozent der Teilzeitarbeitenden Frauen. In Osteuropa haben sich die Beschäftigungsfähigkeit und soziale Sicherheit von Frauen deutlich verschlechtert.
Die neuen Märkte bieten jedoch auch Frauen neue Chancen. Für Gutqualifizierte ergeben sich etwa Möglichkeiten im mittleren Management. Neue Jobs für Frauen entstehen vor allem in der Finanzdienstleistungsbranche, im IT-Sektor (Informations- und Kommunikationstechnologien) und im Tourismus. Eine der grossen Hoffnungen von Beijing – dass die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bei der Gleichstellung helfen würden – hat sich dagegen nicht erfüllt: In fast allen Ländern ist eine «digitale Geschlechtertrennung» zu beobachten. Frauen haben viel weniger Zugang zu den Informationstechnologien als Männer. Gleichzeitig besteht weiterhin die berühmte «Glasdecke» als Karrierestopp für Frauen: Nicht einmal drei Prozent der Spitzenpositionen in den grossen Konzernen sind von Frauen besetzt.
Es sind emanzipatorische Fortschritte, dass die Bedeutung von Frauen als Ernährerinnen ihrer Familien und ökonomische Akteurinnen wächst. (Dazu trägt auch die Feminisierung der Migration und der Geldüberweisungen bei.) Diese Leistungen werden politisch häufiger anerkannt als früher, aber trotzdem nicht angemessen entlohnt. Zudem hat die zunehmende Frauenbeschäftigung in den meisten Fällen keinen Einfluss auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in den privaten Haushalten: Weltweit verbringen Frauen doppelt so viel Zeit mit unbezahlter Pflegearbeit in Haushalt und Familie wie Männer.
Diese Mehrarbeit setzt sich nicht in grössere soziale Sicherheit um. Informelle, ungeschützte und gering entlohnte Arbeit führt im Alter dazu, dass viele Frauen gar keine oder keine existenzsichernde Rente bekommen. Und die in vielen Ländern vorgenommenen Rentenreformen haben weitere negative Auswirkungen auf Frauen, weil Geringverdienende sich keine private Versicherung leisten können.
Von Geschlechtergleichheit auf den Erwerbsarbeitsmärkten und in der Wirtschaft sind deswegen trotz relativer Fortschritte alle Länder noch weit entfernt. Das Uno-Sozialforschungsinstitut UNRISD fügt hinzu, dass es nicht leichter wird, in einer zunehmend ungleichen und polarisierten Welt Geschlechtergerechtigkeit durchzusetzen.
Allerdings ist es auch problematisch, Geschlechtergleichheit als quantitativen Indikator isoliert zu betrachten. Wo sich etwa Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen verringert haben, liegt dies teilweise an sinkenden Männerlöhnen. Das gilt auch für andere Bereiche.
So steckt in einigen afrikanischen Regionen hinter gleichen Einschulungszahlen, dass weniger Jungen zur Schule gehen, aber nicht mehr Mädchen. Und die steigenden Zahlen von Unternehmerinnen geben eher Auskunft über den Anstieg selbständiger Beschäftigung (zum Beispiel die Ich-AGs in Deutschland) als über den Aufstieg von Frauen in wirtschaftliche Führungspositionen. Eine Absenkung der sozialen und wirtschaftlichen Standards für Männer war jedoch nicht das, was Frauen bei ihrer Forderung nach Gleichstellung und Emanzipation im Sinn hatten.
Christa Wichterich ist Publizistin und Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit und ist derzeit an der Uno-Nachfolgekonferenz in New York.