40 Texte aus 40 Jahren: 1989: Multinationale Konzerne und Dritte Welt: Rückzug aus den Hinterhöfen?
In den siebziger Jahren prägten Fachleute den Begriff der «neuen internationalen Arbeitsteilung». Es schien damals, als ob die multinationalen Konzerne ihre Produktionsstätten immer mehr in Drittwelt-Länder mit billigen Arbeitskräften und wachsenden Märkten verlegen würden. Hat sich diese Erwartung erfüllt? Sind die Länder der Dritten Welt wirklich Hinterhöfe der Schweizer Wirtschaft?
Die Schweiz ist wie kaum ein anderes Land mit dem multinationalen Kapital verflochten. Der Anteil der Investitionen, den ihre Konzerne in der Dritten Welt tätigen, ist allerdings (wie bei den Krediten oder beim Handel) geringer als bei der ausländischen Konkurrenz. Die Gewinne der schweizerischen Firmen und Banken stammen zum grössten Teil aus Geschäften mit anderen westlichen Industrieländern (und beruhen so indirekt auf der Ausbeutung im Weltmassstab). Seit Beginn der 80er Jahre nehmen die Investitionen in der Dritten Welt sogar ab – und zwar bei den schweizerischen wie bei den übrigen multinationalen Konzernen. Analog zu den Investitionsflüssen ist in dieser Zeit – vor dem Hintergrund der Verschuldungskrise – auch die Kritik an den Multis zurückgegangen.
Angesichts der Verschuldungskrise agieren die multinationalen Konzerne mit neuem Selbstvertrauen. Mit ihren Investitionen stellen sie sich als eigentliche Entwicklungshelfer der Dritten Welt dar. «Direktinvestitionen vermitteln meist sehr wirksame Entwicklungsimpulse», meinte beispielsweise Kaspar Villiger, damals noch Stumpenfabrikant, um 1987: «Weil sie meist mit Risikokapital finanziert sind, belasten sie das Entwicklungsland nicht mit Schulden. Die Direktinvestitionen gehören damit zum entwicklungspolitisch Sinnvollsten überhaupt.» Und Nestlé-Vertreter Klaus Schnyder erklärt in der EvB-Dokumentation 1/89: «Die vorwiegend emotionell gefärbte Diskussion ist weitgehend versachlicht worden. (...) Dieser Gesinnungswandel beruht auf der Erkenntnis, dass die multinationalen Unternehmen nicht nur direkt und indirekt Arbeitsplätze schaffen, sondern auch das für die internationale Konkurrenzfähigkeit wichtige Know-how bringen. Das Risikokapital braucht – im Gegensatz zu internationalen Darlehen – nicht zurückbezahlt zu werden.» Ausländische Investitionen bringen also begehrte Devisen ein, schaffen Arbeitsplätze und vermitteln wichtiges technologisches Know-how. Wie sieht es konkret aus mit diesen Versprechungen?
Devisenabflüsse
Die finanzielle Bedeutung von ausländischen Investitionen wird oft übertrieben. Gemäss einer weltweiten Untersuchung machten diese 1978–1980 nur in neun Drittwelt-Ländern mehr als 5 Prozent aller Kapitalanlagen aus.1 Gut 40 Prozent der Investitionsflüsse entfielen 1980–1986 auf sechs Schwellenländer: auf Brasilien, Mexiko, Singapur, Malaysia, China und Ägypten.2 Seit 1980 gehen die Investitionen in der Dritten Welt zudem zurück. Westeuropa und die USA sind attraktivere Märkte als beispielsweise die lateinamerikanischen Länder, in denen die Kaufkraft der Bevölkerung dem Schuldendienst geopfert wird.
Doch auch die Investitionen, die tatsächlich erfolgen, können ein Land finanziell teuer zu stehen kommen. Den anfänglichen Kapitalanlagen und allfälligen Exporterlösen stehen die Rückflüsse an die Konzernzentrale entgegen – in Form von Gewinnabzügen, von Gebühren für Patente, Lizenzen etc. sowie von manipulierten Preisen im Handel zwischen Stammhaus und Tochtergesellschaft. Von 1980 bis 1986 übertrafen die Rückflüsse in Form von offiziellen Gewinnabzügen sämtliche neuen Investitionen in der Dritten Welt um 9 Prozent.3 Die versteckten Gewinnabzüge, die gemäss Schätzung der UNO-Tochterorganisation UNCTAD ein Mehrfaches der ausgewiesenen Profite ausmachen können, kommen zu diesem Abfluss noch hinzu (siehe dazu den Kasten zu Alusuisse in Sierra Leone). Ausländische Investitionen werden längerfristig leicht zu einem Verlustgeschäft.
Arbeitsplätze für ein Prozent
Gemäss UNO-Schätzungen beschäftigen multinationale Konzerne in der ganzen Welt rund 65 Millionen Menschen. In der Dritten Welt sind es rund 6 Millionen Menschen – und dies ist weniger als 1 Prozent aller Arbeitskräfte in diesen Ländern.4 Nicht in diesen Statistiken tauchen die Arbeitsplätze auf, die durch Investitionen von multinationalen Konzernen wegrationalisiert werden. Deren hochmoderne Technologien verdrängen oftmals Tausende von traditionellen HandwerkerInnen vom Markt. Ein Beispiel dafür sind die indischen HandweberInnen, die der Konkurrenz der Sulzer-Webmaschinen weichen müssen (vgl. die Reportage von Biggi Wolff,WoZ 47, 1988). Multis geben oftmals vor, die Lösung für die Beschäftigungsprobleme der Zukunft zu bieten. Ausgehend von der gegenwärtigen Rate müssten sie ihre jährlichen Investitionen um das 150fache steigern, wenn die bis im Jahr 2000 benötigten Arbeitsplätze in der Dritten Welt tatsächlich von ihnen geschaffen werden müssten.
Multinationale Konzerne weisen oft darauf hin, dass ihre Löhne normalerweise über dem nationalen Durchschnitt liegen. Dennoch ist das nicht selten zu viel zum Sterben, aber zu wenig zum Leben. In den sogenannten freien Export-Produktionszonen, in denen ausländische Konzerne unter ur-kapitalistischen Bedingungen produzieren, liegen die Stundenlöhne teilweise – etwa in Sri Lanka – bei nur 20 Rappen. Doch was den einen genommen wird, wird den anderen gegeben. Bei Mövenpick in Ägypten – so schätzt Tina Bergmann in ihrer WoZ-Reportage (WoZ 41/88) – verdienen die zwölf ausländischen Manager gleich viel wie die 950 ein heimischen Angestellten. Und die 700 Arbeiter einer Alusuisse-Mine in Sierra Leone verdienen zusammen gerade das Ruhegehalt des früheren Chefs dieser Firma.
Technologie und Macht
«Wenn Sie sehen, wie einfachste Leute handwerklich angelernt werden, wenn Sie ihre Fortschritte am Arbeitsplatz sehen, dann glauben Sie daran, dass Direktinvestitionen in Entwicklungsländern sehr wirksam sein können», berichtete Schindler-Verwaltungsrat Franz Muheim im März 1987 im Ständerat. Multi-Vertreter vergessen nie zu erwähnen, wieviel Know-how ihre Firmen durch die Ausbildung von einheimischen Arbeiterinnen den Ländern der Dritten Welt zufliessen lassen.
Tatsächlich ist es den wenigsten Drittwelt-Ländern gelungen, für den Aufbau einer eigenen Industrie von multinationalem Know-how unabhängig zu werden. (Eine Ausnahme bildet etwa die Agroindustrie in Kuba.) Doch die Zahl von Arbeitsplätzen, an denen Know-how weitergegeben wird, ist sehr beschränkt. Von den unzähligen Firmen, die die billige Arbeitskraft gerade von Frauen durch stumpfsinnige Fliessbandarbeit aus nützen, werden einheimische Fähigkeiten nicht gefördert, sondern zerstört. Und auch bei den modernen Produkten, die multinationale Konzerne in der Dritten Welt herstellen, stellt sich oft die Frage, wie sinnvoll diese sind. Das Sortiment von Schweizer Multis umfasst dort unter anderem Tiefkühlprodukte und Corn-Flakes-Maschinen, Vitaminpräparate und Pestizide, Atomkraftwerke und Schwerwasseranlagen, Schützenpanzer und Gewehre. Dies ist nicht die Technologie, welche es für einen eigenständigen Entwicklungsweg braucht. Drastisch bestätigt dies die Aussage eines Vertreters der Firma Bühler in Mexiko um 1981. Er meinte: «Wir machen nicht alles. Nur das Modernste vom Modernen. Wir arbeiten auch hier in Mexiko mit Schweizer Technologie. Was die Firma heute in der Schweiz entwickelt, führen wir morgen hier ein.» 5
Mitte der 70er Jahre enthüllten amerikanische Kongress-Hearings, wie multinationale Konzerne zusammen mit der CIA demokratische Regierungen der Dritten Welt gestürzt hatten. ITT hatte um 1973 den Sturz von Salvador Allende organisiert, United Fruit 1954 den der Regierung Arbenz in Guatemala. In den vergangenen Jahren haben die Multis dieses hässlichste Gesicht des Kapitalismus abgelegt. Es gelang ihnen in vielen Fällen, sich auch mit sozialistischen Regierungen erfolgreich zu arrangieren.
Eine wirtschaftliche und politische Machtposition haben multinationale Konzerne in den meisten Ländern nach wie vor. Dies gilt gerade in ärmeren Drittwelt-Ländern, die oft stark von wenigen Bergbau- oder Agro-Multis abhängig sind. Der Umsatz der wichtigsten Konzerne ist grösser als das Volkseinkommen von sämtlichen afrikanischen Staaten ausser Südafrika und Nigeria. – Im Interesse der Multis zwingen heute auch Gläubiger-Institutionen wie der IWF den Drittwelt-Ländern immer günstigere Investitionsbedingungen – also freier Kapitalverkehr, Steuer- und Zollvergünstigungen, eingeschränkte Gewerkschaftsrechte, fehlende Umweltschutz-Auflagen, verbilligte Kredite und andere Subventionen – auf. (Die MIGA – die neue Investitionsversicherung der Weltbank – werde in der Dritten Welt ebenfalls «die Empfindlichkeit gegenüber Einbussen der staatlichen Souveränität vermindern», schrieb der Bundesrat 1987 vielsagend.) Die Multis haben das Schmutzgeschäft der politischen Einflussnahme in letzter Zeit weitgehend den westlichen Regierungen und dem IWF überlassen können.
Abkopplung wider Willen
1977 prägten Wirtschaftswissenschafter vom Starnberger Institut den Begriff der «neuen internationalen Arbeitsteilung». Es schien, als ob die multinationalen Konzerne ihre Produktionsstätten immer mehr in Drittwelt-Länder mit billigen Arbeitskräften und wachsenden Märkten verlegen würden. Doch diese Erwartung hat sich nicht erfüllt. Die Multis machen sich rar. Im Verlauf der 80er Jahre sind ihre Investitionen in der Dritten Welt (wenn auch unregelmässig) zurückgegangen. Machten sie im Zeitraum 1975/79 durchschnittlich 13,75 Mrd. Dollar pro Jahr aus, so betrugen sie 1981/85 noch jährlich 10,55 Mrd. Dollar. Seither sind sie noch stärker zurückgegangen. Besonders stark war der Rückgang in Lateinamerika. 1984/86 machten die Direktinvestitionen dort gerade noch 58 Prozent der Zuflüsse von 1980/82 aus. Diese flossen dafür umso mehr nach Ostasien – und insbesondere nach China. Das Land der Mitte wurde zum begehrtesten Investitionsland der Dritten Welt überhaupt. Jeder neunte multinationale Dollar wurde 1984/86 dort investiert.
Den Grund für diesen Rückgang bildet hauptsächlich die Verschuldungskrise. In vielen Drittwelt-Ländern sind nicht nur die Arbeiterschaft, sondern auch die Mittelschichten, die sich früher die Produkte der Multis leisten konnten, völlig verarmt. Zudem fehlen den Regierungen heute die Kredite für die aufwendigen Entwicklungsprogramme, die der Maschinenindustrie in den 70er Jahren umfangreiche Aufträge eingebracht hatten. Nur in den südostasiatischen Schwellenländern setzt sich das Wachstum der 70er Jahre fast ungebremst fort.
Einige Ökonomen glauben, dass auch die mikroelektronische Revolution zu einer Rückwanderung von Konzernen aus der Dritten Welt führe. Wenn die Arbeit rationalisiert wird, werden die tiefen Löhne der Dritten Welt als Anteil an den gesamten Produktionskosten immer weniger wichtig. Es gibt allerdings wenige Beispiele für Firmen, die ihre Produktionsstätten aus diesem Grund wieder aus der Dritten Welt zurückverlagert hätten. Hingegen verunmöglichen ihnen die zunehmenden Importschranken in den USA und in Europa, noch mehr Konsumgüter (wie Kleider oder Autos) aus den Billiglohn-Ländern in die Industrieländer einzuführen.
Im Vergleich zu den 70er Jahren konzentrieren sich die Investitionen der Konzerne wieder stärker auf die Industrieländer selbst: auf die Vereinigten Staaten (in denen der Dollar immer billiger wird) sowie auf die Länder der Europäischen Gemeinschaft (mit dem sich abzeichnenden Binnenmarkt von 1992). In den Jahren 1980/82–1984/86 nahm der Anteil der Industrieländer an den ausländischen Investitionen von 66 auf 73 Prozent zu. Statt in produktive Investitionen wird dabei das Geld immer mehr in Übernahmen von bestehenden Firmen angelegt. Allein in den USA wurden 1988 zu diesem Zweck über 100 Mrd. Dollar ausgegeben. Die «Hinterhöfe» liefern (durch den Schuldendienst) Kapital für das Leben auf Pump sowie billige Rohstoffe für den Konsumboom, doch als Märkte sind sie für die Multis uninteressant geworden.
Das Rad wird zurückgedreht
Ende der 60er und anfangs der 70er Jahre ging eine Welle von Verstaatlichungen durch die Dritte Welt. Zudem versuchten einige Regierungen mit einer Reihe von einschränkenden Massnahmen die Investitionen der mächtigen Konzerne ihren eigenen (national-kapitalistischen) Entwicklungszielen unterzuordnen. Inländische Partner mussten am Aktienkapital beteiligt werden; Gewinne sollten nicht mehr unbeschränkt aus dem Land abfliessen dürfen; die Übertragung von Know-how wurde vertraglich geregelt.
Die multinationalen Konzerne entwickelten in den 70er Jahren eine Vielfalt von neuen Investitionsformen, um sich dem wirtschaftlichen Nationalismus der Drittwelt-Regierungen anzupassen. Die Liste reichte dabei von sogenannten Joint-Ventures (gemeinsamen Tochterfirmen von ausländischen und Staatsgesellschaften) über Minderheitsbeteiligungen an lokalen Firmen, Lizenz- und Management-Verträge (bei denen sich die Multis nicht mit Kapital, sondern bloss mit ihrem Know-how beteiligten) bis zum sogenannten Sub-Contracting (bei welchem lokale Firmen auf Vertragsbasis die Produktion für Multis übernahmen).
In den 80er Jahren fanden fast alle ausländischen Investitionen in der Dritten Welt in Form von solchen Minderheitsbeteiligungen statt. Diese lagen durchaus auch im Interesse der investierenden Konzerne. Durch die Beteiligung von lokalen Partnern konnten sie sich gegen politische Massnahmen der Regierungen absichern. Die Partner mussten dafür ihrerseits einen Teil des Kapitals in das Unternehmen einbringen. Die Entscheidungsgewalt blieb in den meisten Fällen dank Management-Verträgen fest in den Händen der Multis. Know-how und Vermarktungskanäle waren als Machtinstrument wichtiger geworden als Kapital. Und Möglichkeiten zum Gewinntransfer an die Konzernzentrale fanden sich (dank den vielfältigen Finanzflüssen innerhalb der Firma) auch in denjenigen Fällen, in denen der eigentliche Kapitalabzug verboten war. Bloss komplizierter wurde das Geschäften für die multinationalen Manager.
In die Zwangsjacke der Verschuldung gesteckt, mussten die meisten Regierungen in den vergangenen Jahren ihre einschränkende Politik gegenüber den Multis wieder aufgeben. Der Nationalismus wurde zur blossen, inhaltslosen Rhetorik, um die eigenen Wählerschichten bei der Stange zu halten. Ausländisches Kapital wird wieder mit offenen Armen empfangen. Diese Trendwende äussert sich in vielen Formen. Immer mehr Länder richten freie Export-Produktionszonen ein, in denen Konzerne fast ohne rechtliche Einschränkungen Arbeitskräfte ausbeuten können. Die Zahl solcher Zonen nahm von 1975 bis 1985 von 79 auf 183 zu.6 Mit billigen Löhnen, rechtlichen Freiräumen und Steuergeschenken versuchen die Regierungen der verschuldeten Länder, sich gegenseitig als attraktive Investitionsstandorte zu überbieten. Ähnliches passiert auf der internationalen Ebene. Die Diskussionen um die weltweiten Investitionsbedingungen wurden ursprünglich in der UNCTAD geführt, in welcher die Drittwelt-Länder ein starkes Gewicht besitzen. Seit 1987 wurden sie jedoch ins Handelsforum GATT verlegt, welches völlig von den westlichen Industrieländern dominiert wird. Hier haben die Gespräche gerade das entgegengesetzte Ziel erhalten – nämlich die früheren Einschränkungen der Multi-Tätigkeit aufzuheben. Auch die neue Weltbank-Tochter MIGA soll dazu beitragen, das günstige Investitionsklima weltweit aufrechtzuerhalten. Die meisten Drittwelt-Regierungen haben sich gegen diese Veränderungen nicht gewehrt.
Die aktuellen Sanierungsprogramme des IWF verstärken die neue Politik noch. Löhne müssen gekürzt, Gewerkschaftsrechte eingeschränkt, Beschränkungen des Kapitalabflusses aufgehoben werden. In verschiedenen Ländern verschachern die Regierungen zudem nationale Unternehmen und Bodenschätze zu Discountpreisen an ausländische Konzerne, wenn diese dafür ihrerseits den Banken einige Kredite zurückbezahlen (sogenannte Debt-equity-swaps).
Der tendenzielle Auszug der Konzerne aus ihren «Hinterhöfen» hat in diesen Ländern bisher nicht zu einer Emanzipation vom multinationalen Kapital, zu politischen Veränderungen hin zu einem Entwicklungsweg aufgrund der eigenen Kräfte geführt. Um einen Bruch mit dem kapitalistischen Weltwirtschaftssystem (bei spielsweise in Form eines Schulden-Rückzahlungsboykotts) zu vermeiden, verkaufen die Regierungen stattdessen ihre politische (und z.T. territoriale) Souveränität sogar noch stärker an das knapper werdende ausländische Kapital.
Schweizer Kapital mit dabei
Pro Kopf der Bevölkerung stehen die schweizerischen Konzerne mit ihren Ausland-Investitionen einsam an der Spitze. Der einheimische Markt ist so klein – für mehrere Schweizer Multis macht er heute weniger als 5 Prozent des Umsatzes aus –, dass verschiedene Firmen schon seit dem letzten Jahrhundert ins Ausland expandieren. 1977 lagen die Schweizer Multis mit einem weltweiten Anteil an den Ausland-Investitionen von 4,7 Prozent an fünfter Stelle unter allen Industrieländern. In vielen Drittwelt-Ländern – so in der Türkei oder in Indien, in Brasilien oder Mexiko, in Kolumbien oder Peru – zählen sie zu den drei oder vier wichtigsten Investoren. Allerdings ist der Anteil, den Schweizer Multis in der Dritten Welt investiert haben, wegen den fehlenden früheren Kolonialreichen kleiner als bei den anderen Industrieländern.
Die grössten Schweizer Konzerne sind in den Branchen Nahrungsmittelindustrie (Nestlé, Jacobs Suchard,) Chemie (Ciba-Geigy, Roche, Sandoz) und Maschinenindustrie (ABB, Oerlikon-Bührle, Sulzer, Schindler etc.) tätig. Wenn sie in der Dritten Welt investieren, so wollen sie sich (mit Ausnahme von Alusuisse) nicht Rohstoffquellen sichern, sondern einen Anteil an einem wachsenden lokalen Markt. Dies gilt für Milchpulver, Maggi-Würfel und Medikamente ebenso wie für Pestizide, Turbinen und Zement. Wenig interessiert sind die Schweizer Firmen – mit Ausnahme der Uhrenindustrie – auch an blossen Produktionsplattformen in der Dritten Welt, um von dort dank billiger Arbeitskraft wieder in die Industrieländer zu exportieren. Selbstverständlich nicht wegen irgendwelchen moralischen Skrupeln: Diese Strategie ist vor allem für die arbeitsintensiven Textil-, Auto- und Elektronik-Branchen attraktiv – und in diesen sind die Schweizer Konzerne nicht vertreten.
Das Zeitalter der schnellsten Expansion in die Dritte Welt waren auch für die Schweizer Multis die 70er Jahre. Ihre Investitionen dort nahmen damals um durchschnittlich 11,7 Prozent pro Jahr zu.7 Die Zahl der Arbeitsplätze der 15 grössten Konzerne wuchs von 1970 bis 1980 um 67 Prozent auf 100 400; dies war bei weitem das stärkste Wachstum unter allen Regionen. (In der Schweiz nahmen ihre Arbeitsplätze gleichzeitig noch um 2 Prozent zu.) Typisch ist, dass dabei nur Teile der Produktion und der Vermarktung ausgelagert wurden, nicht aber Gewinnverwaltung, Forschung etc. 1980 fielen 15 Prozent der Produktion (und 16 Prozent des Personals) dieser Firmen in der Dritten Welt an, aber nur gerade 3 Prozent der Forschungstätigkeit.
Wie schon in den früheren Jahren konzentrierten sich die neuen Investitionen vor allem auf die Schwellenländer Lateinamerikas. 70 Prozent aller Drittwelt-Arbeitsplätze dieser Firmen lagen 1980 in dieser Region.8
Es waren hauptsächlich die kaufkräftigen Eliten in den sich rasch industrialisierenden Grossstädten (sowie die fetten Aufträge der Regierungen), die die Schweizer Multis in diese Länder lockten. In ganz Afrika unterhielten sie dagegen um 1980 nur gerade 8000 Arbeitsplätze.
Der bei weitem wichtigste Schweizer Konzern in der Dritten Welt ist Nestlé. 1980 besass der Waadtländer Multi nicht weniger als 46 000 Arbeitsplätze in diesen Ländern – gut sechs mal mehr als in der Schweiz. Die Devise von Nestlé ist, in allen Regionen möglichst nahe an den Märkten eigene Produktionsstätten zu unterhalten. Als einziger Schweizer Konzern (neben den Chemie-Riesen) ist er auch in zahlreichen ärmeren Drittwelt-Ländern vertreten. Überall auf der Welt werden so mit schweizerischem Kapital und Know-how Grundnahrungsmittel in aufwendige und teure Spezialitäten für die städtischen Eliten umgewandelt.
Lotterie-Mentalität
«Einzig in den Entwicklungsländern wird der Personalbestand der 15 grössten Schweizer Multis weiterhin deutlich zunehmen», schrieben die Wirtschaftswissenschafter Borner und Wehrle anfangs der 80er Jahre.9 Sie sollten sich täuschen. Mit der Verschuldungskrise verging auch den Schweizer Konzernen die Lust auf weitere Investitionen in der Dritten Welt. Seit 1981 gehen die entsprechenden Kapitalflüsse fast kontinuierlich zurück und erreichten 1987 sogar einen negativen Stand (d.h. die Aufhebung und Verkäufe von Produktionsstätten waren grösser als die neuen Investitionen). Gar kein Kapital floss in den letzten fünf Jahren unter dem Strich mehr nach Afrika (sowie 1987 nach Lateinamerika).10
Gemäss dem Wirtschaftsjournalisten Jean-Philippe Arm besitzen Schweizer Multis in der Dritten Welt seit einigen Jahren eine «Lotterie-Mentalität». Vor allem die grössten Konzerne, die dort seit Jahrzehnten eine starke Stellung aufgebaut haben, erhalten ihre Präsenz mit einem Minimum an Verlusten aufrecht und spekulieren auf wirtschaftlich bessere Zeiten. Immerhin gibt es in Rio de Janeiro oder Kairo auch in Krisenzeiten noch eine reiche, konsumorientierte Oberschicht. Doch expandiert wird fast nur noch in China und in den südostasiatischen Schwellenländern. Neben Schindler haben hier auch Ciba-Geigy oder ABB Joint-Ventures gegründet. Erst recht attraktiv sind die USA und die Länder der europäischen Gemeinschaft: Fast alle Schweizer Multis (z.B. Nestlé, Sulzer, Schindler oder Ciba-Geigy) haben in den vergangenen Jahren US-Firmen im Wert von mehreren 100 Mio. Dollar aufgekauft.
Auch die Schweizer Firmen haben in der Dritten Welt den Trend zu neuen Investitionsformen mitgemacht. Ein typisches Beispiel dafür ist die Beteiligung von Sulzer an LAL in Indien (mit Kapitalminderheit und Lizenz). Nestlé hat in den letzten drei Jahren Fabriken mit lokaler Beteiligung in Ägypten und Papua-Neuguinea gebaut. Ciba-Geigy hat gemeinsame Tochterfirmen mit einem koreanischen Multi und einem chinesischen Staatsbetrieb gegründet. Holderbank hat sich an einheimischen Zementfabriken in Indien und Macao beteiligt – als Sprungbretter für den begehrten chinesischen Markt. Doch an komplizierten Gegengeschäften, Debt-equity-swaps etc. beteiligen sich die Schweizer Multis praktisch nicht. Denn so wichtig ist die Dritte Welt für sie traditionell nicht.
Diplomatie im Interesse der Multis
Der Umgang mit multinationalen Konzernen ist Thema verschiedener internationaler Organisationen. Seit 1977 versuchte das Zentrum für Transnationale Unternehmen der UNO, einen Kodex für solche Firmen auszuarbeiten. Seit 1975 wurden auch Verhandlungen über eine Revision des internationalen Patentrechts geführt. 85 Prozent der Patente in der Dritten Welt befinden sich in ausländischer Hand. Die allermeisten von diesen werden jedoch von den Inhabern nicht ausgenützt, sondern stillgelegt. Die Drittwelt-Länder versuchten in den Verhandlungen, diese Blockierung des Zugangs zum internationalen Know-how aufzuheben. Doch Mitte der 80er Jahre erreichten die Verhandlungen um einen Kodex wie um ein neues Patentrecht einen toten Punkt. In der Ära Thatcher/ Reagan waren die Industrieländer nicht mehr bereit, über Einschränkungen ihrer Interessen überhaupt zu diskutieren.
Die Schweiz war und ist bei allen Verhandlungen um Belange der Multis äusserst aktiv. Bei den Diskussionen über einen Multi-Kodex wie über ein neues internationales Patentrecht trat sie gar als Koordinatorin und Sprecherin der westlichen Industrieländer auf. Die Schweiz werde sich «auch weiterhin für einen ausgewogenen Kodex einsetzen», versprach der Bundesrat im soeben erschienenen Aussenwirtschafts-Bericht 1988... Neben dieser aktiven Diplomatie im Interesse der Multis fällt die bilaterale Investitionsförderung (etwa mit der kaum beanspruchten Investitionsrisiko-Garantie) nicht ins Gewicht.
Und die Auswirkungen auf die Schweiz? Die weltweite Internationalisierung der Produktion hinterlässt auch im Inland ihre Spuren. Kleinere Firmen werden im raschen Konzentrationsprozess verdrängt, Randregionen besonders betroffen. Unqualifizierte Tätigkeiten werden am ehesten ausgelagert; die Arbeitsplätze von Frauen, AusländerInnen und HeimarbeiterInnen sind bei einem Konjunktureinbruch gefährdet. Die Branchen, die noch in der Schweiz industriell produzieren, verlangen zunehmend politische Konzessionen – so etwa bei den Exportsubventionen (in der Maschinenindustrie), im Umweltschutz (im Fall der Chemie) oder bei der Flexibilisierung der Arbeitszeit (in der Uhren- oder Textilindustrie). Werden die Bedingungen nicht erfüllt, so drohen die Firmen offen mit der Abwanderung ins Ausland.
Die soziale und politische Erstarrung und die tiefen Steuern, das gute Ausbildungsniveau und die Verkehrsverbindungen machen die Schweiz gleichzeitig zu einem attraktiven Platz für Hauptsitze von Konzernen. Verschiedene Multis (wie Pirelli, Triumph, Jacobs oder ABB) haben ihr Domizil in den vergangenen Jahren in die Schweiz verlegt. Immer mehr weltweite Produktionsentscheide werden hier gefällt, riesige Kapitalien von hier aus verschoben. Die Spitzenlöhne bei Industrie- und Bankkadern sowie bei den nachgelagerten Dienstleistungsbranchen sind eine der Folgen dieser Spezialisierung. Entwickelt sich die Schweiz immer mehr zu einem Land von gutbezahlten ManagerInnen und unqualifiziertem Reinigungspersonal, von JobberInnen und DividendenpickerInnen, von Verwaltungspalästen und City-Vertriebenen?
Anmerkungen
1 OECD, Recent Trends in International Direct Investment, 1987, S. 29
2 Daten aus IMF, Balance of Payments Statistics, u.a.
3 Errechnet aus IMF, Balance of Payments Statistics
4 Zahlen aus UNCTC, Transnational Corporations in World Development, 1988
5 Silvio Bertolami, Halbgötter, Giftkriege und Kondensmilch, 1983, S. 12
6 Folker Fröbel u.a., Umbruch in der Weltwirtschaft, 1986, S. 63
7 OECD, Recent Trends in International Direct Investment, 1987, S. 200 (für 1970–1982). Die Inflation wurde allerdings nicht miteinberechnet.
8 Silvio Borner, Felix Wehrle, Die sechste Schweiz, 1984, S. 135 ff.
9 Ebda., S. 140
10 Die Zahl der Arbeitsplätze von Schweizer Firmen in der Dritten Welt stagnierte in dieser Zeit. Quelle: Memorandum de la Suisse au Comité d’Aide au Développement
Peter Bosshard ist Sekretär der «Erklärung von Bern». Dieser Serie-Beitrag wurde in einer ausführlicheren Fassung in der Dokumentation 1/1989 der EvB vorabgedruckt und kann bei der EvB gratis bestellt werden (Quellenstrasse 25, 8005 Zürich).
Dieser Text ist ursprünglich in der WOZ Nr. 9 vom 3. März 1989 erschienen. Aus Anlass des 40-Jahr-Jubiläums der Wochenzeitung WOZ haben wir unser Archiv nach Perlen durchsucht, die wir erneut veröffentlichen, und das Tag für Tag bis hin zur Jubiläumsausgabe, die am 30. September 2021 erscheint.
Kolonialismus mit weissem Kragen
Die zweitgrösste Bauxit-Mine des Welt-Konzerns Alusuisse liegt im kleinen westafrikanischen Staat Sierra Leone. Die dortige Tochterfirma Sieromco gilt als eine vorbildliche Unternehmung. Den kleinen Freundlichkeiten im Land selbst steht allerdings eine finanzielle Ausbeutung im Weltmassstab gegenüber. Das Mittel dazu sind Manipulationen der sogenannten Transferpreise. – Die Sieromco verkauft ihren gesamten geförderten Bauxit an die Konzernzentrale in Zürich, welche den grössten Teil davon an eine deutsche Tochterfirma, das Martinswerk bei Köln, weiterleitet (ohne dass das Erz je schweizerischen Boden berühren würde). Von 1972 bis 1984 bezahlte das Martinswerk dem Stammhaus durchschnittlich 26 Dollar für eine Tonne sierraleonischen Bauxit. Für denselben Bauxit bezahlte die Alusuisse der Sieromco aber lediglich 12 Dollar pro Tonne. Den handelsüblichen Kosten für Transport und Versicherung von 6 Dollar pro Tonne steht in diesem Fall ein Preisloch von 14 Dollar gegenüber, welches zu Lasten von Sierra Leone geht. Werden die Daten auf die ganze Zeit der Sieromco-Tätigkeit extrapoliert, so resultiert daraus ein Gewinnabzug «auf See» von rund 70 Mio. Dollar. Für Sierra Leone entspricht dies den gesamten heutigen Exporteinnahmen während eines halben Jahres. Der Zweck dieser Manipulationen ist gemäss einem früheren Alusuisse-Manager, «die Dividenden in Zürich anfallen zu lassen».
(Nach einer Recherche von Tobias Bauer im Buch «Silbersonne. Alusuisse – eine Schweizer Kolonialgeschichte», das im April beim Limmat Verlag erscheinen wird.)
Gesamte Investitionen in der Dritten Welt
1980: 6898
1981: 17613
1982: 22683
1983: 15265
1984: 15285
1985: 12990
1986: 12511
(Alle Angaben in Mio. Sonderziehungsrechten; Quelle: IMF, Balance of Payments Statistics.)