Südwales: Seit zwanzig Jahren auf Schachttiefe null

Nr. 9 –

Zwei Jahrzehnte sind seit dem grossen Bergarbeiterstreik vergangen. Und noch immer ringen die ehemaligen Mineure um eine Zukunft. Die Chancen stehen schlecht.

«Sie haben unserer Gemeinschaft das Herz herausgerissen und uns auch noch die Erinnerung genommen.» Ron Stoate sitzt vor einem kleinen Bier im «Dagger», einem kleinen schäbigen Pub in der südwalisischen Ortschaft Cefn Fforest, und blickt zurück. «Hat nicht Margaret Thatcher einmal gesagt, dass es für sie so ein Ding wie Gesellschaft nicht gibt, sondern nur Individuen? Unsere Gesellschaft hier hat sie jedenfalls zerstört, und die Konsequenzen sind verheerend.» - «Alles wurde uns weggenommen», ergänzt Colin «Nat» Thomas, «zuerst haben wir unsere Jobs verloren, dann unsere sozialen Einrichtungen, am Schluss sogar unsere Schrebergärten.» Die Konservativen hätten ohnehin immer nur ein Ziel verfolgt: den Arbeitsmarkt umzukrempeln, den Arbeitern und Arbeiterinnen jede Sicherheit zu nehmen, sie in prekäre Arbeitsverhältnisse zu pressen. «Und das ist ihnen gelungen.» Auch er hat sich nur ein kleines Bier bestellt.

Ron Stoate war 41 Jahre alt, als die Zeche Penallta zumachte. Das war im Jahre 1991. Eine richtige Arbeitsstelle hat er danach nicht mehr gefunden, nur hin und wieder einen Job für sieben Franken in der Stunde. Nat Thomas war 52, als er zum letzten Mal mit dem Förderkorb zur Sohle des Bergwerks Taff Merthyr rasselte, das war 1993. Seither sind er und seine beiden Brüder ohne Arbeit; sie sind krank geschrieben, wie so viele ehemalige Bergarbeiter im einst grossen Kohlerevier von Südwales. «Vor zwanzig Jahren konnte man von dieser Kneipe aus in zehn Gehminuten drei Zechen erreichen», sagt er, «aber jetzt ist keine mehr da». Aber nicht nur hier im Rhymney Valley wurden die Schächte zugeschüttet. In ganz Südwales gibt es keine Kohlegruben mehr. Nur noch an einer Stelle holen Bergarbeiter den einst so wichtigen Rohstoff aus dem Boden - oben bei Hirwaun, wo die Kumpel der Tower Colliery vor zehn Jahren die Kohleförderung in die eigenen Hände nahmen und ein selbstverwaltetes Unternehmen aufbauten.

Einsturz der sozialen Kathedralen

Die «coal fields», die ehemaligen Kohleregionen von Südwales, erstrecken sich über fünf Täler im Norden der walisischen Hauptstadt Cardiff. Diese «Valleys», sie verlaufen wie die Finger einer ausgestreckten Hand, waren früher einmal ein Kraftzentrum der industriellen Revolution gewesen - hier wurde der Brennstoff für die Stahlindustrie, für die Textilfabriken, für die Eisenbahn zu Tage gefördert. Von Beginn des vorletzten Jahrhunderts bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren LandarbeiterInnen aus dem englischen Südwesten ins Rhymney Valley, ins Cynon Valley, ins Rhondda Valley gezogen. Der Job war hart, der Job war gefährlich, aber er bot ein Auskommen.

Damals standen die Zechen dicht an dicht. In den zwanziger Jahren hatten allein in Südwales über 200 000 Mineure in knapp 400 Bergwerken gearbeitet, nach dem Krieg waren es noch 115 000 in über 200 Zechen (vgl. Tabelle). Um die Förderanlagen waren kleine Strassendörfer entstanden, während die Hügel durch den Abraum langsam in die Höhe wuchsen. Die Communities waren klein und eng, aber besiedelt von Menschen, die stolz waren auf das, was sie leisteten. Die Solidarität spielte eine wichtige Rolle, aus keiner anderen Region Britanniens waren so viele Freiwillige aufseiten der internationalen Brigaden in den Spanischen Bürgerkrieg gezogen. Viel ist davon heute nicht mehr zu sehen. Im Cynon Valley etwa, wo sich ein Strassendorf an das nächste reiht, sind die Miners’ Institutes, die Zentren der National Union of Mineworkers (NUM), der Bergarbeitergewerkschaft, fast völlig verschwunden. In diesen sozialen Kathedralen der Miners’ Communities gab es alles, was die Menschen in ihrer Freizeit brauchten: eine Bücherei und ein Leseraum, Billardtische und Schachbretter, Versammlungssäle und eine Bar, Kontaktmöglichkeiten und Unterhaltung. Das Miners’ Institute der Zeche Oakdale im Rhymney Valley hatte sogar ein Kino. Ein paar der grossen Gebäude überragen noch immer die kleinen Reihenhäuser, doch sie sind an Private verkauft, die darin Clubs eingerichtet haben, oder werden von Behörden genutzt, die in den Räumen Arbeitssuchende beraten.

Das Thatcher-Projekt

Die Übrigen aber wurden abgetragen (wie das Institute von Oakdale, das man in Cardiff als Teil eines Museums wieder aufgebaut hat) oder abgerissen wie die anderen Wahrzeichen der Valleys: die Fördertürme, Maschinenhäuser, Wäschereien und Verwaltungsgebäude der alten Zechen. Nur die Schachtgebäude und Türme von Penallta stehen noch - gerettet vom Prince of Wales’s Phoenix Trust, einer Stiftung des Thronfolgers Charles Windsor, die hier Apartments für Besserverdienende und Geschäftsräume einrichten will.

Der Niedergang der Kohleindustrie in Südwales hat viele Ursachen: Manche Zechen schlossen, weil sich das Kohlevorkommen erschöpfte, andere machten zu, weil plötzlich auftauchende geologische Probleme einen weiteren Abbau unrentabel machten. Auch Rationalisierungsmassnahmen spielten eine Rolle. Dass die gesamte Industrie verschwand, hat jedoch vor allem zwei Gründe: Die Energiepolitik der konservativen Regierung in den achtziger und neunziger Jahren, die zunehmend auf Atomstrom und Gaskraftwerke setzte, und die Besessenheit der damaligen Premierministerin Margaret Thatcher, die die NUM, die kampfkräftigste Gewerkschaft des Landes, vernichten wollte (vgl. nebenstehenden Text) und nach dem grossen Streik auch vernichtet hat. Sie musste die NUM beseitigen, wenn ihr neoliberales Projekt Erfolg haben sollte.

Worin dieses Projekt bestand, hat Lyndon Hunt hautnah erfahren. Sechzehn Jahre lang war der gelernte Frisör unter Tage gefahren, er überlebte drei Unfälle (einmal wurde er verschüttet) und stand nach der Schliessung der Zeche Oakdale (1989) auf der Strasse. So leicht würde er sich nicht unterkriegen lassen, hatte er sich damals gesagt und sich für eine Stelle in der nahe gelegenen Best-Food-Nudelsuppenfabrik von Unilever beworben. Er bekam den Job. Aber die Arbeitsbedingungen waren nicht vergleichbar mit denen, die er bis dahin kannte: Er erhielt weniger Lohn, musste anrücken, wenn es dem Boss beliebte, wurde vor Weihnachten entlassen und erst im Januar wieder eingestellt (weil sich Unilever auf diese Weise das Entgelt für die Feiertage sparte). Das neue Arbeitsverhältnis bereitete Hunt aber auch in einer anderen Hinsicht Mühe: Der gestandene Bergarbeiter musste plötzlich einen «Frauenjob» erledigen, wie er das nennt: unsichere Aussichten, prekäre Bedingungen, Arbeit auf Abruf. Und niemand wollte sich wehren: «Ich habe die Kolleginnen immer wieder beschworen: Lasst euch nichts gefallen, kämpft für bessere Bedingungen», sagt er. «Doch die hatten zu viel Angst.» Aber immerhin hätten die ArbeiterInnen immer wieder Rat bei der NUM geholt, die es in Form eines kleinen Büros und ein paar Freiwilligen wie Ron Stoate und Nat Thomas weiterhin gibt. Als die Firma im letzten Herbst eine Teilverlagerung der Produktion nach Polen und den Abbau von 100 der 300 Arbeitsplätze ankündigte, nahm Hunt die angebotene Abfindung an.

Bis zum Schluss dabei

Anfang der achtziger Jahre hätten Hunt, Stoate und Thomas nicht für möglich gehalten, dass sie einmal so enden würden. Zwar lag in den Valleys die Arbeitslosigkeit mit knapp zwanzig Prozent deutlich über dem landesweiten Durchschnitt, zwar wurden auch damals schon Zechen geschlossen (in einem mit der Gewerkschaft abgestimmten Verfahren), aber immerhin hatten die Bergarbeiter von Südwales 1981 eine erste Attacke der 1979 gewählten Regierung von Margaret Thatcher abwehren können. Diese wollte gleich eine ganze Reihe von Zechen stilllegen, gab jedoch das Vorhaben nach einer breit angelegten Kampagne der NUM wieder auf - die Regierung war noch nicht so weit. Als zwei Jahre später der Vorstand des National Coal Board (NCB), der staatlichen Kohlebehörde, die Schliessung der Lewis Merthyr Colliery ankündigte, zogen die südwalisischen Kumpel erneut durch die britischen Kohlereviere, um Unterstützung zu mobilisieren. Eine von der nationalen NUM-Führung anberaumte nationale Abstimmung ergab jedoch keine Mehrheit. Nur vierzig Prozent der britischen Bergarbeiter wollten für den Erhalt von Lewis Merthyr kämpfen.

Auch deswegen waren die Bergleute in den Valleys skeptisch, als Anfang März 1984 die Kollegen in Yorkshire einen Streik zur Verteidigung der Cortonwood Colliery ausriefen. «Die haben uns letztes Jahr nicht unterstützt. Warum also sollten wir ihnen heute helfen», hätten viele gedacht. Und so lehnten 18 der damals 28 südwalisischen Zechenbelegschaften einen Streik ab. Als jedoch die ersten Streikposten vor den Grubentoren aufzogen, blieben auch die Waliser draussen. An einem Streikposten geht man nicht vorbei. Das war über Jahrhunderte hinweg ein ehernes Gesetz gewesen. Ein Jahr später, Anfang März 1985, standen hier immer noch 95 Prozent der Kumpel im Streik - mehr als in den meisten anderen Kohleregionen des Landes.

Der Ausstand veränderte vieles. Zum ersten Mal kooperierten die sonst eher auf ihr Valley beschränkten Zechenbelegschaften mit den Kollegen in den anderen Tälern («wir haben damals eine neue Welt entdeckt», sagt Hunt). Viel wichtiger aber war das Engagement der Bergarbeiterfrauen. Diese entwickelten sich innert weniger Tage zu einer eigenständigen Kraft. Die Frauen besetzten die Büros des NCB von Südwales, blockierten die Zufahrtsstrassen der lokalen Stahlwerke und waren bald in ganz Europa unterwegs, um über den Streik zu informieren und Geld zu sammeln. Allein in Südwales mussten 20 000 Familien ernährt werden (die NUM konnte kein Streikgeld zahlen, die Behörden verweigerten Sozialhilfe). Derweil zogen die Männer als Flying Pickets, als fliegende Streikposten, durch das Land. Sie versuchten Kraftwerke stillzulegen, campierten wochenlang in Bussen (später auch in Turnhallen, die sympathisierende Stadtverwaltungen zur Verfügung stellten), standen mit Klingelbeuteln vor Supermärkten, redeten (wie die Frauen) auf hunderten von Versammlungen und Demonstrationen.

Es war sicherlich kein Zufall, dass die Regierung zuerst das Vermögen der (eigenständig agierenden) NUM von Südwales beschlagnahmen liess (später sperrte sie auch die Gelder der anderen NUM-Regionen). Nirgendwo, ausser vielleicht im ebenfalls am Rand liegenden Kohlerevier von Kent, war der Streik so solide - und die Rache der Regierung nach dem Ende des Streiks so gross. Noch im Jahre 1985 schloss der NCB 23 Zechen, allein 8 davon befanden sich in Südwales.

Die Verzweiflung von Gurnos

Die Region hat sich bis heute nicht von der Tory-Attacke erholt. Während des Streiks hatte die Regierung stets versichert, jedem Bergarbeiter einen Ersatzarbeitsplatz zu verschaffen; vier Jahre später erneuerte sie ihre Zusicherung. 1996 veröffentlichte sie schliesslich Zahlen: In den Kohleregionen seien für 28 Milliarden Pfund (rund 63 Milliarden Franken) 130 000 neue Stellen geschaffen worden. Aber überprüfen lassen sich diese Angaben nicht. Es wurde zwar viel Geld investiert (in neue Strassen, in neue Industriegebiete, in Fördermittel), aber Arbeitsplätze sind nur wenige entstanden, schon gar keine für die ehemaligen Bergarbeiter. Die Regionalbehörden haben eine Reihe von Businessparks hochgezogen, die meisten aber stehen weitgehend leer. «Die Firmen kommen und gehen. Sie lassen sich von den grosszügig verteilten Fördermitteln anlocken und ziehen von dannen, wenn die Förderung ausläuft», sagt Nat Thomas. Erst vor ein paar Tagen habe wieder ein Kfz-Zulieferer zugemacht. Im neuen Gewerbezentrum von Oakdale - es wurde auf dem alten Zechengelände errichtet - ist bisher noch kaum jemand eingezogen. Und die gigantischen neuen Hallen des Londoner Royal Opera Houses beherbergen nur Kulissen, für die gerade mal vier Beschäftigte zuständig sind. Dafür entstanden Jobs in Callcentern, bei McDonald’s, im Taxigewerbe, bei Reinigungsdiensten; aber sie reichen bei weitem nicht aus.

Und so steht in den Valleys über die Hälfte der erwerbsfähigen Bevölkerung ohne bezahlte Arbeit da. Die Arbeitslosenrate liegt bei rund zwölf Prozent, aber vierzig Prozent erhalten Sozialhilfe oder gelten - wie die meisten ehemaligen Bergarbeiter - als invalid. Das Krankschreiben hat für den Staat den Vorteil, dass nur ein geringer Teil der Erwerbslosen in der Arbeitslosenstatistik auftaucht, und so werden auch Jugendliche als «dauerhaft krank» eingestuft. «Früher sind die Jungs ihren Vätern in die Zechen gefolgt und haben ihre Jobs übernommen», sagt Martin O’Neill, Sozialarbeiter in der ehemaligen Stahl- und Bergarbeiterstadt Merthyr Tydfil. «Heute erben sie von ihnen die Arbeitslosigkeit und die Krankheitsgeschichte.»

«Die Kids haben keine Chance hier», sagt O’Neill. Er selber ist nur deswegen nicht Bergarbeiter geworden (sein Vater war Miner gewesen, beide Grossväter hatten unter Tage ihr Leben verloren), weil es die Industrie nicht mehr gab, als er alt genug war. Also schlug er sich mit allerlei Gelegenheitsjobs durch (als Buschauffeur, in Nachtclubs, als Krankenwagenfahrer), bis er im Norden von Merthyr Tydfil, im Ortsteil Gurnos, eine Stelle als Gemeinwesenarbeiter antrat. Hier ballen sich alle Probleme, die durch lang anhaltende Armut entstehen: Prostitution, Kleinkriminalität, Teenagerschwangerschaften, Drogen, hohe Krankheitsraten, hohe Selbstmordquoten.

O’Neill hat im letzten Jahr zwei gute Freunde verloren, einer warf sich von einer Brücke, der andere hängte sich auf. «Vor allem die männlichen Jugendlichen haben ein Problem», sagt er. «Sie sind in einer Männerkultur aufgewachsen, in der der Mann die Familie ernährte. Dass es fast nur noch schlecht bezahlte Frauenjobs gibt, hat ihnen jedes Selbstbewusstsein genommen.» Wer noch ein bisschen Unternehmensgeist verspüre, betätige sich in der Schattenwirtschaft, insbesondere im Drogenhandel.

Selbst wer einer regulären Arbeit nachgeht, verdient selten mehr als 10 000 Pfund im Jahr, das sind umgerechnet 22 500 Franken (bei Preisen auf weitgehend Schweizer Niveau). Davon kann niemand leben. Im vierzig Kilometer entfernten Cardiff verdient man das Dreifache. Wer abhauen kann, zieht weg, aber den meisten fehlt dafür die Qualifikation. «Es ist ungemein schwer, die Kinder vom Sinn eines Schulbesuchs zu überzeugen, wenn ihre Eltern seit Jahrzehnten erfolglos eine Stelle suchen», sagt O’Neill.

Posten vor dem AKW

Hat der Streik also schnurstracks ins Desaster geführt? «Manche der alten Kollegen halten ihn mittlerweile für einen Fehler», sagt Ron Stoate, «aber die Erfahrung will keiner missen.» Es habe auch viele schöne, leidenschaftliche und witzige Momente gegeben. «Heute lachen wir am liebsten darüber.» Das Gegröle ist besonders gross, wenn einer mal wieder daran erinnert, wie eine Streikpostentruppe zwei volle Tage vor einem Kraftwerk stand, bis sie feststellte, dass es vor Monaten geschlossen worden war. Oder wie sich eine andere Gruppe fliegender Streikposten vor ein Atomkraftwerk stellte und dann meldete: Bisher keine Kohle eingetroffen! Auch mit den Gezeiten kannten sie sich nicht so aus. «Weit und breit kein Schiff in Sicht», reportierten Flying Pickets aus einem kleinen Hafen, wo sie Importkohle blockieren wollten: Wie denn die Flut stehe, wollte daraufhin die Streikzentrale wissen. Darauf die Antwort: «Was meinst du mit Flut?»

Man habe viele Fehler gemacht im Verlauf des Streiks, sagen Stoate und Nat Thomas. Aber der Streik selber sei nicht zu vermeiden gewesen. «Wir mussten um unsere Jobs kämpfen, es ging um das Überleben unserer Communities. Was hätten wir sonst tun sollen? Wir haben verloren. Aber immerhin haben wirs versucht.»

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