Dreissig Jahre Bergarbeiterstreik: «Jetzt hungern die Leute wieder – wie damals»
Drei Jahrzehnte nach dem grossen Streik leiden die ehemaligen britischen Kohlereviere noch immer unter Margaret Thatchers grösstem Triumph. Die Industrie ist verschwunden, die Gemeinschaften sind zerstört. Auch in Europa wäre vieles anders gekommen, hätten die Bergarbeiter damals gewonnen.
Nein, der grosse Kampf sei nicht umsonst gewesen. Darin waren sich alle einig. Gewiss, er endete mit einer Niederlage. Aber er habe auch gezeigt, was Solidarität und Widerspruchsgeist bewirken können. Ein paar Fehler seien zwar gemacht worden, aber eine Chance auf Erfolg habe es angesichts der Kräfteverhältnisse nie gegeben, wie man heute wisse: die langfristige Planung der Tory-Regierung, das massive Vorgehen der Behörden und der Polizei, dann die Streikbrecher («Denen vergeben wir nie!»), dazu die abwartende Haltung der Labour-Partei und vieler Gewerkschaften – und trotzdem: «Heute feiern wir, dass wir es damals gewagt haben, Margaret Thatcher die Stirn zu bieten!»
Der Saal im Rugby Football Club von Pontypridd, Südwales, ist gerammelt voll. Weit über hundert Leute sitzen an den Tischen, ehemalige Bergarbeiter und ihre Frauen, die aus den umliegenden Tälern gekommen sind, viele alte Gewerkschafter aus anderen Branchen und ein paar Jugendliche. Sie bedienen sich für zehn Pfund Eintritt am Buffet, das Freiwillige vorbereitet haben (der Überschuss geht an den lokalen Bergarbeiterhilfsfonds). Sie kaufen Tombolalose (zu gewinnen gibt es ein paar Flaschen Whisky). Sie wippen zur Blasmusik der preisgekrönten Brass Band Cory aus dem Rhondda Valley, einst das Zentrum des südwalisischen Bergbaus. Und sie hören die Reden von Labour-Abgeordneten und den wenigen noch amtierenden Funktionären der einst grossen National Union of Mineworkers (NUM), die alle noch einmal, mitunter von Applaus unterbrochen, die Ereignisse vor dreissig Jahren Revue passieren lassen.
Viele Wenn und Aber
Nur eine Rednerin fasst kurz und treffend zusammen, worum es seinerzeit, «in der finsteren Zeit von Thatcher», ging. «Dieser Streik hat meiner Generation gezeigt, wie wichtig Gemeinschaft, Gemeinsinn und Selbstwertgefühl sind», sagt Jo Stevens, «und das müssen wir den Jugendlichen heute vermitteln.» Stevens war 1984 siebzehn Jahre alt, hatte den Kampf der Frauen von Greenham Common gegen die Stationierung von US-Atomraketen kennengelernt und trat dann der Bewegung Women against Pit Closures bei: «Wir waren das Antidot, das Gegengift, zum selbstsüchtigen, gierigen Individualismus, der sich unter Thatcher in den achtziger Jahren breitzumachen begann.»
Überall in den ehemaligen Kohlerevieren Britanniens finden derzeit solche Gedenkveranstaltungen an den Streik statt, den eine Mehrheit der damals rund 230 000 NUM-Mitglieder von Anfang März 1984 bis Anfang März 1985 gegen das Zechenstilllegungsprogramm der Regierung von Margaret Thatcher führte. Ihr Ausstand war der grösste – und wohl wichtigste – Arbeitskampf in der europäischen Nachkriegsgeschichte. An ihn erinnern im Jubiläumsjahr 2014 zahllose Veranstaltungen, Kundgebungen, Buchvernissagen und Ausstellungen.
Und an den meisten dieser Anlässe denken viele immer noch darüber nach, was gewesen wäre, wenn, ja wenn sich die Bergarbeiter und ihre Gewerkschaft damals durchgesetzt und zumindest einen Kompromiss erzielt hätten. Wenn in Nottinghamshire – einem Revier mit modernen, hochproduktiven Zechen – und anderen Regionen wie Derbyshire die Bergleute nicht den Streikbeschluss ihrer Kollegen ignoriert und weitergearbeitet hätten. Wenn von den anderen Gewerkschaften oder der Spitze der Labour-Partei mehr Unterstützung gekommen wäre. Wenn die Führung der Gewerkschaft der Zechenvorarbeiter (Nacods), deren Mitglieder im Oktober 1984 zu über achtzig Prozent für einen Streik votierten, sich nicht auf einen Deal mit der Regierung eingelassen hätte. Wenn nicht so viel «Streikbrecherkohle» aus der damaligen Sowjetunion, dem ebenfalls noch sozialistischen Polen oder aus dem deutschen Ruhrgebiet ins Land gelangt wäre. Dann hätte die Geschichte eine andere Wendung nehmen können. Dann wäre womöglich Thatchers neoliberales Projekt gescheitert, bevor ihre Politik der Privatisierung, der Deregulierung und Staatsdemontage hätte Fuss fassen und über die Grenzen hinaus ausstrahlen können. Europa wäre einiges erspart geblieben.
«Aber das sind zu viele Wenn», sagt David Parry von der Industrial Communities Alliance (ICA) in Barnsley, Yorkshire, dem Epizentrum des damaligen Konflikts. Hierher hatte der legendäre (und bis heute umstrittene) NUM-Generalsekretär Arthur Scargill das NUM-Hauptquartier verlegen lassen, und von hier aus war Parry, der fünfzehn Jahre lang unter Tag arbeitete, ab dem ersten Streiktag am 6. März 1984 unterwegs gewesen: zu den Zechen, in denen gearbeitet wurde, zu den Kraftwerken, die Kohle verbrannten, zu Stahlwerken und jenen Lagerstätten, auf denen die nationale Kohlebehörde NCB die Reserven hortete.
Die Erfolge von 1972 und 1974
«Wir sind jeden Morgen im Dunkeln losgefahren, um Streikposten zu stehen», erzählt Parry, der damals Anfang dreissig war. «In aller Frühe bei jedem Wetter raus aus dem Bett, rein ins Auto oder den Minibus, ein, zwei Stunden fahren, dann die Langeweile, das Warten auf einen Kohletransport und immer wieder Keilereien mit der Polizei – es ist schon verrückt, dass wir das ein ganzes Jahr lang durchgehalten haben.» Anfangs glaubten die Flying Pickets, die mobilen Streikposten, noch an einen schnellen Sieg wie damals 1972, als die seinerzeit noch miserabel bezahlten Bergarbeiter substanzielle Lohnerhöhungen hatten durchsetzen können. Und wie 1974, als Lohnverhandlungen mit dem NCB scheiterten und die NUM einen Streik ausrief, der bald zu Stromausfällen führte und die konservative Regierung von Edward Heath eine Dreitagewoche für die gesamte Industrie anordnen liess. Der bedrängte Tory-Premier stellte daraufhin die Bevölkerung vor die Entscheidung: «Wer regiert das Land? Die Miners oder wir?» Die Antwort war eindeutig. Die Unterhauswahl im Februar 1974 endete mit einem Sieg der Labour-Partei.
Damals entschieden die Flying Pickets, die Stahl- und Kohlekraftwerke belagerten, den Kampf. Und so, dachten die Bergarbeiter von South Yorkshire im Frühjahr 1984, würde es wieder funktionieren. «Nach vier bis sechs Wochen ist der Kampf vorbei, davon waren wir fest überzeugt», sagt David Parry heute. Es kam anders. Denn erstens standen im Unterschied zu 1972 und 1974 nicht alle Bergarbeiter hinter dem Kampf gegen das Zechenstilllegungsprogramm der Regierung. Insbesondere die Belegschaften in Nottinghamshire und Derbyshire verweigerten sich dem Streikaufruf der dezentral strukturierten NUM, weil sie – wie viele andere auch – der Zusage des NCB vertrauten, dass nur zwanzig besonders unrentable Zechen schliessen müssten. Zweitens war die 1983 wiedergewählte Premierministerin Margaret Thatcher wild entschlossen, nicht nachzugeben. Und drittens hatten die NUM-Streikposten Anfang der siebziger Jahre noch viel Unterstützung von IndustriearbeiterInnen erfahren, deren Jobs nach knapp fünf Jahren Deindustrialisierungspolitik grossteils verschwunden waren.
«Wir wussten nicht, auf was wir uns einliessen», sagt Parry. «Wir wussten nur, dass wir auf die einseitig verkündeten Zechenschliessungen antworten mussten.» Es wäre natürlich auch anders gegangen. 1947, als die Labour-Regierung die Kohleindustrie verstaatlichte, gab es in Britannien über tausend Bergwerke, in denen rund eine Million Kumpel beschäftigt war. Technischer Fortschritt, wachsende Produktivität und zunehmende Verfügbarkeit anderer Energiequellen reduzierten in den folgenden Jahrzehnten die Bedeutung der Industrie. Allein in den sechziger Jahren verschwand eine Viertelmillion Arbeitsplätze – mit Zustimmung der Gewerkschaft. Anfang 1984 fuhren rund 230 000 Bergarbeiter in 169 Minen unter Tag.
«Thatcher hat Krieg gegen uns geführt»
War die Industrie wirklich so unrentabel, wie die Kohlebehörde NCB und die Regierung behaupteten? Tony Devers, siebzig Jahre alt, wird immer noch wütend, wenn man ihn das fragt. «Das ist absoluter Quatsch», sagt der ehemalige Bergmann, der sich nach der Schliessung seines Schachts 1985 als Bauer in Wales niederliess. «Ich kenne keine einzige Zeche, die rote Zahlen geschrieben hätte. Alle Bergwerke im englischen Nordwesten waren profitabel – und das, obwohl die Dicke der Flöze variierte, die Löhne gut waren und die NUM allmählich akzeptable Arbeitsbedingungen durchgesetzt hatte.» Man müsse sich das mal vor Augen führen: Erst in den sechziger Jahren habe die Gewerkschaft Mindeststandards beim Atem- und Lärmschutz erkämpfen können, und «erst 1972 konnten wir erreichen, dass uns die Arbeitskleidung gestellt wird».
Nein, nein, es habe keinerlei ökonomischen Zwang gegeben, so viele Zechen stillzulegen, sagt er, nur politische Gründe. Devers kennt sich aus. Er hatte im Alter von vierzehn Jahren unter Tag zu arbeiten begonnen und sich weitergebildet, wurde Grubeningenieur und war nach 26 Jahren Zechenleiter der Cronton Colliery in Knowsley, nahe bei Liverpool. Als General Manager durfte er zwar nicht mitstreiken, konnte aber viele interne Dokumente und Statistiken einsehen. Sein Fazit: «Thatcher hat Krieg gegen uns geführt.»
Davon geht auch der Industriesoziologe Huw Beynon aus, der seit den siebziger Jahren die Macht- und Konfliktverhältnisse in der britischen Wirtschaft untersucht. «Thatcher hat, wie wir immer vermuteten und wie jetzt deklassifizierte, öffentlich zugängliche Protokolle bestätigen, den Kampf von langer Hand vorbereitet», sagt der emeritierte Professor der Universität Cardiff. «Ihr ging es nicht um die Industrie oder um deren Rentabilität, nicht um Energiepolitik oder ökologische Bedenken. Sie wollte die NUM zerschlagen und damit grundlegend das Machtverhältnis zwischen Kapital und Arbeit ändern.»
Der grosse Aufmarsch
Anfang der achtziger Jahre galt die NUM als die bei weitem wichtigste und kampfstärkste Bastion der britischen Arbeiterklasse. Die Bergarbeiter waren politisch zwar längst nicht so radikal, wie die Mainstreammedien glauben machen wollten, die wie Thatcher von «Kommunisten» und dem «inneren Feind» schwadronierten. Aber ihr Zusammenhalt war enorm. Der Kohleabbau fand vor allem auf dem Land statt, um die Zechen hatten sich im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts Dörfer und Kleinstädte gebildet, in deren Zentrum die sozialen Einrichtungen der Miners standen – Welfare Institutes, Klubs, Bildungsstätten, Bibliotheken, Versammlungsräume und Kooperativen, die den Gemeinschaften eine grosse Geschlossenheit gaben. In manchen Regionen, etwa in Kent, unterhielten die NUM-Ortsgruppen sogar eigene Kliniken.
«Die Tories wussten, dass diese Kraft nicht einfach zu schlagen war», sagt Beynon, der im Kohlerevier von Durham, im englischen Nordosten, lange Zeit für das NUM-Bildungsprogramm verantwortlich war. Also bereiteten sie sich vor. Der Thatcher-Vertraute Nicholas Ridley bekam kurz nach dem Tory-Wahlsieg 1979 den Auftrag, ein Kampfprogramm auszuarbeiten: Aufbau und Ausrüstung von Sondereinheiten der Polizei; Rekrutierung von gewerkschaftlich nicht organisierten Lastwagenfahrern; Ausbau von kleinen Häfen an der Ostküste für die Einfuhr von Streikbrecherkohle; Anweisung an die damals noch staatliche Elektrizitätsindustrie, ihre Kohlekraftwerke auch für die Ölverbrennung umzurüsten; Aufstockung der Kohlereserven; Änderung der Sozialgesetzgebung, die es den Familien von Streikenden erschwerte, Beihilfe zu beziehen; Mobilisierung der Geheimdienste; Vorbereitung zur Beschlagnahmung des NUM-Vermögens.
An alles hatte die Regierung gedacht. Nur liessen sich die Pläne nicht so schnell umsetzen. Als sich die NUM 1981 mit einem Streik gegen angekündigte Zechenstilllegungen zu wehren begann, machte die Premierministerin sofort einen Rückzieher. «Die Regierung war damals noch nicht so weit», erinnert sich Beynon, «die Kohlevorräte genügten nicht.» Auch später, während des Streiks, gab Thatcher mehrmals klein bei. Als die Eisenbahnergewerkschaft in Solidarität mit den streikenden Bergleuten eigene Forderungen aufstellte und einen Ausstand vorbereitete, der den Kohletransport gefährdet hätte, und als solidarische Docker die Häfen des Landes lahmzulegen drohten, bewilligte die Regierung umstandslos alle Lohnerhöhungen. «Thatcher verlor ihr Ziel, die Vernichtung der NUM, nie aus den Augen», sagt Beynon. Die anderen starken Gewerkschaften, die der Hafenarbeiter, der Bähnlerinnen, der Drucker, der Elektrizitätswerkerinnen oder der Lkw-Fahrer, würde sie später herausfordern. Und so kam es ja auch.
Der Bürgerkrieg
Anfang März 1984, die Vorbereitungen waren abgeschlossen, kündigte die nationale Kohlebehörde die Schliessung von zwanzig Zechen an. Verhandlungen würden nicht geführt, liess der von Thatcher installierte NCB-Chef Ian MacGregor die NUM wissen. Daraufhin rief die NUM von South Yorkshire den Streik aus, andere regionale NUM-Sektionen schlossen sich nach oft hitzig geführten Debatten ihrer Delegierten an. In Yorkshire, in Durham, in Schottland, Kent und Südwales folgten die Bergarbeiter ihren Führungen. Sie reisten als Flying Pickets in die anderen Reviere und trafen dort auf martialisch hochgerüstete Polizeitruppen, die Streikbrechern und Kohletransportern einen Weg durch die Streikposten prügelten.
In der noch immer berühmten Schlacht von Orgreave vor einem Kokswerk nahe Sheffield attackierten Mitte Juni 1984 etwa 7000 zum Teil berittene Polizisten rund 6000 Bergarbeiter. Es war nicht die einzige Auseinandersetzung. Je länger sich der Streik hinzog, desto erbitterter verliefen die Konflikte, weil immer mehr Kumpel unter Polizeischutz an ihre Arbeitsplätze zurückkehrten. Ihre Lage war auch ja verzweifelt: Sie bekamen kein Streikgeld, ihre Familien hungerten, die Banken verweigerten auf Anweisung der Regierung den Streikenden weitere Kredite, Gerichtsvollzieher standen vor der Tür, und viele verloren ihr Obdach, weil sie die Hypothek für das Haus nicht mehr bezahlen konnten.
Rund 11 000 Streikende wurden verhaftet. Die Gerichte verhängten strikte Auflagen und untersagten den aktivsten Streikposten den Aufenthalt in der Nähe von Kohlelagern, Stahlwerken, Koksereien, Kraftwerken und Zechen. Gegen 8300 NUM-Mitglieder liefen Ermittlungen wegen Landfriedensbruch und Aufruhr – Vergehen, die damals mit einer lebenslangen Haft bestraft werden konnten. Zudem hatte der Inlandsgeheimdienst MI5 die Telefone von NUM-Funktionären angezapft und im NUM-Vorstand einen Spitzel sitzen.
Bestätigte Warnungen
Trotz dieser Repression und trotz der gehässigen Medienberichterstattung standen am 3. März 1985, als die erschöpften Belegschaften für ein Ende des Streiks votierten, in Kent, Yorkshire und Südwales über neunzig und in Schottland siebzig Prozent der Bergleute im Ausstand. Und als sie zu den Zechen zurückkehrten, taten sie das oft erhobenen Hauptes, in Umzügen mit Gewerkschaftsbannern und zu den Klängen ihrer Zechen-Brass-Bands. Waren sie nicht im Recht gewesen? Hatte der NUM-Vorsitzende Scargill nicht von Anfang an gesagt, dass auf der NCB-Schliessungsliste nicht zwanzig Zechen stünden, wie die Regierung immer beteuerte, sondern siebzig, wie die Regierung später zugab? Es kam sogar noch schlimmer, als Scargill dachte. Nach massenhaften Stilllegungen direkt nach dem Streik und der Privatisierung der Industrie Anfang der neunziger Jahre ist praktisch nichts mehr vom britischen Bergbau geblieben. Heute gibt es noch drei Bergwerke – und diese werden in den nächsten Jahren zugemacht (vgl. «Anhaltender Kohleverbrauch» im Anschluss an diesen Text).
Aber immerhin: «Wir haben damals zur Abwechslung mal unsere eigene Geschichte geschrieben», sagt David Parry, der nach dem Streik ein Studium begann und sich seit achtzehn Jahren für die kommunal finanzierte ICA um die ökonomische Wiederbelebung der ehemaligen Kohlereviere bemüht. Allerdings mit wenig Erfolg. «Die Erwerbslosigkeit liegt um das Drei- bis Vierfache über dem nationalen Durchschnitt», sagt er. Mit den Zechen seien auch die früheren Gemeinschaftszentren und der Gemeinsinn verschwunden, der Konsum von Antidepressiva läge deutlich höher als anderswo – und wenn Jobs entstehen, «dann sind sie in der Regel miserabel bezahlt».
Frauensolidarität
Und doch ist die Geschichte des langen Streiks keine reine Elendsstory von Niederlage und Niedergang. «Ich bin damals politisch auf die Welt gekommen», sagt Jo Stevens an der Dreissigjahrveranstaltung in Pontypridd. Sie war nicht die Einzige, die aufwachte. Auch Siân James ging es so. Zu Streikbeginn, sagt die heute 55-Jährige, habe sie das Leben vieler Bergarbeiterfrauen geführt: den Haushalt führen, nach den beiden Kindern schauen, den Ehemann bekochen, putzen, waschen, bügeln. Aber als sich der Streik in die Länge zog, das Ersparte zur Neige ging und die Not zunahm, hielt sie es zu Hause nicht mehr aus. «Wir mussten doch die NUM verteidigen», sagt sie, die damals in Abercraf im südwalisischen Upper Swansea Valley lebte, «das war die einzige Organisation, die sich um uns kümmerte». Sie verhalf beispielsweise ihrer verwitweten Grossmutter zu einer Entschädigung, nachdem deren Mann, ein Miner, an Silikose verstorben war, und das zu einer Zeit, als die Industrie Berufskrankheiten ignorierte.
Also begann sich die damals 25-Jährige zu engagieren. Sie verkaufte Tombolalose, sammelte Lebensmittel, organisierte jeden Samstag einen Flohmarkt und gründete mit rund fünfzig anderen Bergarbeiterfrauen ein Unterstützungskomitee. «Daran waren Frauen aus neun Mining Communities beteiligt», sagt James. «Wir ernährten tausend Familien. Jede bekam pro Woche ein Lebensmittelpaket im Wert von acht Pfund, das machte wöchentlich 8000 Pfund», seinerzeit eine Menge Geld. Und woher kam das Geld? «Viel wurde von Organisationen gespendet, die mit uns eine Partnerschaft eingegangen waren», beispielsweise eine Schwulen- und Lesbengruppe aus London, ein Ortsverband der JournalistInnengewerkschaft NUJ, eine Schule in Westminster, schwarze AktivistInnen aus dem Südlondoner Stadtteil Brixton. «Die Unterstützung war fantastisch. Und das Beste: Die kamen uns ebenso besuchen wie Leute aus aller Welt. Und plötzlich merkten wir, dass auch andere Probleme hatten.»
Ab Herbst sei es dann garstig geworden, sagt Siân James. «Die Regierung kriminalisierte uns, NCB-Chef MacGregor rief im TV die Bevölkerung auf, uns kein Geld mehr zu geben, Bob Geldof empfahl den Leuten, lieber für Afrika zu spenden.» Also organisierte die regionale NUM eine grosse Veranstaltung. «Und wer sass auf dem Podium? Nur Männer!» Das gehe natürlich nicht, hatte James da gesagt und sich mit anderen Frauen zu Wort gemeldet. Vier Tage später sassen sie und andere Mitglieder von Women Against Pit Closures im Zug nach London. «Dort absolvierten wir vier, fünf Auftritte am Tag, um unsere Sicht der Dinge darzustellen.» Sie sprachen bei Benefizkonzerten, redeten auf öffentlichen Veranstaltungen und besuchten Belegschaftstreffen. «Ich war zuvor noch nie in einer Fabrik gewesen», sagt James, «und hätte mir niemals vorstellen können, unter welchen Bedingungen asiatische Frauen in den Sweatshops entlang der Londoner Brick Lane nähen müssen.»
Als kurz vor Weihnachten 1984 immer mehr Miners aufgaben, demonstrierten James und ihre Kolleginnen vor den Versammlungslokalen in anderen Regionen, um einen Streikabbruch zu verhindern. Und sie sorgten dafür, dass der Ausstand in Südwales eine Woche länger dauerte. «Wenn es nach den Frauen gegangen wäre, hätten unsere Männer die Arbeit nie wieder aufgenommen.» Sie selbst und viele andere Frauen kehrten danach nicht in ihr altes Leben zurück. Nach einem Studium arbeitete James in verschiedenen Jobs, darunter als Direktorin der walisischen Frauenhilfe.
Seit 2005 repräsentiert Siân James den Labour-Wahlkreis Swansea East im Unterhaus. Und womit beschäftigt sie sich vorwiegend? «Wieder mit denselben Problemen wie vor dreissig Jahren.» In den Coal Valleys, die sich von Thatchers Attacke nie erholten, grassierte der Drogenkonsum, wuchs die Armut – und dann holte die konservativ-liberale Regierung 2010 auch noch zum grossen Sozialkahlschlag aus. «Viele sind überschuldet, und sie hungern wieder, wie damals.» In den letzten zwei Tagen haben sie und ihre Sekretärin Caroline Harris vor allem Babynahrung und Windeln verteilt.
Es gibt sie also noch, die wüsten Angriffe der Tories. Aber es gibt auch die Solidarität mit den Schwachen – vor allem von Frauen, die der Bergarbeiterstreik politisiert hat. James wird 2015 nicht wieder antreten, obwohl ihre Wiederwahl sicher wäre. Die Parlamentspolitik sei viel zu stark formalisiert, eine wirkliche Opposition kaum möglich, sagt sie. Jetzt sucht sie eine neue Herausforderung. An ihre Stelle tritt vermutlich Caroline Harris. Auch sie hat der Streik geprägt.
Anhaltender Kohleverbrauch
In Britannien ist zwar der Untertagebau verschwunden, nicht aber der Kohleverbrauch. Nach einer Berechnung der Kohlebehörde von 1983 hat das Land einen Kohlevorrat von 190 Milliarden Tonnen; davon sind 45 Milliarden erschliessbar.
Im Jahr 2012 wurden 60 Millionen Tonnen verbrannt, hauptsächlich zur Erzeugung von Elektrizität. Kohle deckt derzeit 40 Prozent des Stromverbrauchs ab, Tendenz steigend. 65 Prozent dieser Kohle wurden aus Russland, Kolumbien und den USA importiert; der Rest kommt aus dem offenen Tagbau.
Die Kämpfe der Miners: Streiks und ihre Folgen
In Britannien hatten fast alle grossen Arbeitskämpfe des letzten Jahrhunderts mit den Bergarbeitern zu tun.
1926: Im Mai beteiligen sich immer mehr ArbeiterInnen an einem Streik zugunsten der Bergarbeiter, die sich seit langem massiven Lohnkürzungen und Entlassungen widersetzen. Der Gewerkschaftsdachverband TUC ruft den bisher einzigen Generalstreik in der britischen Geschichte aus und sagt ihn neun Tage später wieder ab – weil er zu erfolgreich war. Wer übernimmt die Regierungsgewalt?, fragen sich die TUC-Verantwortlichen und geben klein bei. Die Bergarbeiter verlieren ihren Kampf.
1947: Die Labour-Regierung von Clement Attlee verstaatlicht die bis dahin von profitorientierten Grubenbesitzern kontrollierte Bergbauindustrie. Die Arbeitsbedingungen der 800 000 Miners werden zwar nicht sofort besser, aber immerhin erkennt der neu geschaffene National Coal Board die Bergarbeitergewerkschaft NUM als «legitimen Verhandlungspartner» an.
1972 und 1974: In der ersten Hälfte der siebziger Jahre kommt es zu zwei grossen Streiks, während deren jeweils der nationale Notstand ausgerufen wird. Der Streik 1972 dauert sieben Wochen, der Streik 1974 (vier Wochen) bringt eine Lohnerhöhung von 35 Prozent, nachdem die konservative Regierung abgewählt worden ist.
1984/85: Der Kampf gegen die Bergarbeiter kostet den Staat über zehn Milliarden Franken. Der folgende Arbeitsplatzabbau, die Sozialhilfekosten, die Beihilfen für die Kohlereviere und die Privatisierung verschlingen rund weitere 42 Milliarden Franken öffentlicher Gelder.