Ausbildung zur Selbstverwaltung: Unter Strom

Nr. 15 –

Lehrlinge ausbilden geht auch anders: Die Winterthurer Elektrikergenossenschaft Ego zeigt wie.

Die Hard bei Winterthur ist ein aussergewöhnlicher Ort. Hier begann das Schweizer Industriezeitalter: 1802 öffnete in der Hard die erste mechanische Spinnerei ihre Tore - und machte über Nacht hunderte von HandspinnerInnen arbeitslos. Hier lernten die ersten ArbeiterInnen die brutale Fabrikdisziplin - Vierzehnstundentag, Hungerlöhne, Lohnabzug beim kleinsten Vergehen.

Auch heute noch ist die Hard aussergewöhnlich: eines der grössten Wohn- und Arbeitsprojekte der Schweiz. In den ehemaligen Fabriken, den Arbeiter- und Fabrikantenhäusern und zwei Neubauten leben 92 Erwachsene und 33 Kinder, in 49 Betrieben arbeiten 129 Menschen. Zur Hard gehören auch ein Kleinkraftwerk, das naturfreundlich Strom produziert, ein biodynamischer Bauernhof mit Hofladen und eine Beiz als Treffpunkt. Und eines der grössten Tonstudios Europas. «Es ist beliebt bei Stars, weil es niemand kennt», sagt Kurt Hillmann. Der diplomierte Elektroinstallateur arbeitet bei der Elektrikergenossenschaft Ego, gegenüber im Gewerbehaus.

Die Ego ist 23 Jahre alt, fast gleich alt wie die WOZ. Wie diese ist sie selbstverwaltet, und alle GenossenschafterInnen - zehn Monteure und eine Buchhalterin - verdienen gleich viel: vierzig Franken pro Stunde. «Im Vergleich zu anderen Betrieben ist das überdurchschnittlich», sagt Hillmann. «Die Monteure mit Meisterprüfung verdienen bei uns weniger als üblich, die anderen dafür ein Stück mehr.» Vom Leuchtenbau über Hausinstallationen bis zur Planung und Bauleitung deckt die Ego das Elektrikerhandwerk ab. «Selbstverwaltung ist das beste und billigste Management», sagt Kurt Hillmann, der die Ego 1982 mitgegründet hat. «Bei uns holt jeder seine Offerten selber ein und rechnet selber ab. Dadurch ist der Chef eines Auftrags immer selber auf der Baustelle. Das ist auch ein grosser Vorteil für die Kunden.»

Dieses Jahr arbeiten fünf Lehrlinge in der Ego. Vorbildlich? Kurt Hillmann lacht. «Vor fünfzehn Jahren galten Betriebe mit vielen Lehrlingen als Ausbeuterbetriebe, die von der billigen Arbeitskraft profitierten.» Geändert habe sich das vor etwa zehn Jahren, als die Lehrstellen knapp wurden. Und richtig schlimm sei es Ende der neunziger Jahre geworden: «Eltern klingelten abends bei uns zu Hause und flehten uns an, doch ihrem Sohn die Stelle zu geben.» Hillmann findet es skandalös, dass es so wenig Lehrstellen gibt. Ganze Branchen, zum Beispiel die Mobilfunkanbieter, bildeten überhaupt niemanden aus und profitierten von Lehrlingen aus dem Kleingewerbe. Dabei lohnten sich Lehrlinge für eine Firma: «Im ersten und zweiten Lehrjahr natürlich nicht, aber am Schluss schon. Im letzten Lehrjahr übernehmen sie manchmal selbstverantwortlich Aufträge.»

Lieber zehn Chefs

Heute stellt die Ego vor allem Lehrlinge an, die wegen ihrer schlechten Schulnoten keine Stelle finden oder die Lehre abbrechen mussten. «In der Schule ist es seit eh und je so: Ein Drittel ist gut, ein Drittel kommt durch, und ein Drittel schafft es einfach nicht. Diese haben früher eine Lehre im Gewerbe gemacht, aber heute will das Gewerbe sein Niveau heben, führt Eintrittsprüfungen ein, und sie fallen wieder durch. Es gibt kein Auffangnetz für sie. Wenn sie zu uns kommen, ist ihr Selbstbewusstsein am Boden.»

Niemand wird während der Lehre rausgeschmissen. Das ist der erste Grundsatz in der Ego. «Die Berufsschullehrer kommen und legen uns nahe, einen Lehrling zu entlassen, weil er zu schlecht in der Schule sei. Oder er soll umstellen auf Montageelektriker, das heisst Hilfselektriker. Die meisten Lehrbetriebe hören auf die Berufsschulen. Wir nicht in jedem Fall.»

«Manchmal habe ich schon Heimweh nach der Ego», sagt Roland (Name geändert). Er hat vor drei Jahren die Lehre abgeschlossen. Zusammen mit Michael Zingg, der kurz vor der Lehrabschlussprüfung steht, sitzt er in der Hard-Beiz. Roland ist heute bauleitender Monteur bei einer der grössten Elektroinstallationsfirmen der Schweiz. Der Kontrast zur Ego könnte kaum grösser sein. «Die Ausbildung hängt ganz vom bauleitenden Monteur ab. Hat er Interesse an den Stiften, können sie etwas lernen, sonst na ja ... Ich habe grosses Interesse an den Lehrlingen, aber meine pädagogischen Fähigkeiten sind eher begrenzt. Auf Hilfe von oben kann ich nicht zählen, obwohl es ja die Verpflichtung der Ausbildner wäre, uns gewisse Richtlinien und Ziele für die Lehrlinge weiterzugeben.» Rolands Firma installiert vor allem auf Grossbaustellen, unter extremem Zeitdruck. «Letzten Sommer musste ich einmal achtzehn Tage am Stück arbeiten, ohne einen einzigen freien Tag», sagt er. «Manchmal von sieben Uhr morgens bis in die Nacht, sechzehn Stunden.» Länger als die ArbeiterInnen in der Hard vor 200 Jahren.

Zweiter Grundsatz in der Ego: Es gibt kein Ausbildungsprogramm. Die Lehrlinge lernen von den Aufträgen, die die Firma gerade hat. Und sie müssen wirklich lernen wollen. «Wir verlangen sehr viel von ihnen», sagt Kurt Hillmann. «Die Lehrlinge machen direkt mit den Monteuren ab, mit denen sie am nächsten Tag auf eine Baustelle gehen. Wenn sie zu spät kommen, putzen sie halt das Büro. Vielleicht bekommen sie noch einen Rüffel vom Monteur, der mit ihnen gerechnet hat. Es kam schon vor, dass ein Lehrling ein Jahr lang zu spät zur Arbeit kam, aber irgendwann wird es jedem zu blöd.» Bis jetzt haben alle Ego-Lehrlinge die Lehrabschlussprüfung bestanden. In Rolands Firma sieht es anders aus: «Auf Baustellen mit grossem Druck beschränkt sich die Ausbildung auf Schraubensortieren, Wischen und Gipfeliholen. Auch unsere Firma hat sehr gute Lehrlinge hervorgebracht, aber das sind jene, die selber sehr interessiert und engagiert sind. Die schwierigen Fälle bekommen einfach zu wenig Unterstützung.»

Und was passiert, wenn in der Ego ein Monteur mit einem Lehrling nicht auskommt? «Bei mir klappt es mit allen», sagt Michael Zingg. Roland erinnert sich, er sei selber «ziemlich schwierig» gewesen. Mit zwei Monteuren bekam er Schwierigkeiten. So ging er eben mit den anderen arbeiten. Das Glück der Selbstverwaltung: Wer einen Chef hat, mit dem er nicht auskommt, kann ihm kaum ausweichen. Wer zehn Chefs hat, versteht sich mindestens mit einigen.

In einem Betrieb wie seinem gebe es keine Solidarität mehr, sagt Roland: «Jeder strengt sich nur so viel an wie nötig, arbeitet keine Minute länger freiwillig.» «Das ist ja klar: Wenn keine Solidarität von oben kommt, gibst du auch keine zurück», meint Michael Zingg. «Mir macht es nichts, wenn ich einmal bis 19 Uhr arbeiten muss. Ich weiss, dass die Ego dankbar ist für meine Arbeit.»

Die Zukunft der Arbeit

«Eigentlich ist es furchtbar, was wir machen», sagt Kurt Hillmann. «Wir machen Leute reif für den Kapitalismus.» Die hohe Selbstdisziplin, ohne die selbstverwaltetes Arbeiten nicht funktioniert, macht die ehemaligen Ego-Lehrlinge zu Musterangestellten, die häufig schnell Führungsaufgaben übernehmen. «Dabei hat das System keine Zukunft», so Hillmann. «Die Lohnarbeit ist ein Mythos, der künstlich aufrechterhalten wird. Wahrscheinlich wäre es jetzt schon billiger, wenn die meisten Leute zuhause bleiben würden.» Trotzdem findet Hillmann seine Arbeit «ein wunderbares Handwerk».

2002 feierte Winterthur ausführlich 200 Jahre Industrialisierung. Auch in der Hard selbst fanden Veranstaltungen statt. Hier ging es allerdings nicht ums Feiern, sondern um eine kritische Bestandesaufnahme und vor allem um die Frage: Wie kommen wir hier wieder raus? Zum «Transkapitalistischen Neustart» wurden Intellektuelle wie P. M., Klaus Theweleit, Robert Kurz oder Claudia von Werlhof eingeladen. Von hier, wo der Schweizer Kapitalismus seine erste Blütezeit erlebte, sollte auch der Anstoss für sein Ende kommen. Mit der eigenen Landwirtschaft und dem Kleinkraftwerk ist die Hard gut auf die Zeit danach vorbereitet. Und die Monteure für das Kraftwerk sind ja auch schon da.