Werkstattbesuch: Heavy Metal aus dem Tösstal
Viele Schweizer Giessereien haben in den beiden letzten Jahrzehnten den Betrieb eingestellt oder die Produktion in Billiglohnländer verlagert. Nicht so die Giesserei Wolfensberger in Bauma. Ein Werksvisite – und ein Gespräch mit dem Giessereitechnologen Daniel Schapira über Industriearbeit und Büezerbewusstsein im 21. Jahrhundert.
Wer vom Zürcher Oberland über Bäretswil ins hügelige Tösstal fährt, erblickt kurz vor Bauma rechterhand eine der beiden Werke der Giesserei Wolfensberger. Tritt man in die grosse Halle, dringt einem ein Geruch in die Nase, als hätte vor kurzem jemand mit einer Flex Armierungseisen zerlegt. In der Sandgiesserei trifft man an diesem späten Freitagnachmittag nur noch die Mannschaft der Spätschicht an, die die tagsüber produzierten Sandformen abgiesst.
Der Lehrlingsausbildner und Giessereitechnologe und Daniel Schapira (45) arbeitet seit über zwanzig Jahren in der Giesserei. Vor einem in einen Holzrahmen gefassten Modell bleibt er stehen und erklärt: «Damit werden Sandformen – sogenannte ‹verlorene Formen› – hergestellt.» Dabei giesst man das Metall in Formen aus Sand, die durch Binder und Härter die gewünschte Festigkeit erhalten. Nach dem Abkühlen werden die gegossenen Teile auf einem Rüttelrost maschinell vom Sand befreit.
Baustellengroove
Vor einem Schmelzofen stehen zwei Männer in Schutzkleidung und lassen rund 1500 Grad heisses Eisen in eine Giesspfanne laufen. Nur schon die kleinste Unachtsamkeit kann fatale Folgen haben. Obwohl auch in der Metallbranche immer mehr automatisiert wird, wirkt die Szenerie fast archaisch – als ob die Blütezeit der Industrialisierung nochmals aufleben würde. Das Verfahren ist seit rund 5000 Jahren dasselbe: Ein Hohlraum wird mit flüssigem Metall gefüllt. «Was sich geändert hat», so Schapira, «sind die technischen Hilfsmittel – in den letzten zwanzig Jahren vor allem durch die Computerisierung.»
In seinem Büro im Obergeschoss der Halle lässt Schapira einen starken Kaffee aus der Maschine in eine schwarze Tasse laufen, auf die der Monsterkopf der Metalband Motörhead aufgedruckt ist. 1982 hat der damals Sechzehnjährige bei Sulzer die Lehre zum Giessereitechnologen begonnen. Dass er die Schnupperlehre beim damals grössten Winterthurer Industriekonzern gemacht hat, war eher Zufall. Was ihm bis heute gefällt, ist die Action: «Es sprüht, spritzt und funkt. Eigentlich ist immer etwas los.» Aber auch der Baustellengroove und der Umgangston unter den KollegInnen sagen ihm zu: «Man sagt gradeaus, was man denkt.»
Was ihn in seinen über zwanzig Berufsjahren am meisten berührt hat, sind all die Gefahren, denen man Tag für Tag ausgesetzt ist: «Bei Sulzer, wo Gussteile von hundert Tonnen und mehr fabriziert wurden, gab es auch Todesfälle. Wenn tatsächlich einmal eine Form nicht gehalten hat und daraus grosse Mengen heissen Metalls strömten, gab es für die darunter stehenden Arbeiter meist kein Entkommen.»
Während seiner bisherigen Zeit bei Wolfensberger gab es glücklicherweise keine Unfälle mit Todesfolge. Als Betriebssanitäter hat Schapira aber auch hier im Tösstal schwere Arbeitsunfälle miterlebt. «Die Gefahr geht einerseits vom heissen Metall aus, aber auch von den riesigen technischen Hilfsmitteln, etwa von den verschiedenen Kranen in der Produktionshalle, mit denen die schweren Gussteile transportiert werden.»
Als Schapira hier begann, arbeiteten etwa 150 MitarbeiterInnen im Betrieb. Heute sind es rund 250. Wolfensberger ist die einzige Firma in der Region, die noch Edelstahlgussprodukte herstellt. Mit dem keramischen Genaugiessverfahren Exacast hat der Betrieb eine weltweit einzigartige Technologie entwickelt. Viele Schweizer Giessereien haben in den beiden letzten Jahrzehnten den Betrieb eingestellt oder die Produktion in Billiglohnländer verlagert. Von den restlichen haben sich viele auf Aluminiumguss spezialisiert.
Trotz schwindender Produktionsstätten hat der Metallindustriestandort Schweiz laut Schapira eine Zukunft: «Zum Rezept gehört, dass man Produkte herstellt, die nicht jeder machen kann. Das Spezielle bei uns ist die breite Palette verschiedenster Werkstoffe. Wir arbeiten mit rund hundert verschiedenen Legierungen.» Jede dieser Legierungen habe besondere Schmelzeigenschaften, doch gebe es bei weitem nicht für jeden Werkstoff einen eigenen Ofen. «Um verschiedenste Materialien im selben Ofen zu schmelzen, braucht es ein enormes Fachwissen.»
Kein Feierabendbier mehr
Nach der Schliessung der Sulzer-Werke hat Wolfensberger einige sehr erfahrene Giessereifachleute übernehmen können, die dazu beigetragen haben, die Firma dorthin zu bringen, wo sie heute steht. Damit eine Branche innovativ bleiben kann, braucht es aber Nachwuchs. «Wir müssen heute nicht wenige Fachleute aus dem Ausland holen.» Es sei schwierig, Lehrlinge zu finden, weil der Giessereiberuf wenig bekannt und bis heute mit harter körperlicher Arbeit verbunden sei.
Die Angestellten der Giesserei bekamen die Wirtschaftskrise schmerzlich zu spüren. Wolfensberger als Zulieferbetrieb, der hauptsächlich für die Transportindustrie produziert, erlebte einen markanten Auftragsrückgang. 2009 entliess die Firma rund neunzig MitarbeiterInnen. Für die meisten der verbliebenen Angestellten wurde Kurzarbeit eingeführt. Schapira selbst hat damals nicht um seine Zukunft gebangt. «Ich hatte mehr Angst um Kollegen, die zum Teil Familie haben und wenig Aussichten, in einem ähnlichen Bereich eine neue Stelle zu finden.»
Seit Mitte 2010 wird bei Wolfensberger nicht mehr kurzgearbeitet. Dank besserer Auftragslage kamen rund dreissig Stellen hinzu, die zum Teil von ehemaligen MitarbeiterInnen besetzt wurden. Schapira selbst hat kürzlich eine Ausbildung zum Industriemeister absolviert, die ihm bei allfälligem Stellenverlust gute Chancen auf eine Anstellung auch ausserhalb der Branche eröffnen würde.
Auf die Frage, ob es noch ein Klassenbewusstsein unter den ArbeiterInnen gebe, eine Art Büezer- und Büezerinnenstolz, antwortet Daniel Schapira: «In der Giesserei arbeiten heute etwa zwei Drittel aller Arbeiter in Betriebsmitarbeiterfunktionen, sind also ungelernt. Einige machen diese Arbeit, weil sie gerade nichts anderes gefunden haben, und springen ab, wenn sie attraktivere Arbeitsmöglichkeiten finden. Doch die wenigen Giesser der alten Schule hier in der Firma sind stolze Berufsleute. Das gilt auch für mich.» Während seiner Lehrzeit sei es noch gang und gäbe gewesen, nach der Arbeit gemeinsam in die Kneipe zu gehen und sich beim Feierabendbier über das eine oder andere zu unterhalten. «Das ist wohl endgültig der Vergangenheit zuzuordnen.» Schapira klingt wehmütig.
Für Daniel Schapira, Mitglied der Gewerkschaft Unia und der Betriebskommission, ist der 1. Mai mehr als ein arbeitsfreier Tag. «Seit dem ersten Lehrjahr bin ich in der Gewerkschaft. Grundsätzlich finde ich den 1. Mai eine gute Sache. Mühe habe ich mit Leuten, die an diesem Tag nur auf Lämpen aus sind und keine Ahnung von der momentanen Situation – wie zum Beispiel in der Metallindustrie – haben.»
In seinem Wohnort Winterthur, konstatiert er, verkomme der 1. Mai immer mehr zum Musikfestival, zu einem reinen Folkloreanlass. Die wenigen ArbeiterInnen, die überhaupt noch auftauchten, würden den Anlass vor allem dazu nutzen, um günstig Bier zu bechern. Viele aus seiner Branche seien nicht aus politischen Gründen der Gewerkschaft beigetreten, sondern weil sie dabei von verschiedenen Zusatzleistungen profitieren. Das sei zwar okay, aber der Geist sei halt nicht mehr derselbe wie früher.
Trotz der wirtschaftlichen Achterbahnfahrt, die die Metallbranche noch nicht hinter sich hat, schaut Daniel Schapira zuversichtlich in die Zukunft: «Ich habe jetzt noch rund zwanzig Jahre Arbeitsleben vor mir. Wenn die Firma weiterhin nicht stehen bleibt, dann sehe ich meine berufliche Zukunft durchaus hier im Tösstal.»