Gender-Debatte: Mehr Empirie

Nr. 16 –

In Zürich wurde am letzten Wochenende über Gender als Kategorie zwischen Theorie, Ökonomie und Alltag diskutiert.

Die Patientin heisst Gender, und die Diagnose, die an den Anfang der Tagung in der Zürcher Paulus-Akademie gestellt wurde, lautete auf Bedeutungsverwirrung. Die konjunkturelle Blüte von Gender in den neunziger Jahren erklärt die Historikerin Tove Soiland mit der Anschlussfähigkeit des Konzepts an die neoliberale Logik. Das Geheimnis des Erfolges: Autonomie und Wahlfreiheit bilden den Kern der neoliberalen Ideologie, und genau dort knüpft ein von Judith Butler geprägter Gender-Ansatz an, der Geschlechtsidentität zum Schauplatz ständiger Offenheit und Wandelbarkeit umdeutet. Mit andern Worten: Die einzige Ideologie, die noch gilt, ist, dass es keine Geschlechterideologie mehr gibt. In einer Zeit, in der Repression durch marktwirtschaftliche Selbststeuerung abgelöst wurde, sei der Feminismus mit diesem Verständnis von Gender, so Soiland, denkbar schlecht gerüstet.

Zwar teilte Patricia Purtschert die Sichtweise ihrer Vorrednerin, wonach Frauen überproportional betroffen seien vom rasanten Umbau von Staat und Wirtschaft. Doch ist die Philosophin überzeugt, dass die dekonstruktivistischen Ansätze wichtig sind, um die widersprüchlichen Entwicklungen der Geschlechterverhältnisse in globalisierten Gesellschaften zu erklären. Die verwendeten Instrumente würden in unterschiedlichen Kontexten Unterschiedliches leisten und seien weder per se liberal noch kritisch. Die Stärke der Dekonstruktion liege im Aufdecken von Naturalisierungspraktiken: «Erst wenn wir untersuchen, wie ökonomische Ungleichheit mit normativem Zwang gekoppelt ist, wird es interessant.» Selbstregulierung ist keine Erfindung der neoliberalen Ära, genauso wenig wie diese auf repressive Praktiken verzichtet. Im Gegenteil, weil sich das Interesse des Staats an selbstregulierenden Subjekten auf eine gesellschaftliche Elite beschränkt, ist eine Mehrheit der Bevölkerung - der 11. September lässt grüssen - zunehmend repressiven Massnahmen ausgesetzt. Soilands Text, so Purtschert, sei demnach die Auseinandersetzung mit einer bestimmten Position: derjenigen der weissen Mittelschichtsfrau. Dass die Analyse vergeschlechtlichter Normen gerade auch für Frauen des Südens politisch brisant ist, zeigte Purtschert an einem Beispiel aus Südafrika, wo von Aids betroffene Frauen aus den hegemonialen Diskursen ausgeblendet werden und ihre medikamentöse und finanzielle Unterversorgung dadurch legitimiert wird.

Die Debatte endete in einem spannenden Dissens: Soiland forderte die Reinstallierung von Geschlecht als primärem Strukturierungsmoment, welches anderen Hierarchien voranzustellen sei. Patricia Purtschert und ihre Forschungskolleginnen vom Zentrum Gender Studies Basel riefen dazu auf, Gender nicht auf eine einzelne Dimension - nämlich Identität - zu reduzieren. Zwar sei die Frage nach dem Geschlecht des Bruttosozialprodukts in den neunziger Jahren zu wenig beachtet worden, und diesbezüglich wurde auch Selbstkritik geübt. Immerhin, wie im Referat von Nancy Fraser (siehe WOZ Nr. 13/05) nachzulesen ist: Die Vergeschlechtlichung makroökonomischer Verhältnisse gerät zunehmend ins Visier der Gender Studies.

Die Debatte brachte zum Ausdruck, dass Gender Studies das Erbe der feministischen Bewegung in sich tragen, sich aber als wissenschaftlicher Zweig theoretisch verselbständigt haben. Die Rednerinnen einigten sich zwar, dass das neoliberale Regime die Gleichstellung der Geschlechter in neuer Weise bedroht und den Feminismus herausfordert - wie ihm theoretisch zu begegnen sei, blieb hoch kontrovers. Was es braucht, sind empirische Studien, die mit unterschiedlichen Gender-Dimensionen arbeiten und für die Theoriebildung fruchtbar gemacht werden. Die kontroversen Positionen liessen sich zum Bedauern einiger Teilnehmerinnen nicht in ein feministisches «Wir» auflösen. Für eine feministische Politik, darüber verständigten sich die Podiumsteilnehmerinnen zum Tagungsschluss, sind strategische Positionen und klare identitäre Ausgangslagen sowie deren permanente Kritik unabdingbar.