Velofahren ohne Velohelm soll verboten werden.
Warum eigentlich?:
Eine irre Logik

Nr. 16 –

Das Velo ist besonders in Städten ein beliebtes Verkehrsmittel: schnell, Platz sparend, günstig, lärm- und abgasfrei, fast ohne Ölverbrauch und ungemein praktisch. Aufschliessen, aufschwingen und los; die Parkplatzsuche entfällt nicht mehr wie früher, ist aber immer noch sehr leicht.

In Zukunft wird es nicht mehr so einfach sein: Die Schweizerische Unfallversicherung (Suva) und die Beratungsstelle für Unfallverhütung (BfU) wollen Velofahren ohne Helm verbieten lassen. Für jede Strecke - und sei sie noch so kurz - müsste dann ein Helm getragen werden. Ohne Helm zu fahren, würde strafbar. Das ist nicht nur unpraktisch, es hat unschöne Konsequenzen: Wo solche Verbote eingeführt wurden, ist der Veloverkehr eingebrochen; in Australien zum Beispiel auf einen Schlag um 30 Prozent (siehe WOZ Nr. 26/03 oder www.woz.ch/archiv/old/03/26/5954.html). Es stellt sich die Frage, ob man das will, und weshalb.

Die Verkäufer der Velohelme sagen, der Helm schütze den Kopf vor Verletzungen. Aber lässt sich dieser angebliche Schutz nachweisen?

In mehreren Staaten ist das Velofahren ohne Helm bereits verboten worden, und in der Schweiz fährt schon ein Drittel der Leute mit Helm. Der Nutzen des Helmtragens müsste also aus dem Unfallgeschehen ersichtlich sein. Die Schweizerische Unfallversicherung Suva hat ihn gesucht: Als Kriterium nahm sie den Anteil der Kopfverletzungen an den gesamten Velounfällen. In einer Grafik zeigt die Suva, wie dieser Anteil der Kopfverletzungen seit Beginn ihrer Helmkampagne 1987 stark zurückgegangen ist.

Das sieht wunderbar aus. Allerdings sieht man auch, dass diese Abnahme bis 1995 stattgefunden hat und dass der Anteil der Kopfverletzungen danach nicht mehr sinkt, sondern leicht steigt.

Dieser Trendbruch ist brisant: 1995 trugen erst 8 Prozent der RadfahrerInnen einen Helm, 2002 dagegen schon 23 Prozent. Die Suva-Zahlen zeigen also, dass der Anteil der Kopfverletzungen zurückging, bevor Helme in nennenswerter Zahl getragen wurden. Seit sich das Helmtragen zu verbreiten beginnt, steigt dieser Anteil wieder.

Das muss nicht unbedingt die Schuld der Helme sein. Ob die Kopfverletzungen trotz des Helmtragens oder wegen des Helmtragens leicht zunehmen, ist auch nicht relevant. Wir wollen ja nicht wissen, ob das Helmtragen eventuell jemandem schadet, sondern ob es einen nachweisbaren Nutzen hat. Und eben den finden wir hier nicht.

Die Suva bestätigt auf Anfrage, dass sie das Velofahren ohne Helm verbieten lassen will, bittet aber mehrmals darum, dies nicht zu erwähnen («kommen Sie bitte nicht dauernd mit diesem Obligatorium!»). Es herrscht eine strenge Sprachregelung, wonach nur das freiwillige Helmtragen propagiert werden soll; man befürchtet, das geplante Obligatorium könnte vorzeitigen Widerstand auslösen und dadurch der Kampagne schaden.

Für den steigenden Anteil der Kopfverletzungen trotz zunehmenden Helmtragens hat die Suva zwei Erklärungen: Erstens hätten zu Beginn nur die am meisten gefährdeten Leute, die im Sport und Freizeitbereich, Helme getragen. Beim normalen Volk sei der Nutzen geringer. Ausserdem würden nur 5 Prozent der Unfallmeldungen in die Statistik einfliessen, der Rest sei Hochrechnung. Die zunehmenden Kopfverletzungen wären wohl schlicht das Resultat der Messungenauigkeit.

Beide Erklärungen klingen plausibel, enthalten aber logische Schwächen. Zur ersten: Dass der Helm beim Herumhüpfen in Geröllhalden mehr nützt als auf der Fahrt ins Kino, ist durchaus möglich. Wenn es allerdings so wäre, dass die Helme seit ihrer grösseren Verbreitung ab 1995 nur etwas weniger genützt hätten, müssten die Kopfverletzungen weiter abnehmen, bloss weniger stark als zuvor. Sie nehmen aber zu.

Zur zweiten: Die Erklärung, dass die eigene Statistik wegen Messungenauigkeiten nichts besagt, ist ebenso ehrlich wie sympathisch. Die Statistik beweist also alles oder nichts und bei Bedarf das Gegenteil noch dazu. Aber wenn man schon auf die erste Nachfrage einräumt, dass der versuchte Beweis nicht funktionierte beziehungsweise nichts taugt - warum das Fahren ohne Helm verbieten lassen?

Hier wird es interessant: Weil es angeblich sowieso erwiesen sei, dass Velohelme vor Kopfverletzungen schützen. Oder kurz: Der Beweis für den Nutzen des Helmes besteht in der Behauptung, dass der Nutzen bewiesen sei, weshalb kein Beweis mehr nötig ist. Das tönt hart und wird der ehrlichen Überzeugung des Suva-Sprechers nicht gerecht; hier wirkt natürlich auch noch ein anderes Phänomen: Die Suva will in der Abnahme der Kopfverletzungen bis 1995 einen Beweis für den Helmnutzen erkennen und in der Zunahme der Kopfverletzungen nach 1995 nichts oder allenfalls eine zufällige Messungenauigkeit. Das Muster ist verbreitet: Man sucht nach Argumenten und präsentiert nur den Teil der Fakten, der die eigene Meinung stützt.

Das gleiche Muster finden wir bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung BfU: Auch sie will das Velofahren ohne Helm verbieten lassen, und zwar noch schneller als die Suva. Ihre Grundlage ist die oft zitierte Seattle-Studie von Thompson/Rivara/Thompson, in der 1989 bewiesen wurde, dass das Tragen von Velohelmen 85 Prozent der schweren Kopfverletzungen und 72 Prozent der Verletzungen anderer Körperteile verhindert (siehe WOZ Nr. 26/03).

Die BfU hält es auf Nachfrage für «offensichtlich unsinnig», dass das Tragen von Velohelmen 72 Prozent der Beinbrüche verhindern soll, verwendet diese Studie aber trotzdem als Beweis für die Notwendigkeit eines Helmobligatoriums. Das muss die BfU auch, denn mit den praktischen Erfahrungen solcher Verbote, die seither in Australien und in den USA erlassen wurden, kann man nicht argumentieren.

Einen nonchalanten Umgang mit Zahlen pflegt die BfU auch auf ihrer Webseite www.velohelm.ch. Während Jahren stand zuoberst «50 000 Velounfälle pro Jahr». Als jemand nachfragte, woher sie eigentlich diese Zahl hätten - die Polizei registriert jährlich nur 3200 Unfälle mit verletzten Velofahrern - änderte die BfU den Text auf «25 000 Velounfälle (inkl. Dunkelziffer)» und teilt seither auf Anfrage mit, das mit den 50 000 sei ein Fehler gewesen, man bitte um Entschuldigung.

Fehler können passieren, Messungenauigkeiten genauso, und die neue Zahl von 25 000 Velounfällen wird ganz plausibel begründet (die Polizei nimmt längst nicht alles auf). Man braucht weder über die Suva- oder BfU-Angestellten den Stab zu brechen, noch das Helmtragen als schädlich hinzustellen: Die Zunahme der Kopfverletzungen nach der Einführung von Helmobligatorien beziehungsweise der Zunahme des Helmtragens kann alle möglichen Ursachen haben, und eine Korrelation (gleichförmige Entwicklung von A und B) beweist keine Kausalität (A ist Ursache von B oder umgekehrt). Auch ist es durchaus möglich, dass das Helmtragen einigen Leuten genützt und anderen geschadet hat und man deshalb keinen Nutzen in den Unfallzahlen findet.

Zur Frage, warum kein Nutzen des Helmtragens nachweisbar ist, gibt es viele und zum Teil sehr technische Hypothesen (siehe WOZ Nr. 26/03, wer mehr dazu lesen will, muss jetzt der WOZ schreiben und mehr Platz für dieses Thema verlangen). Für unsere heutige Fragestellung (siehe Titel) ist nicht entscheidend warum, sondern dass kein Gesamtnutzen des Helmtragens erkennbar oder gar nachweisbar ist.

Behelmte Sport- und FreizeitvelofahrerInnen reagieren empfindlich auf den Hinweis, dass bis jetzt weltweit kein Nachweis des Nutzens der Helme gefunden wurde. Es gebe keinen Beweis, dass das Helmtragen nichts nütze, das glaube man einfach nicht, der Helm habe ihnen schon das Leben gerettet, und Statistiken seien sowieso gefälscht, bekommt man sofort zu hören.

Für die Empörung gibt es keinen Grund. Erstens will und muss niemand beweisen, dass das Helmtragen schadet oder nichts nützt - ansonsten könnte man ja tägliches Joga in gelben Stiefeln oder das Tragen von rosaroten Perücken beim Einkaufen zur Gesetzespflicht machen (oder kennen Sie etwa einen Beweis dafür, dass dies nichts nützt oder gar schadet?).

Zweitens gab und gibt es keine Pläne, das Tragen von Helmen oder anderer Kleidungsstücke beim Velofahren zu verbieten. Niemand wünscht einen Velofahrer ins Gefängnis, weil der einen Helm trägt. Aus welchem Grund kann man das umgekehrt nicht genauso halten?

Worauf wir wieder am Ausgangspunkt wären: Das Velofahren ohne Helm soll in der Schweiz bald verboten werden. Warum eigentlich?