Durch den Monat mit Josi Meier (Teil 4): Sie waren beim Militär?

Nr. 17 –

WOZ: Wie haben Sie vor sechzig Jahren erstmals von der Kapitulation Deutschlands erfahren?
Josi Meier: Aus dem Radio. Man klebte damals immer am Radio.

Gab es ein Freudenfest?
Nein, es war eher ruhig. Am nächsten Morgen läuteten die Kirchenglocken. Das war für uns die grosse Erleichterung: dass der Hitler fertig war. Ich war übrigens von Anfang an, als Kind, gegen ihn, weil ich Pfadfinderin war und Hitler die Pfadi abgeschafft hatte. Aber man wusste, dass noch viel Leid kommen würde. Ich schrieb am 7. Mai 1945 in mein Tagebuch: «Ich muss einfach immer an die armen Teufel denken, die jetzt überall auf der Welt herumlaufen, wenn sie das überhaupt noch können.»

Zur Freude mischte sich Entsetzen?
Man realisierte das Ausmass der Grausamkeit des Naziregimes. Von der Judenvernichtung konnte man längst wissen, aber das Ausmass war neu. Ausländische Altersgenossen erzählten nächtelang vom Krieg. Leute, die friedfertiger waren als ich, hatten getötet und sagten: «Wenn ich nicht geschossen hätte, hätte der andere geschossen.» Ich hatte nach dem Krieg einen ungeheuren Hunger auf Begegnungen mit Menschen jenseits der Grenzen.

Wann reisten Sie erstmals ins Ausland?
1946, nach Paris. Es war eine unwahrscheinliche Zeit. Man hat all die Kunstschätze, die im Krieg versteckt worden waren, noch einmal in Paris gesammelt und ausgestellt. Ein Jahr später fuhr ich nach Österreich. In Wien wohnte ich im sowjetischen Bezirk. Die Enkelin meiner Gastgeber erzählte mir, wie sie am Heldenplatz Hitler zugejubelt hatte. Mich hat es höchst erstaunt, wie die Wiener in ihrem Elend als Erstes die Oper wieder aufbauen wollten und nicht neue Wohnungen. In Wien sah ich übrigens den einzigen Fussballmatch meines Lebens, Wien gegen Budapest. Gottlob spielten sie 1:1 unentschieden: Die ganze sowjetische Besatzungsarmee sass im Praterstadion.

Sonst wäre es heiss geworden?
Es wurde so oder so heiss. Die Wiener brüllten und schmissen Flaschen und Tomaten, als die fremden Soldaten nach dem Spiel auf den Rasen stürmten.

Reisten Sie auch während des Krieges?
Ja, per Velo. Wir fuhren über alle Pässe. Da begegnete man in vierzehn Tagen nur vier Autos, trotzdem wollte man mich in St. Gallen wegen Nichtbenutzen des Velowegs büssen. Man schaute dann immer über die Grenze, nach Italien, über den Genfersee, über den Rhein, und da hat einem das Herz pöpperlet.

Sie gingen 1944 zum Militär.
Ich meldete mich an meinem 18. Geburtstag zum Rotkreuzdienst. Ich fand, wenn die Männer in den Dienst müssen, dann müssen wir auch. Es war uns damals nicht klar, was es an der Grenze und im Mittelland bedeutet, dass die Truppen sich ins Reduit zurückzogen. Das fand man eine gute Idee. Wir hatten ja Illusionen. Die Hausfeuerwehr der Kantonalbank kleidete den Dachstock feuerfest aus, und ich fühlte mich völlig sicher. Dass das bei einem Bombenangriff trotzdem brennen würde, konnte ich mir erst vorstellen, als Hamburg und Dresden bombardiert wurden. Mein Lieblings-Bundesrat-Minger-Witz bringt die Selbstsicherheit schön zum Ausdruck, die damals herrschte: Bundesrat Minger lässt an seinem Haus ein Schildchen anbringen: «Im Kriegsfall zweimal läuten».

Viele Angehörige Ihrer Generation fühlten sich beleidigt, als in den neunziger Jahren die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg neu bewertet wurde. Wie erlebten Sie diese Debatte?
Sie brachte für mich kaum Neues. Doch im Krieg sah man das Elend im Ausland kaum. Das Leben war hart, aber im Vergleich zum Ausland ging es uns sehr gut. Das haben viele bis heute nicht so richtig begriffen.

War es nach dem 8. Mai 1945 Konsens, dass es nie wieder Krieg geben dürfe?
Wir waren völlig davon überzeugt. Der Blutrausch war so enorm gewesen. Beispielsweise war ich in Ulm. Ich verstand nicht, wie die Leute wissen konnten, wo zwischen den Trümmern die Strassen verliefen.

Aber die Kriegsangst war bald wieder da?
Da war einmal der Schock der Atombombe. Und dann kam schon bald der Koreakrieg. Es gab je länger, je mehr zivile Kriegsopfer.

Heute sind «Präventivschläge» für viele wieder taugliches Mittel der Politik.
Das ist für mich absolut nicht zulässig. Krieg macht sich immer mehr selbständig. Abwehrkriege verstehe ich; Interventionen aber nur im Rahmen der internationalen Organisationen. Ich war unter anderem in Nordkorea und Moçambique. Wer solches Elend gesehen hat, kann Kriege nicht befürworten.

Besteht die Gefahr, dass Leute, die keinen Krieg erlebt haben, vergessen, wie schrecklich Krieg ist?
Ja, eindeutig.

Josi Meier, 79 ist Rechtsanwältin in Luzern und war von 1971 bis 1983 CVP-Nationalrätin, danach bis 1995 Mitglied des Ständerats, den sie 1992 als erste Frau präsidierte.

Nachtrag: Josi Meier starb am 4. November 2006 an den Folgen ihrer Krankheit. Zum Nachruf aus WOZ Nr. 45/06 .