Durch den Monat mit Josi Meier (Teil 3): Sind Sie eine Kämpferin?
WOZ: Schade, dass es heute so trüb ist. Wieder sehe ich nur einen Teil der Aussicht von Ihrem Balkon direkt am See.
Josi Meier: Jeden Tag ist die Stimmung anders. Gestern waren die Wälder noch braun, heute sieht man erstes Grün. Aber kommen Sie einmal nach Luzern, wenn das Wetter besser ist!
Ja, ich will einmal meinen Onkel besuchen, den Zahnarzt Gisler, fast Ihr Jahrgang.
Mit dem war ich im Dienst – nein, warten Sie ... (holt einen Stadtplan). Der hatte seine Praxis hier, das ist nicht die Adresse Ihres Onkels ... (blättert in einem Adressbuch von 1986). Da gab es einen anderen Zahnarzt Gisler mit dieser Adresse, sehen Sie. Ich habe mich also richtig erinnert, mein Gedächtnis stimmt noch.
Und Ihre Augen sind gut: Die Schrift auf der Karte ist winzig!
Sie sind wieder gut. Seit ich die neuen Augen habe, kann ich sogar die eingravierte Schrift auf der Rückseite meiner Armbanduhr ohne Brille lesen.
Sie sprechen von Ihren Körperteilen wie von Dingen. Vor dem ersten Gespräch sagten Sie mir, Sie hätten Ihren «Kamin» auswechseln lassen müssen.
Ja, das sind Ersatzteile, dank der modernen Medizin geht das. Damit weiss man auch, dass der Körper nur geliehen ist; er kann nicht ewig gespeist werden. Wir verdanken der modernen Medizin viel, aber sie kann nicht alles.
Was heisst «neue Augen»?
Ich hatte den Star, der wurde mit einer Laseroperation behandelt.
Und Ihr «Kamin»?
Das ist eine Kanüle in der Luftröhre. Die Luftröhre hat unter den Bestrahlungen gelitten, sie lödelet. Die Kanüle sorgt für einen offenen, festen Durchgang.
Sie haben Schilddrüsenkrebs.
1993 stellte man die Diagnose. Ich schenkte dem keine grosse Beachtung. Damals war ich noch im Ständerat. Ich verdrängte es vor lauter Arbeit. Schliesslich war es zu spät, und man musste bestrahlen. 2000 war ich zehn Tage im Tessin. Kaum zu Hause, fing ich eine Lungenentzündung ein. Ich wurde bewusstlos ins Spital eingeliefert. Da tat man den Schnitt, ohne mich gross zu fragen, und baute einen Apparat ein. Der war ein Monstrum. Damals musste ich immer mit medizinischem Gerät herumreisen – ich hatte ja noch politische Mandate –, immer war dieser Karsumpel dabei. Dass ich jetzt die Kanüle habe, ist ein ungeheurer Gewinn an Lebensqualität.
Sie waren als Politikerin und Anwältin eine Kämpferin. Sind Sie auch eine Kämpferin gegen die Krankheit – oder kann man das nicht vergleichen?
Doch, das hat miteinander zu tun. Ich kämpfte recht hart um die Gesundheit. Ich habe einen Aufschub erfahren, ich will noch die Dinge in Ordnung bringen. Das ist schwieriger, als ich dachte. Man weiss nie, wie der Krebs sich verhält. Eines Tages sagte mein Hausarzt: Sie müssen sofort in die Röhre. Nach dem Untersuch sagte der Spezialarzt: Eine gute Nachricht: Sie haben nur eine Metastase – Sie haben Leukämie.
Sagte er das aus Sarkasmus?
Bei den Ärzten ist man nie ganz sicher. Oft ist es ihr Selbstschutz. Es ist ganz entscheidend, dass man mit medizinischem Personal zu tun hat, das einen als ganzen Menschen sieht. Zum Glück habe ich heute sehr gute Ärzte.
Ihre Krankheitsgeschichte begann aber schon früher?
Ja. 1971, nach der Wahl in den Luzerner Grossrat und den Nationalrat, noch vor der ersten Nationalratssitzung, musste ich den Kropf operieren lassen. Da verlor ich erstmals die Stimme. Aber weil damals erstmals Frauen gewählt worden waren, rüstete man die Parlamente mit Verstärkeranlagen aus, weil man glaubte, Frauen könnten nicht so laut sprechen. Das ermöglichte mir, weiter politisch aktiv zu sein. Dabei war ich Feldweibel gewesen und konnte 300 Meter weit rufen. Ich musste meine Art zu reden anpassen.
Prägt so was den politischen Stil?
Ich glaube nicht, aber es war eine Disziplinierung, die einem chaotischen Menschen wie mir gut tut.
Letzte Woche sagten Sie mir, als ich das Tonbandgerät schon ausgeschaltet hatte, Sie fänden die Vorstellung schön, dass nach Ihrem Tod, wenn Sie einmal beerdigt sind, Blumen aus Ihrem Körper wachsen.
Der Gedanke an den Tod ist täglich präsent. Die Hauptfrage, die mich noch beschäftigt, ist: Welchen Sinn hat dein Leben? Diese Frage liegt im ständigen Konflikt mit der Frage, was noch erledigt sein will, man tut immer zuerst das Dringendste. Und sie liegt im Konflikt mit den Bedürfnissen der Pflege.
WOZ: Wussten Sie, dass an der Kanti Reussbühl 1996 ein Zitat von Ihnen Thema des Matura-Aufsatzes war?
Josi Meier: Ja. Ich ging eines Tages über die Reussbrücke, da sprachen mich zwei junge Frauen an: «Sie sind doch Frau Meier? Wir haben jetzt gerade unseren Matura-Aufsatz über Sie geschrieben.»
Werden Sie oft auf der Strasse angesprochen?
Immer seltener, aber gerade heute umarmte mich eine ältere Frau und sagte: «Danke für alles, was Sie für uns getan haben.»
Das Prüfungszitat hiess: «Die einen leisten sich ein Rennpferd, andere eine Jacht, ich leiste mir eine freie Meinung.» Wie entstand dieser Satz?
1991 erhielt ich die Ehrennadel der Stadt Luzern. Am Tag der Verleihung war ich noch in Wien; auf dem Flug von Wien dachte ich plötzlich: «Stärneföifi, da muss ich ja etwas sagen.» Da kam mir dieser Satz in den Sinn, der etwas für mich sehr Wichtiges ausdrückt. Später tauchte der Satz im Fastenkalender wieder auf. Ich knüpfe daran an, dass freie Meinung immer die freie Meinung der anderen ist. Das ist der Kernpunkt. Man darf von mir verlangen, dass ich erlaube, dass Andersdenkende ihre Meinung auch äussern.
Welche Meinungsäusserung kam Sie besonders teuer zu stehen?
Es gäbe viele zu nennen. Als ich für den Ständerat kandidierte, bekam ich einen Anruf. Man bot mir ein Verwaltungsratsmandat an für den Fall, dass ich nicht kandidiere. Die wollten jemand anderes nominieren. Ich sagte Nein.
Das war ein teures Nein ...
Das Mandat hätte eingeschenkt.
Welche Rolle spielte Ihr Bekenntnis zur freien Meinung in Ihrem Beruf?
In einem meiner ersten Fälle als Rechtsanwältin … ich verteidigte Studienkollegen, die wegen Nachtruhestörung und Pissen an unerlaubtem Ort angeklagt waren – zitierte ich den «Crainquebille». Das ist ein Buch von Anatole France. Darf ich die Geschichte erzählen?
Bitte!
Crainquebille stritt mit Polizisten. Er fluchte: «Mort aux vaches!» Sie verhafteten ihn, und er wurde verurteilt – das ist sehr lesenswert! Als er wieder freikam, ging es ihm so miserabel, dass er zurück ins Gefängnis wollte. Also ging er auf einen Polizisten zu und sagte ihm: «Mort aux vaches!» Dieser aber sagte nur: «Das sollte man nicht sagen.» Damit wollte ich zeigen, wie unterschiedlich man die Dinge sehen kann. Ich bekam einen Verweis, weil ich die Polizei mit der Gendarmerie aus der Literatur verglich. Meine Studienkollegen wurden freigesprochen.
Es ist Mode, die grösste Gefahr für die freie Meinungsäusserung in der «politischen Korrektheit» zu sehen, und wer dagegen verstösst, sieht sich gerne als Tabubrecher.
Heute werden Auffassungen verbreitet, die vor kurzem noch als unanständig gegolten hätten. Der schlimmste Auswuchs davon sind hetzerische Abstimmungs- und Wahlwerbungen. Dass man das mit der freien Meinungsäusserung rechtfertigt, finde ich widerlich.
Vor einiger Zeit sorgte eine Roma-Familie, deren minderjährige Tochter gewalttätig ist, für einiges Aufsehen. Journalistinnen und Journalisten, die gar nicht erst mit der Familie sprachen, forderten deren Ausschaffung.
Ich halte das für zu kurz gedacht. Bei Schweizern kann man die Probleme auch nicht so einfach lösen. Man muss sich in eine solche Familie hineindenken und die Ursachen der Schwierigkeiten angehen, wie bei allen anderen schwierigen Kindern. Das wäre human. Wir bezeichnen uns ja immer wieder als humanitär. Aber humanitär sein erschöpft sich nicht in Geld für Tsunami-Opfer. Das muss sich hier und jetzt bei unseren unmittelbaren Nachbarn beweisen.
Sie betreuen selber eine Roma-Familie.
Ja. Da stelle ich fest, wie ein Problem das andere nach sich zieht: finanzielle Schwierigkeiten, Wohnungssuche, Versicherungsprobleme, Aufenthaltsrecht. Ich konnte mithelfen, einen Bundesgerichtsentscheid zu erwirken, der zur Gewährung des Familiennachzugs führte.
Fühlen Sie mit Leuten am Rand der Gesellschaft stärker mit, weil Sie in Ihrer Jugend selber arm waren?
Ganz eindeutig. Obwohl man die Situationen nur bedingt vergleichen kann, gibt es eben die Analogien der Randständigkeit. Die meisten Leute haben kein Gedächtnis: Sie sprechen immer von ihrer schönen Jugend und vergessen, wie schwer es war. Freiheit bedingt, dass gewisse materielle Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Um auf Crainquebille zurückzukommen : Die Freiheit, unter den Brücken schlafen zu können, ist eben keine wirkliche Freiheit.
Josi Meier, 79 ist Rechtsanwältin in Luzern und war von 1971 bis 1983 CVP-Nationalrätin, danach bis 1995 Mitglied des Ständerats, den sie 1992 als erste Frau präsidierte.
Nachtrag: Josi Meier starb am 4. November 2006 an den Folgen ihrer Krankheit. Zum Nachruf aus WOZ Nr. 45/06 .