Durch den Monat mit Josi Meier (Teil 2): Eine teure Meinung?

Nr. 15 –

WOZ: Wussten Sie, dass an der Kanti Reussbühl 1996 ein Zitat von Ihnen Thema des Matura-Aufsatzes war?
Josi Meier: Ja. Ich ging eines Tages über die Reussbrücke, da sprachen mich zwei junge Frauen an: «Sie sind doch Frau Meier? Wir haben jetzt gerade unseren Matura-Aufsatz über Sie geschrieben.»

Werden Sie oft auf der Strasse angesprochen?
Immer seltener, aber gerade heute umarmte mich eine ältere Frau und sagte: «Danke für alles, was Sie für uns getan haben.»

Das Prüfungszitat hiess: «Die einen leisten sich ein Rennpferd, andere eine Jacht, ich leiste mir eine freie Meinung.» Wie entstand dieser Satz?
1991 erhielt ich die Ehrennadel der Stadt Luzern. Am Tag der Verleihung war ich noch in Wien; auf dem Flug von Wien dachte ich plötzlich: «Stärneföifi, da muss ich ja etwas sagen.» Da kam mir dieser Satz in den Sinn, der etwas für mich sehr Wichtiges ausdrückt. Später tauchte der Satz im Fastenkalender wieder auf. Ich knüpfe daran an, dass freie Meinung immer die freie Meinung der anderen ist. Das ist der Kernpunkt. Man darf von mir verlangen, dass ich erlaube, dass Andersdenkende ihre Meinung auch äussern.

Welche Meinungsäusserung kam Sie besonders teuer zu stehen?
Es gäbe viele zu nennen. Als ich für den Ständerat kandidierte, bekam ich einen Anruf. Man bot mir ein Verwaltungsratsmandat an für den Fall, dass ich nicht kandidiere. Die wollten jemand anderes nominieren. Ich sagte Nein.

Das war ein teures Nein ...
Das Mandat hätte eingeschenkt.

Welche Rolle spielte Ihr Bekenntnis zur freien Meinung in Ihrem Beruf?
In einem meiner ersten Fälle als Rechtsanwältin – ich verteidigte Studienkollegen, die wegen Nachtruhestörung und Pissen an unerlaubtem Ort angeklagt waren – zitierte ich den «Crainquebille». Das ist ein Buch von Anatole France. Darf ich die Geschichte erzählen?

Bitte!
Crainquebille stritt mit Polizisten. Er fluchte: «Mort aux vaches!» Sie verhafteten ihn, und er wurde verurteilt – das ist sehr lesenswert! Als er wieder freikam, ging es ihm so miserabel, dass er zurück ins Gefängnis wollte. Also ging er auf einen Polizisten zu und sagte ihm: «Mort aux vaches!» Dieser aber sagte nur: «Das sollte man nicht sagen.» Damit wollte ich zeigen, wie unterschiedlich man die Dinge sehen kann. Ich bekam einen Verweis, weil ich die Polizei mit der Gendarmerie aus der Literatur verglich. Meine Studienkollegen wurden freigesprochen.

Es ist Mode, die grösste Gefahr für die freie Meinungsäusserung in der «politischen Korrektheit» zu sehen, und wer dagegen verstösst, sieht sich gerne als Tabubrecher.
Heute werden Auffassungen verbreitet, die vor kurzem noch als unanständig gegolten hätten. Der schlimmste Auswuchs davon sind hetzerische Abstimmungs- und Wahlwerbungen. Dass man das mit der freien Meinungsäusserung rechtfertigt, finde ich widerlich.

Vor einiger Zeit sorgte eine Roma-Familie, deren minderjährige Tochter gewalttätig ist, für einiges Aufsehen. Journalistinnen und Journalisten, die gar nicht erst mit der Familie sprachen, forderten deren Ausschaffung.
Ich halte das für zu kurz gedacht. Bei Schweizern kann man die Probleme auch nicht so einfach lösen. Man muss sich in eine solche Familie hineindenken und die Ursachen der Schwierigkeiten angehen, wie bei allen anderen schwierigen Kindern. Das wäre human. Wir bezeichnen uns ja immer wieder als humanitär. Aber humanitär sein erschöpft sich nicht in Geld für Tsunami-Opfer. Das muss sich hier und jetzt bei unseren unmittelbaren Nachbarn beweisen.

Sie betreuen selber eine Roma-Familie.
Ja. Da stelle ich fest, wie ein Problem das andere nach sich zieht: finanzielle Schwierigkeiten, Wohnungssuche, Versicherungsprobleme, Aufenthaltsrecht. Ich konnte mithelfen, einen Bundesgerichtsentscheid zu erwirken, der zur Gewährung des Familiennachzugs führte.

Fühlen Sie mit Leuten am Rand der Gesellschaft stärker mit, weil Sie in Ihrer Jugend selber arm waren?
Ganz eindeutig. Obwohl man die Situationen nur bedingt vergleichen kann, gibt es eben die Analogien der Randständigkeit. Die meisten Leute haben kein Gedächtnis: Sie sprechen immer von ihrer schönen Jugend und vergessen, wie schwer es war. Freiheit bedingt, dass gewisse materielle Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Um auf Crainquebille zurückzukommen : Die Freiheit, unter den Brücken schlafen zu können, ist eben keine wirkliche Freiheit.

Josi Meier, 79 ist Rechtsanwältin in Luzern und war von 1971 bis 1983 CVP-Nationalrätin, danach bis 1995 Mitglied des Ständerats, den sie 1992 als erste Frau präsidierte.

Nachtrag: Josi Meier starb am 4. November 2006 an den Folgen ihrer Krankheit. Zum Nachruf aus WOZ Nr. 45/06 .