Tim Krohn: Sekundentod

Nr. 18 –

Der Genfersee wird zum Meer, der Traum vom Topolino zum Lebensmotto - in überraschendem Einverständnis begehen Josefa Bergström und ihr zehnjähriger Sohn Jens ihre gemeinsamen Tage. «Es war etwas Sonderbares um die beiden, die nichts weiter zu brauchen schienen und kaum Freunde hatten», schreibt Tim Krohn in «Das Meer», der ersten seiner drei unter dem Titel «Heimweh» zusammengefassten eben erschienenen Erzählungen. Ja, etwas Sonderbares ist da, etwas sonderbar Leichtes im Leben dieser Einelternfamilie, das im verstörenden Gegensatz zu dem am Anfang der Erzählung angekündigten Bruch steht: «Bis kurz vor ihrem überraschenden Tod lebte Josefa Bergström mit ihrem Sohn Jens in einer kleinen Wohnung in Zürich, hinter dem Goldbrunnenplatz», beginnt «Das Meer». «Bis kurz vor ihrem Tod.»

Wie nebenbei hat Krohn dem unbeschwerten Plauderton eine dünne Eisschicht unterlegt. Und noch als diese einbricht - Josefa stirbt mitten auf der Strasse innert Sekunden an einer Hirnblutung -, lässt Krohn die Hauptfigur Jens weiter darauf gehen. Die Beerdigung, sein bis anhin ihm unbekannter Vater, der ihn mit sich ins Tessin nimmt - nichts von dem dringt bis zum Jungen durch. Vermeintlich. Irgendwann verschwindet Jens mit dem Zug, reist ans Genfer Meer, erinnert sich an die verlorene Zeit mit Josefa, will nach Zürich, heim, wird im Zug aufgegriffen - und von einem Tessiner Polizisten in einer langen Autofahrt zurückgebracht. Auf dieser Fahrt entwickelt sich eine ganz eigene Beziehung mit dem jungen Beamten. Der Junge, vorher im Mutter-Sohn-Kokon eingeschlossen, bezieht endlich Stellung zur Aussenwelt und fängt an, mit ihr zu verhandeln, sie selbst mitzugestalten.

Das Mutterland verteidigen

In der gleichen Weise erzählt, beginnt auch die zweite - viel kürzere - Geschichte, «Die Ostfront»: Ein sechzehnjähriger Schweizer schleicht sich während des Krieges über die Grenze nach Deutschland, um freiwillig an die Front zu gehen. «Ich möchte helfen», erklärt der Junge den verdutzten Wehrmachtssoldaten und erklärt, dass seine Mutter Deutsche war. «Sie starb, als ich sechs war.» An die Grenze, um endlich das Mutterland, die Mutter zu verteidigen, um ihre Nähe wieder zu finden. Die Heimat. Doch die Deutschen schicken den Gymnasiasten zurück, und auch diese Heimreise wird zur Befreiung von der Mutterlast. In die Zukunft gerichtetes Handeln, neue Träume bestimmen plötzlich das Leben - auch hier beginnt der junge Mensch, das Eigene klarer zu sehen.

Und in der letzten - nur dreieinhalbseitigen - Erzählung, «Das erste Bild», wird der Tod der Mutter zwar nur noch als Klammerbemerkung angefügt, zieht sich aber auch hier als Gefühl der Verlorenheit prägend durch die filmische Szenerie: Wegen einer ansteckenden Kinderkrankheit von der mutterlosen Familie mit einer Tante zurückgelassen, folgt ein Junge den anderen erst später in die Ferien nach Italien. Und dort entdeckt er Frauen ausserhalb der ersten Frau - Engländerinnen -, die er, wie um die Ablösung von der Mutterfixierung festzuhalten, fotografiert.

Krohn hat seine drei sprachlich gleich feinen, aber sehr unterschiedlichen Erzählungen lose, aber deutlich mit dem Motiv des Muttertods verbunden - und seinem Buch dadurch die Beliebigkeit genommen, die solche Erzählsammlungen zuweilen haben. Und dass er ihm den Titel «Heimweh» gibt, lässt die überdeutliche Verwendung des Muttertods nicht unnötig grausam erscheinen, sondern verweist auf die fragile Durchlässigkeit neu gewonnener Stärke.

Tim Krohn: Heimweh. marebuchverlag. Hamburg 2005. 189 Seiten. Fr. 29.80