Lieblingslieder: Für eine kleine Welt
Sing mir einen Song, und ich sage dir, wer du bist: Plattensammlungen geben bekanntlich viel über ihre BesitzerInnen preis, und mit Lieblingsliedern kann man ein ganze Biografie erzählen. Dass sich daraus auch prima Bücher stricken lassen, hat nicht nur Nick Hornby bewiesen. Aber mit seinem Roman «High Fidelity» hat er die Lawine der Poperzählungen erst so richtig losgetreten.
Als weiterer Remix dieses Themas erscheint nun «Mein Lieblingslied - Songs und Storys». Initiiert hat es das Berliner Label Lieblingslied Records, das bekannt ist für geschmackvolle Zusammenstellungen wie etwa die letztjährige Anthologie deutscher Protestsongs. Jetzt wurden 22 deutsche AutorInnen, JournalistInnen und MusikerInnen angefragt, eine Geschichte über ihr Lieblingslied zu schreiben. Eine nicht ganz einfache Aufgabenstellung, schliesslich häuft jeder Mensch über die Jahre eine hübsche Menge Lieblingslieder an: Manche halten einen Sommer, andere nur einen Tag, manche eine Beziehung, andere ein ganzes Leben lang. Sich ein einziges auszusuchen, sei, «als ob sich ein Leser für einen Lieblingssatz entscheiden müsse», beschied Thomas Brussig den HerausgeberInnen.
Lieblingslieder entspringen meist einer kleinen, sehr persönlichen Welt: das Lied, das frau einen bestimmten Tag lang vor sich hin pfiff, zu dem man die neue Liebe erstmals küsste oder das einem als Einziges Trost in schweren Stunden spendete. Informatives aus der Musikgeschichte und neue Einblicke in diese sind deshalb von «Mein Lieblingslied» nicht zu erwarten, obwohl sich einige AutorInnen daran versuchen. Es gelingt einzig Jürgen Laarmann, einst Herausgeber des Technomagazins «Frontpage», weil er anhand von «Umsturz Jetzt» von Robotiko Rejekto die frühen Neunziger rekapituliert, als aus Techno Tekkno wurde. Daneben gibt es Einsichten in eher unbekannte Welten: Terézia Mora beschreibt in ihrem Text über die ungarische Sängerin Zsuzsa Konzc die Popwelt hinter dem Eisernen Vorhang. Und Annett Gröschner unternimmt mit Nick Caves «The Ship Song» eine Reise nach Saratow in Russland.
Die Mehrheit der Geschichten - fiktiv oder autobiografisch - befasst sich mit dem Naheliegenden: das Lieblingslied und die Liebe; jugendlicher Auf- und Ausbruch mit der Musik; der Moment, wenn die Stimme einer Sängerin oder eines Sängers aus dem eigenen Herzen spricht. «Diese Zeile, eigentlich nur die letzte, fasste mir in meinen Brustkorb und verknotete alles, was zu finden war», schreibt die Wir-sind-Helden-Sängerin Judith Holofernes in ihrer Ode an «Hallelujah» von John Cale.
Liebesgeschichten gibt es einige, darunter zwei sehr schöne, die sich lustigerweise beide um einen Song von Elvis Costello drehen. Kolja Mensing trifft eine alte (Un-)Bekannte in einer Londoner Wohnung zu der Zeit, als sich der Komet Hale-Bobb der Erde näherte. Die beiden küssen und lieben sich, reden viel und hören ständig «After the Fall», weil es in der Wohnung keine andere Kassette gibt. Dann kommt die Aussenwelt in der Person des Wohnungsbesitzers zurück, und damit ist die kleine, abgeschottete Welt zerstört. Später versuchen sie noch einmal, ein Liebespaar zu werden: «Das Lied von Elvis Costello haben wir nicht mehr gehört, wir haben nicht einmal daran gedacht. Dafür endete es diesmal richtig schlimm.» Daniel Bilenstein erzählt einen Beziehungsstreit, der sich zum Drama auszuwachsen droht und in der Versöhnung endet, weil am Radio Costellos «I Want You» läuft: «All das sagen wir mit stummen Blicken, während das Radio sich ausnahmsweise einmal Zeit nimmt, einen Song von 6 Minuten 40 auszuspielen.» Das Glück, der Zufall in einem schicksalhaften Moment, es kann sich auch in einem Song manifestieren.
«Mein Lieblingslied» liest sich flüssig und ist nett wie ein Song, der an einem sonnigen Tag ans Ohr dringt. Die Nachhaltigkeit, die gerade Lieblingslieder entwickeln können, fehlt vielen Erzählungen. Aber Pop ist ja gerade auch dies: gute Unterhaltung. Praktisch ist, dass die LeserInnen die beschriebenen Songs (das Label bekam allerdings nicht für alle die Rechte) auf einer beigelegten CD anhören und die Musik auch für sich selber sprechen lassen können. Der Schreiber dieses Textes hat darauf gleich ein neues Lieblingslied entdeckt: «After Hours» von The Velvet Underground, gesungen von Moe Tucker.
Susanne Halblieb und George Lindt: Mein Lieblingslied. Lieblingslied Records / Krüger Verlag. Frankfurt am Main 2005. 251 Seiten. 30 Franken