Verschwundene Musiker: Wer hat Jeff Mangum gesehen?

Nr. 22 –

Zehn Jahre lang war Jeff Mangum verschwunden, nun tritt er mit seiner Band Neutral Milk Hotel an der Bad Bonn Kilbi auf. Eine Spurensuche nach Independent als Lebensgefühl. Und dazu eine Galerie verschwundener Musiker.

Ein seltenes Lebenszeichen aus dem Jahr 2000: Jeff Mangum mit Mikrofon am Meer, unterwegs an ein Musikfestival in Bulgarien.

Er taucht auf wie ein Geist. Ein hünenhafter Geist, ausgestattet mit einem Wollpulli, einer Schirmmütze, halblangen Haaren und einer akustischen Gitarre. Die Akkorde schlägt er hart an, und die Stimme erzählt von Wiedergeburten, von Flugzeugen über dem Meer, die Leichenasche abwerfen, und von siamesischen Zwillingen, die in Flaschen eingeschlossen sind und dennoch ein Stückchen Liebe finden werden, irgendwann im Jenseits. Hier, an diesem Abend im New Yorker Zuccotti Park, wo die Occupy-Wall-Street-AktivistInnen versammelt sind, singen die ZuschauerInnen all diese verklausulierten Erzählungen mit, ergänzen die Bänkellieder mit dem Nachsingen der abwesenden Bläsersätze und feiern ihren unwahrscheinlichen Propheten, als würde er nach diesem knapp vierzigminütigen Auftritt wieder für zehn Jahre untertauchen. «You guys have done a beautiful fucking thing», sagt er zum Abschied. Das Handykamerabild flackert, die glücklich wirkende Gestalt verschwindet.

Ja, er war es wirklich an diesem Spätherbstabend im Jahr 2011: Jeff Mangum, Sänger und Erfinder der Band Neutral Milk Hotel, der 1998 nach einer langen Tour einfach ausgestiegen ist. Ausgestiegen aus dem sozialen Leben – ohne Abschied von seinen Bandgefährten –, ausgestiegen aus dem Musikgeschäft und der Öffentlichkeit, die ihn zum Genie modellieren wollten, weil er eine Platte eingespielt hatte, die für die Anhängerschaft Kultstatus erreichte.

«In the Aeroplane Over the Sea» heisst diese Platte, die vor sechzehn Jahren erschienen ist. Eine Platte, die persönlicher nicht sein könnte. Eine Platte vor allem aber auch, bei der es bei aller Fokussierung auf die Person Jeff Mangum um alles geht: Es geht um Gemeinschaft und, so naiv dies klingt in Zeiten der Indie-Unverbindlichkeit, um den Glauben an die Kraft der Musik. «Wir hatten diese utopische Vision, dass wir alles mit Musik überwinden können», sagte Jeff Mangum in einem seiner seltenen Interviews. «Die Musik war nicht nur zur Unterhaltung da: Wir versuchten, eine Veränderung herbeizuführen, und wünschten, unsere Leben und die unserer Hörer zu transformieren.»

Das «wir», das sind neben Mangum seine Bandgefährten Julian Koster, Jeremy Barnes und Scott Spillane – und das Elephant-6-Kollektiv, dessen Ursprung sich in Ruston, Louisiana, findet. In diesem Kaff, abseits von allem, wuchs Jefferson Nigh Mangum auf. Anziehungspunkt für Auswärtige war das Louisiana Tech College, an dem sein Vater unterrichtete. «It’s super redneck», sagt Elephant-6-Mitglied Robert Schneider über das Städtchen, in dem die zugezogenen Lehrersöhne Aussenseiter blieben und die Collegeradiostation als einziger Zufluchtsort diente. Ende der achtziger Jahre war hier vieles offen: Die Plattensammlung des Senders konzentrierte sich trendfern auf Jam-Rock-Platten aus den Siebzigern und vermischte sich nach und nach mit den Do-it-yourself-Aufnahmen eines Daniel Johnston und anderen damaligen Obskuritäten. Neben der Gestaltung des Radioprogramms begannen Jeff Mangum und eine Handvoll Gleichgesinnte zu Beginn der neunziger Jahre, selber Musik zu fabrizieren.

Chaos und Ordnung

Sie schufen Bands mit merkwürdigen Namen, nahmen Kassetten auf und gründeten ein Label als Erkennungszeichen für all ihre DIY-Produkte: «The Elephant 6 Recording Co», abgekürzt Elephant 6. Das Logo war psychedelisch infiziert und zierte bald die Platten und Kassetten von Bands wie Synthetic Flying Machine (den späteren Olivia Tremor Control) und The Apples in Stereo.

Elephant 6 steht seit diesen Anfangstagen für zusammengebastelte und offenherzige, immer aber rätselhafte Musik, die aus der Zeit gefallen ist. Diese verschlaufte, abgeschottete Outsidermusik von Hinterwäldlern, die obsessiv Heimaufnahmen herstellten, stellte in den neunziger Jahren eine eigenartige Alternative zum zeitgenössischen Gitarren-Angst-Rock dar, den Nirvana und ihre Erben zelebrierten. MTV – damals auf dem Zenit – und die Majorlabels, die sich in den letzten Goldgräberzeiten befanden, waren denkbar fern. Näher standen Labels wie K Records und Merge und Bands wie Superchunk, allesamt Namen, die ihren Independent-Anspruch auch heute noch als Haltung wider das Unverfängliche einlösen. Das Unverfängliche, das einst unabhängige und heute tonangebende Onlineplattformen wie Pitchfork prägt und vor dem es auch auf den beigelegten CDs der «Spex» kein Entkommen zu geben scheint.

Outsidermusik

Zu den Elephant-6-Gründerzeiten schien nichts formatiert, nichts fixiert: Die Formationen, die Instrumente, die Songfragmente und die Mitglieder flottierten frei, die liebsten Auftrittsorte waren die Wohnzimmer von FreundInnen. Auch die Städte wechselten – Athens, New York City, Denver, wieder Athens. Robert Schneider liess sich beispielsweise in Denver nieder und baute ein Studio. Hier kondensierte er Jeff Mangums ausufernde Lo-Fi-Artefakte zu Songs, die Mangum in der Nacht und in Tagträumen herbeihalluziniert hatte und die auf seiner ersten «richtigen» Platte, «On Avery Island», verzerrt schimmern.

Der Lärm, die Stille, die Euphorie, die Niedergeschlagenheit, das Chaos und die Ordnung: All das ist bereits vorhanden – wie auch die Bläser, eingespielt von FreundInnen, die neben Mangums Stimme und der verzerrten Akustikgitarre zum Markenzeichen des Neutral-Milk-Hotel-Sounds werden sollten.

Und doch ist «On Avery Island», erschienen 1996 auf dem Label Merge Records, der späteren Heimat von Bands wie Arcade Fire (die ohne Neutral Milk Hotel nicht möglich wären), nur eine gern genommene Bonusplatte, fehlt ihr doch das Transzendente, das grosse Rätsel, das Jeff Mangums nächstes und bislang letztes Werk ausstrahlt.

«In the Aeroplane Over the Sea» erschien im Frühjahr 1998 und scheint aus einer vordigitalen Zeit zu stammen. College-Radios, Mundpropaganda und Fanzines begründeten den Ruhm, der seit 2005, als die Platte neu veröffentlicht wurde, durch die Onlinekanäle stetig angewachsen ist. «In the Aeroplane Over the Sea» ist zum Mythos geworden, weil in dieser Platte ein alter Independent-Geist bewahrt scheint, der nichts mit dem zu tun hat, was die Majorlabels unter dem beinahe sinnentleerten Begriff «Indie» heute umfassend kommerzialisiert haben.

Der späteren Legendenbildung hat es sicher nicht geschadet, dass Jeff Mangum, dieser vermeintliche Syd Barrett der Independent-Generation, damals schon seit Jahren verstummt war. Aber «In the Aeroplane Over the Sea» nimmt auch heute ab den ersten Tönen – den einfach geschrummelten Gitarrenakkorden von «The King of Carrot Flowers Pt. One» – ein. Mangum verkleidet seine Erzählungen über das Dasein auf Erden und im Jenseits in Chiffren, bekennt überdeutlich seine rätselhafte Liebe zu Jesus Christus und baut immer wieder Referenzen zu Anne Frank ein. Die MusikerInnen toben sich aus – mit singenden Sägen, kakofonischen Bläsern und Instrumenten aus dem Zirkusorchester –, die verzerrten Akustikgitarren und Schlagzeuge überschlagen sich. Der Produzent, wiederum Robert Schneider, schneidet die Solostücke von Mangum dazwischen und schafft auf dieser Aufnahme die Kunst, Momente des Überschwangs, der Offenherzigkeit und der Verzweiflung auf Tonband zu bannen, ein Tonband, auf dem auch das Zusammensein von FreundInnen immerzu mitschwingt, als habe man bereits gewusst, dass bald darauf alles ins Bröckeln geraten werde.

Denn nach der Veröffentlichung von «In the Aeroplane Over the Sea» und der anschliessenden Tour, in der die Band immer aufs Ganze ging, das Publikum begeisterte und durch ihre Unzähmbarkeit auch einschüchterte, passierte: nichts. Keine neuen Songs und, abgesehen von Aufnahmen, die Jeff Mangum an einem Volksmusikfestival in Bulgarien gemacht hat, auch kaum mehr Lebenszeichen des Sängers. «Have you seen Jeff Mangum?», lautete ein Treppenwitz der jüngeren Musikgeschichte.

Stoppen auf dem Höhepunkt

Die psychische Erschöpfung, die Enttäuschung, dass doch nicht alles mit Musik überwunden werden kann: Sie war zu gross für den damals 28-Jährigen. Wie auch die Angst, dass seine Musik an Intensität verlieren könnte. Mangum wünschte sich gemäss seiner damaligen Freundin lieber ein Dasein als Einsiedler, der ähnlich wie sein Held Robert Wyatt erst dann neue Musik veröffentlicht, wenn niemand mehr damit rechnet. So wurde den weiteren Bandmitgliedern allmählich klar, dass Neutral Milk Hotel auf dem Höhepunkt stoppte, und sie wandten sich neuen Projekten zu: Der Schlagzeuger Jeremy Barnes vertiefte die Osteuropafantasien mit seiner Band A Hawk and a Hacksaw und förderte Zach Condon, der als Beirut ähnliche Volksmusik imaginiert.

Ab 2008 nahm Jeff Mangum wieder Kontakt mit der Aussenwelt auf. Er spielte da und dort ein paar alte Lieder, gab 2010 wieder Solokonzerte, ehe im vergangenen Jahr die Wiedervereinigung von Neutral Milk Hotel verkündet wurde, die die Band in diesem Sommer auch nach Europa führt. Das Umfeld wird neu ein durchmedialisiertes sein – und an vielen Festivals, an denen Neutral Milk Hotel auftreten werden, ist «Indie» längst eine Grossindustrie geworden. Neutral Milk Hotel, die Videoaufzeichnungen von ihren Auftritten strikt ablehnen, werden die Exoten und gleichzeitig die Ikonen auf diesen Jahrmärkten sein.

Neutral Milk Hotel spielen am 31. Mai 2014 im Rahmen der ausverkauften Bad Bonn Kilbi in Düdingen ihr einziges Schweizer Konzert. http://kilbi.badbonn.ch

Literatur: Kim Cooper: «In the Aeroplane Over the Sea». Bloomsbury. New York 2005.

Richey Edwards’ Manie

1. Februar 1995. Richey James Edwards, Gitarrist und manischer Geist der Manic Street Preachers, verlässt sein Hotel in London und verschwindet. Tags darauf gibt der Bandmanager eine Vermisstmeldung auf. Als die Polizei die Spur aufnimmt, stellt sich heraus: Der 27-jährige Edwards ist offenbar nach Cardiff gefahren, wo er sich kurz in seiner Wohnung aufgehalten haben soll. Danach will ihn ein Fan an einem Busbahnhof in Südwales gesehen haben, später soll ihn ein Taxifahrer für 68 Pfund durch die Gegend kutschiert haben.

Am 14. Februar taucht sein verwaister Wagen an einer Tankstelle auf, gleich neben einer Brücke, von der immer wieder SelbstmörderInnen in den Tod springen. Edwards bleibt verschwunden. Die Manic Street Preachers beschliessen, einstweilen ohne ihren einzigen wahren Maniac weiterzumachen – und füllen bald die Stadien. Die Ermittlungen dauern an, ab und zu melden sich Fans, die ihr Idol gesehen haben wollen: in Goa, auf Fuerteventura und Lanzarote. Am 23. November 2008 wird Richey Edwards für tot erklärt.

Florian Keller

Syd Barretts Lachen

«Nobody knows where you are. How near or how far», singen Pink Floyd in «Shine on You Crazy Diamond», ihrer Vermisstmeldung an Syd Barrett. Die Legende will, dass Barrett bei den Aufnahmen 1975 ganz in der Nähe war: Er soll im Studio aufgetaucht sein, von der Band anfänglich nicht erkannt. – Barrett hatte die psychedelische Musik von Pink Floyd geprägt. Wegen LSD-Konsum und psychischen Problemen trennte sich die Band 1968 von ihrem Songwriter. Er kehrte, erst 22 Jahre jung, in die Pension seiner Mutter nach Cambridge zurück.

Immer wieder suchten Fans nach dem Abgetauchten. «I Know Where Syd Barrett Lives», heisst ein von Vogelgezwitscher unterlegter Song der Television Personalities, die mit ihm die Vorliebe fürs Kinderlied teilen. Derweil Pink Floyd im Rockstadion der Siebziger ihre Schallmauern errichteten, sind von Barrett noch zwei fragmentarische Soloalben erschienen, die in ihrer Brüchigkeit und Androgynität aktuell wirken wie je. Eines heisst «The Madcap Laughs» – das verrückte Lachen, das der 2006 verstorbene Barrett in die Popmusik gebracht hat, verschwindet nicht.

Kaspar Surber

Mark Hollis‘ Ausstieg

Verschwunden ist er nicht wirklich, bloss ausgestiegen, abgetaucht in den vorzeitigen Ruhestand. Dabei gab es einmal eine Zeit, als Mark Hollis umschwärmt wie ein Popstar war, in den ersten Jahren von Talk Talk, als die Band noch die synthetische Schwermut pflegte. «Dum Dum Girl» sang er damals und «Happiness Is Easy». Und er klang dabei, als habe er keine Ahnung, was das ist: Glück. Hitparade und Coverboy: Alles war ein einziges Missverständnis, und Mark Hollis begegnete dem Ruhm, indem er die kommerziellen Erwartungen fortan so radikal ins Leere laufen liess wie kein anderer Popsänger vor oder nach ihm.

Es war ein schleichender Rückzug, und er zeichnete sich früh ab. Schon 1986 spielten Talk Talk ihre letzten Konzerte, die Pausen zwischen den Platten wurden länger. Die Musik zerfaserte allmählich, wurde immer brüchiger. Nach seinem Soloalbum von 1998 ist Mark Hollis vollends verstummt. Der Frühpensionär ist jetzt 59 Jahre alt, Musik macht er nur noch für sich, wie man hört. Such a shame. 

Florian Keller