Jugend im Nationalsozialismus: Rebellion in der Unterwerfung
Warum liessen sich so viele Jungen und Mädchen von den Nazis einbinden? Was machte den Reiz der NS-Jugendorganisationen aus? Und warum haben sich trotzdem so viele verweigert?
«Macht Platz, ihr Alten!» Mit diesem Schlachtruf mobilisierte Gregor Strasser, der Führer der um Mitglieder buhlenden nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA), Ende der zwanziger Jahre die deutsche Jugend. Sein Fanal erinnert fatal an das heutige Alten-Bashing, denn damals wie heute lenkt die Debatte um die vermeintliche «Generationengerechtigkeit» davon ab, dass die unterschiedlichen sozialen Interessen quer durch die Generationen gehen. Weitere Vergleiche verbieten sich jedoch, weil 1933 noch fast ein Drittel der deutschen Bevölkerung, die nach beruflichen Perspektiven suchte, zwischen achtzehn und dreissig Jahre alt war. Der Nationalsozialismus versprach die Erfüllung dieser Hoffnungen. Mit der Mitgliedschaft in der Hitlerjugend waren ganz profan auch Aufstiegsoptionen verbunden, und umgekehrt konnte sich der nationalsozialistische Staat auf die Jugend stützen.
Das heisst allerdings nicht, dass nun statt der Frauen, wie die historische Zunft einmal meinte, «die Jugend» Hitler an die Macht gebracht und dort gehalten habe. Dem kanadischen Historiker Michael H. Kater, dessen anekdotenreiche Überblicksdarstellung «Hitler-Jugend» nun auf Deutsch vorliegt, geht es nicht um eine nachgetragene Anklage einer Jugend, die sich scheinbar willig in die nationalsozialistischen Jugendorganisationen eingliedern liess. Vielmehr bemüht er sich darum, die «kollektive Erfahrung» einer Alterskohorte, der der innere «Generationenzusammenhang» fehlte, nachzuzeichnen.
Hitler selbst hatte erst relativ spät die Notwendigkeit einer eigenständigen Jugendpolitik erkannt und Baldur von Schirach 1933 mit dem Ausbau der Hitlerjugend (HJ), die bis dahin höchstens als Unterstützung der SA angesehen wurde, beauftragt (1940 übernahm dann Artur Axmann das Amt). Mit der Überführung der Jugendbünde in die HJ und den politisch untergeordneten Bund Deutscher Mädchen (BDM) schwoll die Organisation von 100 000 Mitgliedern vor 1933 auf zwei Millionen Ende 1933 und schliesslich 5,4 Millionen 1936 an; zu einem Zeitpunkt also, als die bürgerlichen Jugendbünde endgültig aufgelöst wurden, die Mitgliedschaft in der HJ aber noch freiwillig war. Erst 1939 wurde der Dienst in der HJ zur Pflicht, und sie versammelte kurzzeitig 98,1 Prozent der deutschen Jugend unter ihrem Dach.
Diese Erfolgsgeschichte der HJ ist nicht nur auf äusseren Zwang zurückzuführen, sondern kann auch als die wenig heldenhafte Geschichte der sich auflösenden Weimarer Jugendbewegung gelesen werden. Gerade die romantisch orientierten, auf charismatische Führer ausgerichteten Bünde, die der Weimarer Republik mit ihrem sachlichen Impetus eher distanziert gegenübergestanden hatten, liessen sich leicht neutralisieren. Und auch grosse Teile der protestantischen Jugend fühlte sich, so Kater, «in hohem Masse zu Hitler und zur NS-Bewegung hingezogen». Die katholischen Jugendbünde, die sich durch das Konkordat geschützt glaubten, versuchten lange unter dem Deckmantel «unpolitischen» Verhaltens zu überleben.
Erfolgreich postulierte sich die HJ als Bollwerk gegenüber dem autoritären Elternhaus und der Schule. Dafür nahmen die Jugendlichen, die sich dem Zugriff der Eltern und Lehrer entziehen wollten, paradoxerweise die autoritären HJ-Strukturen in Kauf. Hin- und hergerissen zwischen dem Stolz, ernst genommen zu werden, und dem Widerwillen gegenüber dem stumpfsinnigen Dienst wusste die Jugend die neuen Freiräume auch für sich zu nutzen, der Umgang mit dem anderen Geschlecht beispielsweise wurde in der HJ lockerer genommen. Andererseits schlossen die nationalsozialistischen Erziehungsagenturen auch Kompromisse mit Elternhaus, Kirche und Schule. Die vollständige ideologische Vereinnahmung der Jugend scheiterte indessen schon daran, dass es der HJ an Vorbildern mangelte und ihr Einfluss beschränkt blieb.
Mit Kriegsbeginn stieg nicht nur die Konkurrenz zwischen HJ, Reichsarbeitsdienst und Wehrmacht um den Nachwuchs, sondern auch die Verdrossenheit in der Jugend ob des unendlich wiederholten Drills. Zwar wurde der «Ernstfall» im Feld durchaus noch als willkommene Abwechslung begrüsst, doch mit Fortgang des Krieges und den Ereignissen im Osten scheinen sich unter den jungen Leuten auch Zweifel eingeschlichen zu haben, was sich etwa daran ablesen lässt, dass sie sich eher von der Wehrmacht als von der Waffen-SS anwerben liessen.
Ein wenig kursorisch dagegen ist Katers Beschäftigung mit der weiblichen Jugend im BDM. Hervorzuheben ist, dass er dabei - leider nur bis in die achtziger Jahre - immerhin auch die feministische Forschung zur Kenntnis nimmt. Doch auch hier wäre weniger Spekulation über die Motivationen der Mädchen und Frauen mehr gewesen. Und wenn es um den «freizügigen Sex» der BDM-«Mädels» geht, scheint die männliche Projektion die Skepsis des Historikers gelegentlich zu überlagern.
In seiner abschliessenden Bewertung der Verantwortung der deutschen Jugend bleibt Kater ausgesprochen zurückhaltend. Mittäterschaft ja, die «moralische Schuld» hingegen, so seine Einschätzung, hing vom jeweiligen Alter der Akteure ab. Realistisch ist wohl sein Befund, dass keine alliierte Umerziehungsmassnahme so nachhaltig war wie der resozialisierende Effekt der amerikanischen Popkultur. Die aus dem Nationalsozialismus hervorgegangene «skeptische Generation» habe sich dem «traumatischen Wissen um die von einer totalitären Diktatur erzeugte Gewaltherrschaft» nicht gestellt. Die Debatte um deutsche Opfer im Bombenkrieg könnte eine späte und grotesk verzerrte Folge dieser Verdrängung sein.
Michael Kater: Hitler-Jugend. Primus-Verlag. Darmstadt 2005. 288 Seiten. Fr. 42.30