Irak: Gebannt von Bomben und Verboten

Nr. 24 –

Selbst der Satellitensender al-Dschasira ist auf Bilder von Nachrichtenagenturen angewiesen. Denn eigene Berichterstattung aus dem Irak ist auch für arabische Medien praktisch unmöglich geworden.

Während der letzten zehn Jahre fand die Geschichte des Nahen Ostens vor allem im Fernsehsender al-Dschasira statt. Nur der Satellitensender aus Katar hatte beispielsweise ReporterInnen im Irak, als die US-Armee 1998 ihren viertägigen Angriff Operation Desert Fox ausführte. Im Oktober 2001 filmten die Kameras von al-Dschasira das US-amerikanische Bombardement Afghanistans - sie waren die Einzigen im von den Taliban kontrollierten Land. Und als Bomben im März 2003 in Bagdad einschlugen, hatten alle Fernsehteams aus den USA und die meisten aus den europäischen Ländern die irakische Hauptstadt längst verlassen. Al-Dschasira war geblieben.

Im Irak wird immer noch Geschichte geschrieben. Doch al-Dschasira ist nicht mehr dort. Im letzten August schlossen die irakischen Behörden das Büro des Senders in Bagdad. Auch der grösste Konkurrent von al-Dschasira, al-Arabija, hat seine Arbeit im Irak drastisch reduziert, nachdem Aufständische im Oktober die Niederlassung des Senders angegriffen und fünf Angestellte getötet und vierzehn verletzt hatten. «Asch-Schark al-ausat» schliesslich, eine der beiden grossen panarabischen Tageszeitungen, schloss ihr Büro in Bagdad, weil Aufständische gedroht hatten, es in die Luft zu sprengen. Viele arabische JournalistInnen wurden ausserdem von nervösen US-Truppen gefangen genommen; einige wurden gar getötet.

«Anstiftung zum Mord»

Die arabischen Medien sehen sich von allen Seiten attackiert. Das wirkt sich weit über den Nahen Osten hinaus aus. Westliche ReporterInnen - unter ständiger Lebensgefahr - beschränken schon seit Monaten ihren Bewegungsraum auf befestigte und gesicherte Gelände. Nun ziehen sich auch arabische JournalistInnen zurück, gemeinsam mit arabischen ÜbersetzerInnen und lokalen Angestellten der internationalen Nachrichtenagenturen. Berichterstattung aus erster Hand wird so zunehmend unmöglich. Selbst die arabischen Medien werden immer mehr abhängig von indirekten Berichten und offiziellen Angaben aus Bagdad und Washington - und dies in einem der wichtigsten Konflikte unserer Zeit. Immer weniger können auch die arabischen Medien beurteilen, wie sich die Ereignisse auf das Leben gewöhnlicher IrakerInnen auswirken. «Wir kommen den Leiden, den Hoffnungen und Träumen der Menschen nicht mehr nahe», sagt Nabil Chatib, der Nachrichtendirektor von al-Arabija. «Wir wissen nicht mehr, was passiert, denn wir sind nun weit weg von der Realität.»

Anfang 2003 bemühte sich eine ganze Reihe neuer Satellitensender, rechtzeitig über den sich abzeichnenden Irakkonflikt zu berichten. Der robusteste, al-Arabija, versprach, zur moderaten Alternative zu al-Dschasira zu werden, das den Zorn praktisch aller arabischen Regierungen, aber auch der US-Behörden auf sich gezogen hatte. Doch al-Arabija landete bald in der gleichen Kontroverse, in die sich al-Dschasira verbissen hatte. Beide Sender verärgerten die US-Regierung, weil sie den Fokus auf den menschlichen Preis des Krieges legten und weil sie Botschaften von Aufständischen und Bilder von getöteten Soldaten brachten.

Sie verärgerten aber auch den von den USA im Juli 2003 eingesetzten regierenden Rat, der sofort gegen die Satellitensender vorging. Anfang September 2003 schloss er beide Sender für zwei Wochen von offiziellen Pressekonferenzen und Ministerien aus. Im November liess er das Bagdader Büro von al-Arabija für zwei Monate verriegeln, nachdem dieser ein Tonband gesendet hatte, in dem offenbar der gestürzte Diktator Saddam Hussein die IrakerInnen zum Widerstand gegen die Besatzung aufrief. Der Vorwurf an al-Arabija: «Anstiftung zu Mord». Im Januar 2004 verbannte der Rat al-Dschasira von offiziellen Anlässen, weil ein Talkshowgast behauptet hatte, dass Israel versuche, im Irak Einfluss zu nehmen.

Gleichzeitig wurden auch die arabischen JournalistInnen immer ungehaltener, dass die US-Regierung ihre Sicherheit nicht garantieren konnte. Im März 2004 verliessen über zwanzig von ihnen aus Protest eine Pressekonferenz des damaligen US-Aussenministers Colin Powell. Sie verlangten die Untersuchung des Todes zweier Angestellter von al-Arabija, die am Vortag von US-Truppen erschossen worden waren, als sie von einem Checkpoint wegfuhren, dem sich ein Auto mit hoher Geschwindigkeit näherte. (ZeugInnen vermuteten, dass die Soldaten geschossen hatten, weil sie ein Selbstmordattentat befürchteten. US-Vertreter sagten, dass die Journalisten irrtümlich getötet wurden und drückten ihr Bedauern aus.) Auch andere Vorfälle prägten sich in den Köpfen arabischer JournalistInnen ein. Am 8. April 2003 hatte eine US-Rakete das Büro von al-Dschasira in Bagdad zerstört und den Korrespondenten Tarek Aijub getötet. Im November 2003 wurden zwei Angestellte von al-Dschasira - unabhängig voneinander - verhaftet und ins Gefängnis Abu Ghraib gebracht. Einer der beiden, Salah Hassan, hatte gerade die Folgen eines Bombenattentats gefilmt. Die eintreffenden Truppen vermuteten wohl, er sei in das Attentat verwickelt. Hassan sagt, er sei geschlagen und gezwungen worden, stundenlang nackt in der Kälte zu stehen und danach einen Overall anzuziehen, der mit Erbrochenem bedeckt war. Beide Angestellten von al-Dschasira wurden mangels Beweisen wieder freigelassen. Das Pentagon wollte das nicht kommentieren.

Im Juni 2004 verschlimmerte sich die Lage der arabischen ReporterInnen im Irak noch. Die provisorische Behörde der Besatzungsmächte und der regierende Rat setzten eine Übergangsregierung ein, geführt von Ijad Allawi. Diese Regierung installierte einen so genannten hohen Medienausschuss mit dem Auftrag, «Rote Linien» zu ziehen und JournalistInnen und Medien zu bestrafen, die dagegen verstiessen. Als Erstes verbot dieser Ausschuss al-Dschasira für einen Monat, weil es zu Gewalt und Hass anstifte. Im nächsten Monat gab die Übergangsregierung bekannt, dass al-Dschasira für unbestimmte Zeit aus dem Irak verbannt werde. Heute setzt der Sender seine Berichte über den Irak aus Bildern von Agenturen wie Reuters und allen Informationsschnipseln zusammen, die er aus der Ferne sammeln kann. «Über den Irak zu berichten, ist für uns sehr schwierig», sagt Al-Dschasira-Sprecher Dschihad Ballut.

«Kollaborateurin! Kollaborateurin!»

Die Vorwürfe gegen al-Dschasira sind nicht neu. US-VertreterInnen haben den Sender - und in geringerem Masse auch al-Arabija - wiederholt beschuldigt, arabische Leidenschaft gegen den Westen anzustacheln, weil er etwa auf die in den Konflikten um Israel und den Irak angerichteten Blutbäder fokussiere. «Al-Dschasira scheint mit zwei Geschichten zu operieren, die das gleiche Thema haben: arabische Demütigung», sagt Norman Patiz, der beim US-Broadcasting

Board of Governors arbeitet, das das staatliche Voice of America und den neuen arabischsprachigen Satellitensender al-Hurra betreibt. Kritisiert wird auch, dass al-Dschasira Aufständische verherrliche und die US-Truppen im Irak in Gefahr bringe, weil es die arabische öffentliche Meinung gegen die US-Politik vergifte.

Darauf wird entgegnet, dass al-Dschasira und al-Arabija die Perspektive ihrer ZuschauerInnen widerspiegeln - nicht weniger voreingenommen als viele US-amerikanische und europäische Stationen. «Journalisten auf beiden Seiten treffen redaktionelle Entscheide auf der Grundlage ihrer Kultur», sagt Hugh Miles, ein Arabist aus Oxford und Autor eines jüngst erschienenen Buches über al-Dschasira. Miles bemerkt, dass das Programm des Senders eine Vielzahl von Perspektiven enthalte, darunter auch viele, die vorher in der arabischen Welt nicht zu vernehmen waren. Al-Dschasira interviewt beispielsweise regelmässig israelische RegierungsvertreterInnen. Und seine ReporterInnen scheuen sich nicht, arabische Regierungen zur Rechenschaft zu ziehen. Viele AraberInnen interpretierten die Schliessung von al-Dschasira im Irak als Beweis, dass die USA entgegen der offiziellen Verlautbarungen wenig Interesse an Demokratie im Nahen Osten haben - als Beweis für amerikanische Heuchelei.

Kurz nach dem Bann gegen al-Dschasira begannen irakische Behörden den Druck gegen nicht «eingebettete» JournalistInnen zu erhöhen, die über die Auseinandersetzungen zwischen Aufständischen und den ausländischen Truppen berichten. Am 15. August 2004, mitten im Konflikt um den Schrein des Imam Ali in Nadschaf, befahl der dortige Polizeichef den JournalistInnen, die Stadt zu verlassen. Polizisten suchten danach das Bahr Nadschaf Hotel auf, in dem die meisten nicht «eingebetteten» JournalistInnen wohnten, und drohten ihnen mit Haft oder gar Erschiessung, sollten sie in Nadschaf bleiben. Am 25. August machten sie diese Drohung wahr und stürmten das Bahr Nadschaf, schossen um sich und verhafteten sechzig JournalistInnen. Alle wurden später ohne Anklage wieder freigelassen. Der Polizeichef sagte schliesslich gegenüber JournalistInnen, er habe das Gefühl, dass sie die Aufständischen ermutigten, indem sie diese als Helden, die die Nation aufbauen, darstellten.

Danach, im Vorfeld der Belagerung von Falludscha im November, warnte der hohe Medienausschuss die JournalistInnen, sie sollten genug Platz für die Position der irakischen Regierung einräumen, sonst müssten sie nicht näher bezeichnete gesetzliche Konsequenzen gewärtigen. Während der Belagerung hielten US-Truppen arabische Reporter-Innen fest, manche für die ganze Dauer der Schlacht. Laut Steve Boylan, einem US-Militärsprecher, seien sie jedoch nicht wegen ihrer Arbeit festgenommen worden. «Sie wurden bei Razzien verhaftet, als sie die Ausgangssperre missachteten oder sich bei kämpfenden Gruppen befanden», sagt er.

Auch die Aufständischen erhöhten den Druck auf die JournalistInnen. Am 30. Oktober 2004 explodierte eine Autobombe vor dem Gebäude von al-Arabija in Bagdad und zerstörte das Erdgeschoss. Fünf Angestellte starben. Schon Minuten nach der Explosion rief Abdel Rahman ar-Raschid, der Generaldirektor von al-Arabija, Nadschwa Kassem, die al-Arabjia-Frau in Bagdad, an und fragte sie nach Sendemöglichkeiten. Kurz darauf berichtete Kassem live.

Ar-Raschid, früher Redaktor bei «asch-Schark al-ausat», übernahm den Job an der Spitze von al-Arabija Anfang 2004. Als ausgesprochener Kritiker des islamischen Fundamentalismus glaubt er, dass Terroristen den Islam «beschmutzt und sein Image befleckt» haben. Genauso kritisch ist er gegenüber den arabischen Medien, vor allem al-Dschasira. 2003 beschuldigte er den Sender in einer Kolumne, modische Erzählungen als «Anklang an die Abenteuer von Sindbad» zu bringen und dabei Nachrichten über den Irak zu unterschlagen, die nicht in sein Konzept passten. Dass ar-Raschid die Führung von al-Arabija übernahm, löste in der arabischen Welt Kontroversen aus. Seither sei der Sender der US- und der irakischen Regierung allzu wohlgesinnt, heisst es etwa. Der Entscheid von al-Arabija, so kurz nach dem Anschlag auf Sendung zu gehen, war eine Botschaft an die Angreifer: Ihr werdet uns nicht zum Schweigen bringen. Dennoch hat der Sender seine Berichterstattung drastisch reduziert. Die Zahl der Angestellten in Bagdad, einstmals sechzig, schrumpfte auf fünfzehn. Sie arbeiten in zwei Räumen eines bunkerartigen Hotels.

Der Anschlag gegen al-Arabija war Teil einer Welle von Drohungen und Angriffen gegen arabische Medien. Aufständische haben Berichten zufolge in Briefen an den Chefredaktor von «as-Saman», der grössten irakischen Tageszeitung, gedroht, ihn «in sehr hässlicher Weise» umzubringen. Ein anderes Blatt, «al-Itidschah al-achar», erhielt Drohanrufe, nachdem es einen Comic gedruckt hatte, in dem Saddam Hussein den schiitischen Kleriker Muktada as-Sadr zur Aufgabe aufrief. «Nur zu», redete ihm Hussein darin zu, «sie kontrollieren ja bloss dein Haar und deine Zähne.» Bei der Tageszeitung «al-Mada» landete ein Blindgänger auf dem Dach. Und Dina Mohammed Hassan, Reporterin beim kurdischen Fernsehsender al-Hurrija, wurde vor ihrer Wohnung in Bagdad von einem Mann niedergeschossen, der «Kollaborateurin! Kollaborateurin!» schrie.

Die Attacke von Aufständischen und das Feuer der US-Truppen machen den Irakkonflikt vor allem für arabische Medienschaffende tödlich. 18 von 23 im Irak im letzten Jahr getöteten JournalistInnen waren AraberInnen oder KurdInnen.

Nachdruck aus «Columbia Journalism Review», March/April 2005, © 2005 by Columbia Journalism Review.