Umweltschutz und Wirtschaft: Immer schön rückwärts
Die nächste Attacke auf den Umweltschutz ist im Anrollen - und die Schweiz ist dabei, ihren internationalen Spitzenplatz zu verlieren.
Die Schweizer Wirtschaft dümpelt vor sich hin - und daran wird sich so schnell auch nichts ändern, sagen die mit der Lizenz, Prognosen zu verkünden. Wer oder was ist schuld an der Stagnation? Erklärungen müssen gefunden werden, und wo sie nicht gefunden werden, müssen sie konstruiert werden. Eine lautet: Der Umweltschutz - etwa in Form des Verbandsbeschwerderechts, in Form von Bauvorschriften oder von Vorbehalten bei Umzonungen wie im Fall Galmiz - blockiere die Schweizer Wirtschaft. Genau dies war vergangenen Dienstag das Thema einer Veranstaltung und Podiumsdiskussion in Bern. Die OrganisatorInnen - die Stiftung Praktischer Umweltschutz Schweiz (Pusch) und die Schweizerische Vereinigung für ökologisch bewusste Unternehmensführung (Öbu) - legten dabei den Fokus auf das wirtschaftliche Potenzial des Umweltschutzes. Und dieses ist beachtlich. «Der Umweltschutz wird in den letzten Jahren oft für die schleppende wirtschaftliche Entwicklung verantwortlich gemacht. Dies entspricht jedoch nicht der Realität, im Gegenteil», sagt Ion Karagounis von Pusch.
Neun zu eins
Durch Umweltschutz - ob staatlich reguliert oder freiwillig - können Investitionen ausgelöst und Innovation vorangetrieben werden; es entstehen Arbeitsplätze, und Kosten werden vermieden. Das Programm «Energie Schweiz» von Bund, Kantonen und Gemeinden kann es belegen: Jeder in erneuerbare Energien und Energieeffizienz eingesetzte Franken löste 2003 Investitionen in der Höhe des neunfachen Betrages aus. Die Zahlen für das Jahr 2004 werden zwar erst Ende Juni veröffentlicht, nach einer provisorischen Auswertung zeichnet sich jedoch eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr ab.
Doch was gut ist für die Umwelt und erst noch Arbeitsplätze schafft und damit die Arbeitslosenversicherung entlastet, muss noch lange nicht gut sein für Schweizer PolitikerInnen. Im Rahmen des Entlastungsprogramms 2003 beschlossen diese eine Budgetreduktion für «EnergieSchweiz»: Das Budget wurde um über zwanzig Prozent auf 45 Millionen Franken gekürzt.
Der wirtschaftliche Wert der Umweltschutzmassnahmen von Privaten und Unternehmen in der Schweiz beträgt laut dem Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) fast sieben Milliarden Franken. Damit verbunden sind über 60 000 Vollzeitstellen zum Beispiel in der Abwasserreinigung, Entsorgung, im Recycling oder Grosshandel mit Altmaterialien. Zusätzlich exportiert die Schweiz Umwelttechnologie in Milliardenhöhe ins Ausland. Laut Arthur Mohr vom Buwal liegen die Kosten des Umweltschutzes im internationalen Durchschnitt. Und: «Ein signifikanter Zusammenhang zwischen Umweltschutzkosten und Wettbewerbsfähigkeit ist nicht zu erkennen.» Die Wirtschaft müsse ihre Chancen nützen. Die Bekämpfung der Umweltpolitik entspreche nicht unternehmerischem Verhalten.
In der umweltpolitischen Debatte taucht bisweilen die Behauptung auf, die Umweltschutzmassnahmen seien vor allem für die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) eine Belastung. Das Centre for Energy Policy and Economics (Cepe) der ETH Zürich ist dieser Frage am aktuellen Beispiel der CO2-Abgabe nachgegangen und zum Schluss gekommen, dass die KMU durch die CO2-Abgabe nicht stärker belastet werden als Grossunternehmen. Auch das Buwal befasst sich mit den Auswirkungen der umweltpolitischen Massnahmen auf die KMU und untersucht in einer ersten Phase die Textil- und Baubranche. Erste Resultate sollen nächstes Jahr vorliegen.
Für den Umweltschutz gibt es nicht eine einzige Patentlösung. Es braucht Vorschriften, Steuern, freiwillige Massnahmen, wirtschaftliche Anreize und eine klare politische Linie, lautet das Fazit der Tagung. Thomas Held, Direktor des wirtschaftsnahen Think Tanks Avenir Suisse und Podiumsteilnehmer, sieht das anders: «Die grossen Fortschritte bei den Umweltbedingungen sind durch technologischen Fortschritt entstanden und nicht durch Vorschriften.» Es herrsche ein regelrechter Regulierungswahn und eine Grenzwertmanie. Es gebe immer mehr Luftgrenzwerte, die Luftdiskussion sei stark idealisiert. «Man hat Moralspezialisten kreiert, die etwa der Frage nachgehen, ob nun BP ökologischer ist als Shell. Das sind religiöse Fragen. Und die Unternehmen müssen dieses Moraltheater mitmachen, auch wenn sie insgeheim darüber lachen.»
Appenzell statt Schweiz
«Schluss mit der Verhinderungspolitik - Mehr Wachstum für die Schweiz!» heisst die eidgenössische Volksinitiative, die die FDP im November 2004 lancierte. Laut dem «SonntagsBlick» vom 22. Mai bezahlt die FDP ihren Jungmitgliedern drei Franken für jede gesammelte Stimme.
Auch der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse unterstützt das Vorhaben. Die Volksinitiative hat zum Ziel, das Verbandsbeschwerderecht in Umwelt- und Raumplanungsangelegenheiten, die auf Entscheiden des Volkes und der Legislative beruhen, auszuschliessen. Die Internetseite www.wachstum.ch vom Komitee Pro Wachstum sagt, warum: «Die Zunahme der Regulationen, aber auch die zahlreichen Rekursmöglichkeiten, die die Eigentümer in ihren Eigentumsrechten beschneiden, verunsichern Investoren zunehmend. Zu hoch stufen sie mittlerweile - und dies zu Recht - die Risiken für die Realisierung ihrer Projekte ein.» Das Instrument des Verbandsbeschwerderechts spiele eine zentrale Rolle, da es missbraucht und schon lange nicht mehr im Sinne seiner ursprünglichen Idee eingesetzt werde. Die InitiantInnen berufen sich dabei auch auf «eine von der Universität St. Gallen veröffentlichte repräsentative Studie: 90 Prozent der befragten KMU fordern eine Reformierung des Verbandsbeschwerderechts und 62 Prozent sogar dessen Abschaffung». Bruno Schneller von Pro Wachstum behauptet, dass die Untersuchung aus der Küche von Franz Jaeger, Ökonomieprofessor an der Universität St. Gallen, stammt. Doch Schneller liegt falsch: Tatsächlich wurde die Studie «Wo drückt die KMU der Schuh?» von der Handelskammer St. Gallen - Appenzell herausgegeben, zwei Ökonomen vom KMU-Institut der Universität St. Gallen waren jedoch als Koautoren beteiligt. Immerhin stimmt, dass die Studie repräsentativ ist, «nämlich für die Kantone
St. Gallen und beide Appenzell, wo die Untersuchung durchgeführt wurde», sagt Professor Thierry Volery vom KMU-Institut. «Natürlich ist diese Studie nicht repräsentativ für die Schweiz.»
Jaegers Milliarden
Das Verbandsbeschwerderecht - beziehungsweise seine Beschränkung oder gar Abschaffung - war in den vergangenen Jahren immer wieder Gegenstand zahlreicher parlamentarischer Vorstösse auf kantonaler und nationaler Ebene. Im Moment beispielsweise befasst sich die ständerätliche Rechtskommission mit einer Motion des SVP-Ständerats Hans Hofmann. Die «Reformvorschläge» sollen noch Ende Juni an den Bundesrat und dann ins Parlament gelangen.
Zusammen mit zehn anderen Umweltorganisationen wie Schweizer Heimatschutz, WWF, Pro Natura oder VCS wehrt sich auch Pusch gegen die Angriffe auf das Verbandsbeschwerderecht. Auf der Internetseite www.verbandsbeschwerderecht.ch präsentieren die Organisationen Zahlen, Fakten und Argumente für die Beibehaltung des Verbandsbeschwerderechts. So gab es im vergangenen Jahr 208 abgeschlossene Verfahren. Bei fast achtzig Prozent der Fälle waren tatsächlich Korrekturen notwendig. Über sechzig Prozent der Fälle wurden rasch und ohne Verzögerung auf Gemeindeebene beigelegt. Nur gerade acht Fälle wurden vor Bundesgericht abgeschlossen und sechs davon gutgeheissen.
Laut Franz Jaeger sind in der Schweiz 20 bis 25 Milliarden Franken durch Rechtsmittelverfahren blockiert. «Niemand weiss, woher Jaeger diese Zahlen hat. Sie sind absurd», sagt Philipp Maurer vom Schweizer Heimatschutz. Er hat die Rechtsfälle der elf Umweltorganisationen ausgewertet. «Vielleicht meint er die Neat. Aber nur weil wir Einsprachen erhoben haben, kann man doch nicht sagen, wir blockieren zwanzig Milliarden Franken.» Das Problem liegt laut Maurer eindeutig auf der politischen Ebene. Auch das Bundesamt für Statistik wartet mit Zahlen auf: 2003 wurden 1,6 Prozent der geplanten Bauvorhaben im Wert von 725 Millionen Franken nicht realisiert. Nur ein Teil dieser nicht realisierten Bauvorhaben kam durch Verbandsbeschwerden zu Fall. «Angesichts von jährlich 100 000 Baubewilligungen und äusserst reger Bautätigkeit auch ausserhalb der Bauzone sind 104 pendente Beschwerden und Rekurse eine bescheidene Zahl», sagen die Umweltorganisationen.
Maurer bringt es auf den Punkt: «Die Bauwirtschaft trägt etwa zehn Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) von über 422 Milliarden Franken bei. Und vom BIP kann höchstens ein halbes Promille mit dem Verbandsbeschwerderecht in Verbindung gebracht werden. Das Verbandsbeschwerderecht ist also nicht relevant für das Wachstum der Schweizer Wirtschaft.» Relevant ist laut Maurer hingegen die Vorreiterrolle der Schweiz im Umweltschutz. «Wir exportieren Umwelttechnologien, wir nehmen international eine Vorbildfunktion ein. Diesen Spitzenplatz zu verlieren: Das wäre schlecht für die Schweizer Wirtschaft.»