Verbandsbeschwerderecht: Wer ist hier der Goliath?
Mitte-Rechts möchte wieder einmal das Verbandsbeschwerderecht einschränken, eines der wichtigsten Instrumente der Schweizer Umweltpolitik.
Im Juni nahmen fast siebzig Prozent der Stimmenden das Stromgesetz an. Der Abstimmungskampf drehte sich irgendwann nur noch um die Grundsatzfrage: Klimaschutz Ja oder Nein? Darum stimmten auch viele Ja, obwohl sie Teile der überladenen Vorlage ablehnten – etwa die fragwürdige Liste der sechzehn Wasserkraftprojekte, die bevorzugt gebaut werden sollen (siehe WOZ Nr. 19/24). Bei einem Nein, so fürchteten viele Linke, drohten fossile Kraftwerke, neue AKWs und Angriffe auf das Verbandsbeschwerderecht der Umweltverbände.
Inzwischen ist klar: Ob Ja oder Nein – Bundesrat Albert Rösti und die Umweltkommission des Ständerats (Urek-S) treiben ihre Angriffe auf den Umweltschutz ohnehin voran, genauso wie ihre Atompläne. Letzte Woche liess Radio SRF den Mitte-Ständerat Beat Rieder, der die Urek-S dominiert, zu Wort kommen. Das Verbandsbeschwerderecht solle für die sechzehn Wasserkraftprojekte nicht gelten, fordert der Walliser. Zusammen mit FDP-Präsident Thierry Burkart will er dies in den sogenannten Beschleunigungserlass schreiben, der die Verfahren für Wasser-, Wind- und Solarkraftwerke verkürzen soll. Die Urek-S tagt dazu am Erscheinungstag dieser WOZ.
Das Verbandsbeschwerderecht ist ein Kernstück der Schweizer Umweltgesetzgebung. Es ist kein Vetorecht, sondern berechtigt Umweltorganisationen lediglich dazu, gerichtlich überprüfen zu lassen, ob bei grossen Bauprojekten die Gesetze eingehalten werden. Wenn eine Beschwerde erfolgreich ist, bedeutet das also: Das Projekt war nicht gesetzeskonform. Die Erfolgsquote der Beschwerden ist über die Jahrzehnte konstant hoch geblieben. Was auch zeigt, dass die Umweltorganisationen das Instrument überlegt anwenden.
Wirtschaftsliberalen Rechten war das Beschwerderecht schon immer lästig. In den nuller Jahren lancierte die Zürcher FDP eine gesamtschweizerische Volksinitiative, weil sie sich über den Widerstand gegen das geplante neue Hardturmstadion ärgerte. Die Initiative hätte das Recht faktisch abgeschafft. Sie scheiterte 2008 mit 66 Prozent Nein-Anteil.
Diesen Frühling hat der Nationalrat das Verbandsbeschwerderecht bereits eingeschränkt – für «kleinere» Wohnbauten (unter 400 Quadratmeter Geschossfläche) in der Bauzone. Der Ständerat wird ihm folgen. Der Titel des Vorstosses, lanciert von Rieders Walliser Mitte-Mitstreiter Philipp Matthias Bregy, ist typisch für die irreführende Rhetorik von Mitte-Rechts: «Kein ‹David gegen Goliath› beim Verbandsbeschwerderecht». Die Umweltorganisationen als finanzmächtige Goliaths gegen den armen kleinen Häuslebauer David – als ginge es um den ungleichen Kampf zweier eigennütziger Parteien und nicht um die Frage, ob beim Hausbau geltendes Recht eingehalten wird.
Mit derselben, an Regimes mit «gelenkter Demokratie» erinnernden Verachtung wie Bregy spricht auch Beat Rieder über die Umweltverbände. Die Wasserkraftprojekte, um die es geht, sind jene, auf die sich Kantone, Stromwirtschaft und einige Umweltverbände noch unter SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga 2021 am viel zitierten «Runden Tisch Wasserkraft» einigten. Doch was die Rechten, inklusive NZZ, über den runden Tisch behaupten, ist Geschichtsklitterung: Das Schlussdokument war kein Freipass für die Projekte, sondern lediglich eine Absichtserklärung.
Darin hiess es: «Mit dieser Liste werden weder die projektspezifischen ordentlichen Bewilligungsverfahren präjudiziert, noch werden die projektspezifischen Verbandsbeschwerderechte tangiert.» Der Bundesrat betonte im Argumentarium zum Stromgesetz: «Die Beschwerdemöglichkeiten von Privaten und Verbänden bleiben bestehen.» So kurz nach der Abstimmung soll das nicht mehr gelten?
Nun spricht auch der SP-Ständerat Simon Stocker, neu in der Urek, in vorauseilendem Gehorsam schon davon, das Verbandsbeschwerderecht einschränken zu wollen – bevor die Debatte in der Kommission überhaupt begonnen hat. Das verheisst nichts Gutes.