Umweltrecht : Bauen, was der Teufel verboten hat

Nr. 42 –

Immer neue Attacken auf Instrumente wie das Verbandsbeschwerderecht, die sich seit Jahrzehnten bewährt haben: Die Umweltkommission des Ständerats macht knallharte rechte Machtpolitik.

Blick auf den Aletschwald und Aletschgletscher
Gäbe es das Beschwerderecht der Umweltverbände nicht, würde heute eine Wasserleitung quer durch den Aletschwald führen. Foto: Harry Laub, Keystone

Es gibt Aussichten in der Schweiz, die machen auch Weitgereiste sprachlos. Etwa beim Erreichen der Krete ob der Riederalp im Wallis: die Drei- und Viertausender, der Aletschgletscher – auch geschrumpft noch beeindruckend –, davor der Aletschwald mit seinen dunklen Arven und hellen Lärchen. Oder auf der Zugfahrt von Bern nach Genf, wenn kurz vor Lausanne plötzlich der Blick über die Rebberge des Lavaux und den Genfersee in seiner ganzen Länge frei wird. Oder in Graubünden, in der Seilbahn über den Rhäzünser Auen schwebend, wo der Hinterrhein zwischen Auenwäldern und breiten Kiesbänken frei fliessen kann.

Es ist nicht selbstverständlich, dass es diese Aussichten noch gibt: In den siebziger Jahren war eine grosse Wasserleitung durch den Aletschwald geplant. Die Baustelle hätte das Gebiet schwer beeinträchtigt. Im Lavaux drohten Bauarbeiten zur Stabilisierung des Hangs die Rebberglandschaft zu zerstören. Und die Autobahn A13 sollte ursprünglich direkt durch die Rhäzünser Auen führen.

Zurück in die Sechziger

In allen drei Fällen wehrte sich Pro Natura gegen die Bauprojekte. Möglich war das, weil die Umweltverbände als «Anwälte der Natur» vom Verbandsbeschwerderecht (VBR) Gebrauch machen können. Doch dieses Recht ist unter Druck wie noch nie.

Letzte Woche hat die Umweltkommission des Ständerats (Urek-S) den neusten Angriff gestartet. «Das R in Urek steht für Raumplanung», sagt Raimund Rodewald, Geschäftsleiter der Stiftung Landschaftsschutz Schweiz. «Aber die Kommission will uns in die frühen sechziger Jahre zurückkatapultieren – in eine Zeit, als es weder Raumplanungsgesetz noch Verbandsbeschwerde gab.»

Verbandsbeschwerderecht

Das Recht der Umweltverbände auf Beschwerdeführung kommt im Zusammenhang mit dem Natur- und Heimatschutzgesetz (seit 1966) und dem Umweltschutzgesetz (seit 1983) zur Anwendung. Es gilt für Entscheide, die Auswirkungen auf den Natur- und Heimatschutz haben, sowie bei grossen Bauvorhaben mit Umweltverträglichkeitsprüfung.

Mit dem Verbandsbeschwerderecht können Umweltverbände gerichtlich überprüfen lassen, ob die geltenden Gesetze eingehalten werden. Ausüben dürfen es nur Organisationen, die «rein ideelle Zwecke» verfolgen, gesamtschweizerisch tätig sind und sich seit mindestens zehn Jahren mit dem Fachgebiet beschäftigen, um das es in der Beschwerde geht. In den letzten Jahrzehnten hatten die Hälfte bis zwei Drittel der Beschwerden Erfolg. Damit liegt die Erfolgsquote laut Anwalt Michael Bütler etwa dreimal so hoch wie bei Beschwerden von Privaten.

Mit neun zu drei Stimmen befürwortet die Urek-S eine Standesinitiative des Kantons St. Gallen, die das VBR bei Projekten zur Produktion von erneuerbaren Energien faktisch aushebeln will. Ausserdem fordert die Kommission eine Änderung des Energiegesetzes. Es geht um die sechzehn Wasserkraftprojekte, die für Bundesrat und Parlament Priorität haben – und die als Anhang im Stromgesetz stehen, das die Stimmenden im Juni angenommen haben. «Die Beschwerdemöglichkeiten von Privaten und Verbänden bleiben bestehen», betonte der Bundesrat im Argumentarium zur Abstimmung. Laut Urek-S soll das nicht mehr gelten: Sie will das VBR bei diesen sechzehn Projekten abschaffen.

Warum ist dieses Recht so zentral für die Schweizer Umweltgesetzgebung? Das Problem heisst Vollzugsdefizit. Die Schweiz hat eine Reihe guter Gesetze zum Schutz der Umwelt – doch sie werden nicht immer beachtet. Nur schon deshalb, weil in vielen kommunalen und kantonalen Parlamenten die Bauwirtschaft grossen Einfluss hat.

Das VBR ist ein sehr erfolgreiches Instrument (vgl. «Verbandsbeschwerderecht»). Das bedeutet: Viele der beanstandeten Vorhaben waren nicht rechtskonform. Die Rechtsbürgerlichen versuchen jedoch seit langem, davon abzulenken und stattdessen die Umweltverbände als zwielichtige Verhinderer darzustellen. Mit Erfolg: In der Herbstsession hat das Parlament das VBR bei Wohnbauten eingeschränkt (siehe WOZ Nr. 35/24).

«Nicht jede Einsprache im Rahmen des Verbandsbeschwerderechts führt zu einer Verzögerung», betont der Zürcher Anwalt und Umweltrechtsspezialist Michael Bütler, «sondern oft zur Verbesserung eines Projekts, weil die Fachleute in den Umweltverbänden über ein wertvolles Fachwissen verfügen.» Das Verbandsbeschwerderecht zeitige auch eine Wirkung, wenn es nicht ergriffen werde: «Wenn Projektanten mit Einsprachen rechnen müssen, planen sie sorgfältiger und achten eher darauf, die Gesetze zu berücksichtigen.» Ohne VBR, so Bütler, wäre die Gefahr grösser, dass Umweltrecht verletzt werde – und dass keine umfassende Interessensabwägung zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen stattfinde, wie sie die Bundesverfassung vorsehe. Das Vorgehen der ständerätlichen Umweltkommission macht Bütler grosse Sorgen: «Da werden umweltrechtliche Errungenschaften attackiert, die seit den sechziger Jahren aufgebaut wurden.»

Raimund Rodewald pflichtet ihm bei: «Die Beschränkung, die die Urek-S will, ist willkürlich, verfassungswidrig und verletzt internationales Recht.» Er verweist auf die Aarhus-Konvention, die die Schweiz ratifiziert hat. Diese verlangt, dass die Öffentlichkeit sich an umweltrelevanten Entscheiden beteiligen darf und Umweltangelegenheiten gerichtlich überprüft werden können. «Die Aussage hinter dem Vorhaben der Urek-S ist: Es soll in diesem Bereich keine Justiz geben.» Er erinnert daran, dass gerade bei Energieprojekten in den Alpen oft gar keine Nachbarn oder Grundeigentümerinnen da sind, die einspracheberechtigt sind. Ohne Umweltverbände könnte einzig noch das Bundesamt für Umwelt Beschwerde führen – doch dieses steht unter Druck von SVP-Bundesrat Albert Rösti.

Männerpolitik

Michael Bütler kritisiert nicht nur die Urek-S, sondern das ganze Parlament. Es masse sich zu viel an: «Es spurt im Energiebereich Bauprojekte so vor, dass man sie kaum noch ablehnen kann. Das ist nicht seine Aufgabe.» Das Argument, für den Klimaschutz sei eben Tempo nötig, hält Bütler für vorgeschoben: «Beim Ausbau der erneuerbaren Energien pressiert es extrem – auf Kosten von Landschaft, Natur, Gewässern und rechtsstaatlichen Institutionen. Beim Rest des Klimaschutzes eilt es offenbar überhaupt nicht – angesichts der verbindlichen Klimaziele äusserst fragwürdig.»

Die Urek-S hat letzte Woche noch weitere Beschlüsse gefasst. Sie beantragt auch, den von einigen Umweltverbänden heftig kritisierten und bisher befristeten Solarexpress (siehe WOZ Nr. 19/24) zu verlängern. Und sie plant weitere «Vereinfachungen» für den Bau von Energieanlagen, etwa bei den sogenannten Ersatzmassnahmen: Bei grossen staatlichen Bauprojekten sind sie vorgeschrieben, um zerstörte Lebensräume zu kompensieren. «Neu soll es möglich sein, diese Aufgabe an die Kantone zu übertragen», schreibt die Urek-S. Auch das sei ein Wortbruch, sagt Rodewald: «Bei der Ausarbeitung der sechzehn Wasserkraftprojekte wurde hoch und heilig versprochen, die Ersatzmassnahmen seien wichtig. Nun sollen sie die Kantone auf die lange Bank schieben können.» Die Urek-S betreibe eine machiavellistische, brutale Machtpolitik. Eine Männerpolitik auch: Nur gerade zwei der dreizehn Mitglieder sind Frauen, nur drei sind Linke.

Neben Präsident Beat Rieder (Mitte) und Vize Thierry Burkart (FDP) sitzen weitere rechte Hardliner wie Marco Chiesa (SVP) und Benedikt Würth (Mitte) in der Kommission. Gemäss Medienmitteilung fielen fast alle Entscheide der letztwöchigen Sitzungen mit nur drei Nein-Stimmen: alle gegen Simon Stocker, Mathilde Crevoisier (beide SP) und Céline Vara (Grüne). Die WOZ hat von den drei nur Stocker rechtzeitig erreicht. Er hatte sich im Sommer gegenüber Radio SRF offen gezeigt für Kompromisse beim Verbandsbeschwerderecht, doch was seine Kommission jetzt will, lehnt er ab. Man könne nicht vor einer Abstimmung etwas versprechen und dieses Versprechen dann nicht halten, sagt er.

Die Mehrheit der Kommission wolle das Beschwerderecht wohl noch weiter einschränken. Ihr Vorgehen, so Stocker, wirke oft inkonsequent. «Der Ständerat sah sich einmal als Kammer, die darauf achtet, dass Prozesse korrekt ablaufen. Das erodiert immer mehr. Das halte ich für problematisch.»

Spiel ohne Regeln

Die abtretende SP-Nationalrätin Martina Munz ist noch bis Ende November in der nationalrätlichen Umweltkommission (neun Frauen, sechzehn Männer). Und sie ist Präsidentin der Gewässerschutzorganisation Aqua Viva. Für die Angriffe auf das Verbandsbeschwerderecht findet sie drastische Worte: «Das ist ein Aufruf zum Gesetzesbruch.» Wie Bütler betont sie den präventiven Charakter des VBR: «Wenn niemand Einsprache machen könnte, würden Energieanlagen möglichst günstig gebaut – mit mangelhaften Ausgleichsmassnahmen, zulasten von Landschaft und Biodiversität. Man könnte bauen, was der Teufel verboten hat.»

Raimund Rodewald warnt: «Wenn man die Spielregeln aufhebt, sind die Spieler ja trotzdem noch da. Aber die bewährte Schweizer Kompromisspolitik ist nicht mehr möglich. Die Urek-S trägt damit zur Radikalisierung der Konflikte bei.»