«Die Kunst des Filmschnitts»: Das öde Blau, das erregende Blau
Ein Buch mit Gesprächen zwischen dem Autor Michael Oondatje und dem Filmcutter Walter Murch über Literatur, Wissenschaft, «Apocalypse Now» und die Macht der Töne.
Wenn man dem Abrollen des Abspanns von Francis Ford Coppolas «Der Pate» folgt, denkt man, er sei vergessen gegangen, so lange dauert es, bis sein Name auftaucht - Sound Editing: Walter Murch. Dabei sagte Orson Welles mal zu einem Kritiker der «Cahiers du Cinéma»: «Für meinen Stil, für meine Vision des Kinos ist der Schnitt nicht bloss ein Aspekt, es ist der Aspekt.» Walter Murch, der auch Coppolas «Apocalypse Now» und George Lucas’ «American Graffity», Philipp Kaufmanns «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins», Anthony Minghellas «Der englische Patient» und die restaurierte Fassung von Orson Welles’ «Touch of Evil» geschnitten hat, versteht sich nicht nur als Handwerker, der das Material optimal unter Kontrolle hat. Murch ist ein Künstler, ein Universalist, der unermüdlich den alchemistischen Prozess erforscht, der diese einzigartigen, multimedialen Visionen - die Filme - hervorbringt. Während eines Jahres trafen sich der Autor Michael Oondatje und der Cutter Walter Murch zu intensiven Gesprächen über ihre Arbeit; auch um die Zeit zwischen zwei Projekten zu füllen. Und das hat sich gelohnt.
Geld und Literatur
Eine der ersten unabhängigen Produktionsfirmen, Zoetrope (oder ausgeschrieben «Zoe gk. Life + Trope Movement, Turn, Revolution»), wurde 1968 von Francis Ford Coppola und Georges Lucas gegründet. Letzterer brachte Walter Murch mit: «Er ist genauso seltsam wie ich.» Beeinflusst von Filmemachern wie Jean-Luc Godard, Akira Kurosawa, Ingmar Bergmann, Federico Fellini und Stanley Kubrick wollten die drei den Film neu erfinden und den mächtigen Studiobossen Hollywoods mit «der technischen Demokratisierung des Filmemachens» eins auswischen. Damals konnte man mit vergleichsweise wenig Geld einfach losziehen und anfangen zu drehen. So sind Filme entstanden, die sowohl eine künstlerische und sehr subjektive Sicht präsentieren, aber auch unterhaltend und für möglichst viele Menschen zugänglich sind. Amerikanische Massenkultur in ihrer besten Form.
Michael Oondatje, 1943 in Sri Lanka geboren, erhielt für seinen 1993 publizierten Roman «Der englische Patient» den Booker-Preis - 1996 wurde das Buch unter der Regie von Anthony Minghella verfilmt. Während der Dreharbeiten traf Oondatje auf Murch, der für Schnitt und Sound zuständig war. Kennt man das Buch «Der englische Patient» aber und mag es, ist man beim Anschauen des Films - wie so oft - frustriert. Es sei eine der Schwächen des Mediums Film, dass man kaum in die Welt ausserhalb der Hauptgeschichte springen könne, in das grössere Bild, sagt Oondatje. So wird im Buch die Nachricht über den Abwurf der Atombombe in Japan zum Wendepunkt im Leben des indischen Minenentschärfers Kip. Im Film beschliesst Kip, nach Indien zurückzukehren, weil sein Mitarbeiter beim Versuch, eine Landmine zu entschärfen, ums Leben kommt. «Eine Bombe ist eine Bombe», bemerkte eine Assistentin Murchs, und so wurde die zentrale politische Aussage des Buches zugunsten eines gut funktionierenden Films geopfert. Der Autor einer Filmvorlage und der Cutter des entsprechenden Films im Dialog über die gleiche Story ist einer der spannendsten Teile von «Die Kunst des Filmschnitts»; doch Hauptthema des Buchs ist der Ton.
Sound und Geschichte
Ein Beispiel dafür stammt aus Murchs Trickkiste: Das Blau des südchinesischen Meeres scheint wie tot, und es langweilt. Doch plötzlich erregt es, dasselbe Blau leuchtet überraschend intensiv, fast wie flüssiges Metall. Diese Einstellung in «Apocalypse Now» wurde beide Male mit einer Einspielung des «Ritts der Walküren» von Richard Wagner unterlegt. Betont der Dirigent eher die Streicher des Orchesters, ist die Betrachtung des Meeres öde. Dominieren hingegen die Bläser, kommt Intensität auf. Das hat mit Masse, Frequenz und Kanten der Klänge zu tun, mit Farbe, Licht und Linien; und es sind die Zutaten, mit denen Murch seine audiovisuellen Drogen mischt. Der Ton entscheidet, ob ein Film seine Balance findet. Ein Glas im Vordergrund zu laut auf den Tisch geknallt, ein Schritt zu künstlich betont, eine Stimme in dumpfer Atmosphäre, zu viel Musik, schon fühlt man sich manipuliert oder völlig entzaubert. Murch beschreibt, wie er den Sound (über-)schneidet; im «englischen Patienten» bereitet das Klacken der Schuhe einer jungen Frau, die «Himmel und Hölle» hüpft, das Trommeln in der Wüste der nächsten Szene vor. Oder der Source-Sound - Töne, die direkt aus der gespielten Szene stammen - kombiniert mit später hergestellten Geräuschen, ergibt einen oszillierenden Klangteppich: Das Knallen einer Schranktüre zeigt Gefahr an, das Klagen des Muezzins suggeriert das Exotische und das Singen von Weihnachtsliedern erzählt vom Heimweh; der Ursound, der die Gefühle beeinflusst und in das Unbewusste schlüpft, schafft das alles zur selben Zeit und am selben Ort.
Edison und Flaubert
Thomas Edison, Ludwig van Beethoven und Gustave Flaubert sind für Walter Murch die geistigen Väter des epischen Kinos des 20. Jahrhunderts.
Ist Edison für Murch der physische Erfinder gewesen, bezeichnet er den Realisten Flaubert als Pionier, der den von ganz nah betrachteten Ereignissen des Alltags eine zentrale Bedeutung gegeben hat. Und Beethoven erzeugte erstmals durch das ständige Erweitern, Verkürzen und Verwandeln der rhythmischen Struktur eine ausschliesslich emotionale Wirkung der Musik. Durch das unermüdliche Nachfragen Oondatjes angestachelt, stellt Murch auch Bezüge zur ägyptischen Malerei, zu Aristoteles und der modernen amerikanischen Lyrik her. Ebenso zur Quantenphysik und der Molekularbiologie. Er denkt über die Erfindung des Rads durch die Azteken nach - denn die konnten mit dem runden Objekt vorerst gar nichts anfangen und brauchten es lediglich als Kinderspielzeug. Genau wie auch Edisons Assistent Auguste Lumière das Kino eine «Erfindung ohne Zukunft» nannte.
«Die Kunst des Filmschnitts» ist ein Buch, das durch die Neugier Michael Oondatjes und dank des Wissens Walter Murchs aufregende Einblicke ins Zentrum des Erfindens von Geschichten gibt - und in die Macht der Töne. Das Geräusch dieser einen Grille gilt es zu finden, zu vergrössern, bis scheinbar tausend Grillen zirpen, in halluzinatorischer Klarheit, wie es dem Zustand im Kopf des Hauptdarstellers entspricht.
Michael Oondatje: Die Kunst des Filmschnitts - Gespräche mit Walter Murch. Carl Hanser Verlag. München 2005. 332 Seiten. 200 Schwarzweissfotos. Fr. 49.60