Polen: An der längeren Kette

Nr. 34 –

Vor 25 Jahren entstand in Danzig die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc. Was ist heute aus der legendären Lenin-Werft geworden?

Die Halle, in der Lech Walesa einst Elektromotoren reparierte, steht verlassen da. Der niedrige Backsteinbau auf dem Gelände der Danziger Werft ist Niemandsland, gearbeitet wird hier schon lange nicht mehr. 140 Hektar umfasst das Areal der Werft, doch inzwischen hat sich der Riesenbetrieb auf die durch Kanäle vom Festland getrennte Ostrowo-Insel zurückgezogen. Dort, auf rund 65 Hektar, schlägt das Herz der Werft noch. Am Festland hingegen sind nur noch eine Schiffsrampe und ein paar Verwaltungsgebäude in Betrieb. Der Rest rostet und bröckelt seinem Untergang entgegen. In vielen Winkeln spriesst mannshohes Gras.

25 Jahre nach den legendären Streiks von Danzig, an deren Ende die Gründung der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc stand, ist die Werft kein strategischer Betrieb mehr, der mit Arbeitsniederlegungen die Minister in Warschau zum Zittern bringen kann. Heute ist die Danziger Lenin-Werft, die den Namen des Revolutionärs längst aus ihrem Firmenlogo getilgt hat, einer der unzähligen polnischen Grossbetriebe, die die Systemwende nach wie vor nicht überwunden haben. 17 000 Menschen arbeiteten hier früher, heute sind es gerade 3500 - und noch einmal so viel in ehemaligen Teilbetrieben, die ausgegliedert wurden. In ihrer Blütezeit war die Werft eine Stadt in der Stadt: mit Zulieferfirmen, Werkspital, ArbeiterInnenheimen und Gastronomiebetrieben. Ein Teil der Werftgastronomie hat sich als Privatunternehmen in die neue Zeit hinübergerettet. Die Bar U Kazia serviert nach wie vor das polnische Nationalgericht Piroggen (gefüllte Teigtaschen), zu acht Zloty, umgerechnet zwei Euro, der Teller. Der Andrang hält sich in Grenzen.

Unweit der Bar, direkt gegenüber Tor 3 liegt das Büro von Zenon Grudzien. Grudzien, Chef des Sicherheitsdienstes, hat fast sein ganzes Arbeitsleben in der Werft zugebracht. 1968 fing er in der Produktion an, arbeitete später in der Verwaltung, bis er ans Tor 3 übersiedelte. Heute ist er in der Werft und in der Stadt vor allem dafür bekannt und geachtet, dass er den Sicherheitsdienst ebenso professionell wie unkompliziert führt. «Hier an dieser Schiffsrampe wird die ‹Passat Breeze›, ein Panamafrachter, für den Stapellauf vorbereitet», sagt er über einen Plan der Werft gebeugt, «das müssen Sie sich unbedingt anschauen. Ich erkläre Ihnen, wie Sie am besten hinkommen.»

Die «Passat Breeze» sieht tatsächlich beeindruckend aus. 212 Meter lang und 32 Meter breit ist der Riese, der auf der Rampe steht. An der gigantischen goldenen Turbine werden letzte Ausbesserungsarbeiten durchgeführt, am Schiffsdeck werken unzählige Schweisser. Doch während der Innenausbau noch zwei Monate Zeit hat, gilt es jetzt, vor allem den morgigen Stapellauf vorzubereiten. Während der Taucher Mariusz den Kanal, in den die «Passat Breeze» gleiten soll, nach eventuellen Hindernissen absucht, hat sein Kollege Adam ein paar Minuten Zeit, um an die Streiks von damals zurückzudenken: «Ich glaube, jeder hier in der Werft, egal ob er dabei war oder nicht, wird das Gleiche sagen. Die Solidarnosc, die Streiks, das war ganz wichtig für Polen. Aber das, was danach kam, das haben wir uns alle ein bisschen anders vorgestellt.» Seinem Onkel, der ebenfalls in der Werft arbeitete und jetzt in Rente ist, versucht Adam, so wenig wie möglich von der Arbeit zu erzählen: «Der bekommt doch jedes Mal feuchte Augen, wenn er meine Erzählungen hört. Früher, da standen hier an jeder Anlegestelle, in jedem Dock Schiffe. Und jetzt? Nichts. Dabei machen wir wirklich gute Arbeit.»

Das sieht auch Jasper Eggers so, dessen sauberer blitzroter Overall sich so auffällig von den ölverschmierten blauen, grauen und grünen Monturen der Werftarbeiter abhebt. Eggers, ein Manager der Hamburger Reederei, die die «Passat Breeze» in Auftrag gegeben hat, ist voll des Lobes für die Danziger: «Warum wir in Polen bauen? Weil hier wirklich auf Qualität Wert gelegt wird. Hier wird immer noch sehr viel von Hand gemacht. In anderen Werften ist das nicht mehr so. Und ausserdem: Danzig hat eine 500 Jahre lange Schiffbautradition.» Doch trotz Tradition und feinster Massarbeit: Die Werft hat zwar im Moment ausreichend Aufträge, dieses Jahr sollen insgesamt dreizehn Schiffe vom Stapel laufen, sie muss aber immer wieder mit Finanzierungsproblemen kämpfen. Ständig drohen Produktionsverzögerungen, weil man das für den Bau der Schiffe nötige Material nicht bezahlen kann.

In der sieben Hektar grossen Halle, der Sektion K3, in der aus Stahlplatten Teile der Schiffsrümpfe geschweisst werden, sind die Arbeiter acht Stunden lang pro Schicht einem Höllenlärm ausgesetzt. Für lange Gespräche über die Zukunft der Werft ist das nicht der beste Ort. Der Schweisser Maciek brüllt dennoch ein paar Sätze gegen den Maschinenlärm: «Das Problem ist, dass es keinen Eigentümer gibt, dem die Werft wichtig ist. Wir haben hier einfach keinen Hausherrn, der sich um den ganzen Betrieb wirklich kümmern würde.» Der Vorwurf ist oft zu hören. Seit die benachbarte Werft Gdynia die Danziger Werft übernommen hat, fühlen sich die Danziger im Stich gelassen. «In fast allen wichtigen Positionen sitzen Leute aus Gdynia, und manchmal habe ich das Gefühl, die wollen nicht wirklich etwas für uns tun», sagt ein alteingesessenes Mitglied des Danziger Werftmanagements. «Sie wollen auch nichts investieren.» Abgesehen von der Lackiererei seien die letzten grossen Investitionen in der Werft in den siebziger Jahren durchgeführt worden.

Der Schweisser Maciek macht allerdings nicht nur die Direktoren aus Gdynia für die Schwierigkeiten der Werft verantwortlich, sondern auch die Nachwendezeit: «Das mit der Freiheit ist so eine Sache: Die Kette, an der wir hängen, ist jetzt zwar länger. Dafür haben sie auch den Futternapf weiter weggestellt», schreit er, bevor er sich wieder hinter seinem russgeschwärzten Gesichtsschutz versteckt, hinter dem er im bläulichen Schein des Schweisslichts ein wenig einem Teufel aus einem surrealis-tischen Theaterstück gleicht.

Darüber, ob die von der Solidarnosc erkämpfte Freiheit auch zwangsläufig eine Verschärfung der Lebensbedingungen für die breite Masse bedeuten musste, gibt es in Polen auch ein Vierteljahrhundert nach den legendären Streiks keinen wirklichen Konsens. Tatsache ist aber, dass die 21 Forderungen der Solidarnosc, deren Erfüllung die polnische Staatsmacht am 31. August 1980 zusichern musste, über weite Strecken sehr sozialen, ja sozialistischen Charakter hatten: Senkung des Rentenalters für Frauen auf 55, für Männer auf 60 Jahre, automatischer Teuerungsausgleich, Ausbau des Gesundheitswesens, Verlängerung des bezahlten Mutterschaftsurlaubs auf drei Jahre, Schaffung von neuen Kinderbetreuungsplätzen, um arbeitende Frauen zu entlasten - alles Dinge, die sich heute in Polen kaum jemand öffentlich zu fordern traut.

Dass sich sein damaliges Programm der 21 Forderungen fundamental davon unterschied, was nach der Wende passierte, ist natürlich auch dem Streikführer des Jahres 1980 bewusst. Doch Lech Walesa, der Arbeiterheld im Ruhestand und ehemalige Präsident, der heute in Danzig an der noblen Adresse Dlugi Targ ein bescheidenes Büro auf einem Dachboden unterhält, hat dafür schnell eine Erklärung parat: «Ich war damals kein Demokrat, sondern Stratege einer Revolution. Wir wussten, wir können nur siegen, wenn wir uns nicht spalten lassen, wenn wir alle sozialen Gruppen einbinden. Deshalb waren die berühmten 21 Forderungen von Danzig so breit gestreut, von der Senkung des Rentenalters, bis zur Abschaffung der Zensur - damit jeder etwas findet, womit er sich identifiziert.» Denn als das kommunistische System besiegt war, habe es Spaltungen geben müssen: «In einer Demokratie kann sich jeder für diejenigen der 21 Forderungen einsetzen, die er für wichtig hält.»

So oder so ähnlich erklären fast alle Recken von damals die Entwicklung von der so genannten ersten Solidarnosc des Streikjahres zur zweiten, nicht mehr so kämpferischen Solidarnosc der Nachwendezeit: egal ob Adam Michnik, der heute als Chefredaktor der meinungsbildenden Tageszeitung «Gazeta Wyborcza» Polen auf Neoliberalismus und ewige Treue zu den USA einschwört, oder Wladyslaw Frasyniuk, der mit der kleinen Demokratischen Partei den liberalen Ethos der Solidarnosc hochzuhalten versucht. Auch Exponenten der früheren Solidarnosc-Linken politisieren längst anderswo. Manche von ihnen wie Jozef Pinior aus Wroclaw, der nach der Verhängung des Kriegsrechts geistesgegenwärtig das Vermögen der Gewerkschaft vor der Beschlagnahmung rettete, landeten dabei mangels Alternativen im Lager der ehemaligen Feinde: Als Europaparlamentarier sitzt Pinior heute für das postkommunistische Bündnis der demokratischen Linken in Strassburg.

Die Riege jener, die auch ein Vierteljahrhundert nach den Streiks eine Solidarnosc der 21 Forderungen von Danzig fordern, bleibt indessen klein, auch wenn ihre Namen in polnischen Ohren durchaus bekannt klingen: Anna Walentynowicz zum Beispiel, jene Kranführerin, deren Wiedereinstellung eine der Streikforderungen war. Oder das Ehepaar Joanna und Andrzej Gwiazda, im Jahr 1980 als StreikführerInnen fast so wichtig wie Walesa. «Die Neoliberalen», urteilt Andrzej Gwiazda heute, «sagen ganz eindeutig: Wir wollen, dass ihr hungert, denn sonst hätten wir weniger. Gewinne müssten daher viel stärker besteuert werden, sonst dienen sie nur dem Luxus und den Extravaganzen der Reichen.» Gwiazdas unterschwelliger Populismus wäre noch zu ertragen, schlimmer ist das Umfeld, in dem er und die anderen Gralshüter der «alten, verratenen Solidarnosc» agieren: ein Mikrokosmos aus WeltverschwörungstheoretikerInnen, die - wie so oft in Polen - berechtigt radikale Sozialforderungen mit einer unerträglichen Sauce aus klerikal-nationalistischem Pathos aufgiessen. Den Antisemitismus gibts als Sahnehäubchen gratis dazu.

Und doch waren, wie es scheint, die Ideale von 1980 nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt. In München kommen einem 72-jährigen Mann immer noch leicht die Tränen, wenn er sich an die Streiktage erinnert. Es ist Klemens Gniech, 1980 Parteimitglied und Direktor der Danziger Werft. Nach anfänglichem Zögern stellte er sich auf die Seite der Streikenden, verlor als Vergeltung dafür nach der Einführung des Kriegsrechts seinen Job und wanderte schliesslich aus. «Die Monate nach der Unterzeichnung der 21 Punkte von Danzig bis zum Kriegsrecht, das war für mich als Direktor die schönste Zeit. Alle haben an einem Strick gezogen, die Absenzen und Krankenstände gingen markant zurück, wir haben unsere Produktion um zwanzig Prozent steigern können. Die Werft blühte auf. Die Einführung des Kriegsrechts hat diese Entwicklung erstickt.» Gniech ist überzeugt: Wenn der kommunistische Parteichef General Jaruzelski die von der Solidarnosc erkämpften Mitbestimmungsrechte der ArbeiterInnen nicht mit seinen Panzern niedergewalzt hätte, die Werft stünde ganz anders da. Vielleicht auch ganz Polen.

Heute ist die Politik an neuen Perspektiven für die Schiffbauer indessen nicht wirklich interessiert. Und das, obwohl Danzig seinen Reichtum stets dem Meer, dem Handel und eben dem Schiffbau verdankte - und obwohl Ökonomen davon ausgehen, dass an jedem Arbeitsplatz im Schiffbau sieben weitere in der Zulieferindustrie hängen. Trotzdem scheint eine weitere Schrumpfung der Werft beschlossene Sache. Die Planungsgesellschaft Synergia 99, die zu zwei Dritteln der US-Investmentfirma TDA Capital Partners gehört, entwickelt bereits im Auftrag der Stadt Danzig Konzepte für eine Umgestaltung der Werft in ein postmodernes Architekturexperiment aus pittoresk in Szene gesetzten Industrieruinen, Wohnparks und Shoppingzentren. Ein paar Kulturevents soll es als Zückerchen für die Jugend auch geben. So richtig vom Fleck gekommen ist das Projekt, das seine Büros in einem frisch renovierten Backsteinpalast am Werftgelände unterhält, bislang allerdings nicht. «Das liegt daran», versucht ein rechter Politiker aus Danzig zu erklären, «dass für viele Investoren Danzig noch immer eine Hochburg der Gewerkschaftsbewegung ist. Das schreckt ab.» In früheren Tagen war der Mann übrigens Solidarnosc-Berater.

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