Afghanistan: Warlords im Amt und Würden
Für die Wahlen Mitte September kandidieren auch Kriegsverbrecher. Die Bemühungen, sie auszuschliessen, sind gescheitert.
Die Frage bleibt kontrovers und stellt sich mit den Wahlen am 18. September wieder neu: Wie soll mit den zahlreichen Kriegsverbrechen der Vergangenheit umgegangen werden? Die Meinungen sind geteilt.
Präsident Hamid Karsai bemüht sich, die zerbrechliche politische Stabilität nicht aufs Spiel zu setzen, und hat Milizenführer, die in den Bürgerkriegsjahren schwere Verbrechen begangen haben, in den Regierungsapparat eingebunden und reuigen Taliban eine Amnestie angeboten. Eine andere Position vertreten afghanische und internationale Menschenrechtsorganisationen: Sie zeigen sich überzeugt, dass dauerhafter Frieden und politische Stabilität nur möglich sind, wenn Afghanistan sich mit seiner blutigen Geschichte auseinander setzt und die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zieht. Auch in der afghanischen Bevölkerung ist das Bedürfnis nach Bestrafung der Verbrecher gross. Viele der früheren Mudschaheddin-Kommandanten sind heute in Drogen-, Waffen- und Kinderhandel verstrickt und terrorisieren die Bevölkerung mit ihren Privatmilizen.
Minutiöse Recherche
Jüngste Dokumentationen zu den Kriegsverbrechen setzen die afghanische Regierung unter Druck. Die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat im Juli die Resultate einer zweijährigen Recherche veröffentlicht. Das Papier mit dem Titel «Blood-Stained Hands: Past Atrocities in Kabul and Afghanistan’s Legacy of Impunity» behandelt die Ereignisse von April 1992 bis März 1993, als nach dem Sturz der von der Sowjetunion gestützten Nadschibullah-Regierung rivalisierende Mudschaheddin-Fraktionen in Kabul einfielen und sich gegenseitig bekämpften. Grosse Teile der bis dahin praktisch unbeschädigt gebliebenen Hauptstadt wurden zerstört und zehntausende getötet. Die damaligen Ereignisse erhielten - anders als die Zeit der sowjetischen Besatzung und die Taliban-Herrschaft - international nur wenig Aufmerksamkeit und sind schlecht dokumentiert.
Der Bericht versucht nun, diese Lücke zu schliessen. Besondere Relevanz erhält er dadurch, dass viele der damals verantwortlichen Befehlshaber und Politiker heute im Regierungsapparat sitzen oder als Berater von Präsident Karsai amten. Das gilt für den radikal-islamistischen Milizenchef Abdul Rabb Rasul Sajjaf, der Karsai berät und grossen Einfluss auf das afghanische Rechtswesen ausübt; es gilt auch für den usbekischen General Abdurraschid Dostum, der eine leitende Position im Verteidigungsministerium hat; für Karim Chalili, den damaligen Vizechef einer schiitischen Miliz und heutigen Vizepräsidenten; für Mohammad Kasim Fahim, ehemals Sicherheitschef der Mudschaheddin-Fraktion Schura-je Nasar und Verteidigungsminister in der Übergangsregierung Karsais. Die Verbrechen der von diesen Personen befehligten Gruppierungen sind im Bericht nachzulesen. Interessant sind auch die Passagen, in denen es um die Verantwortung des 2001 ermordeten Ahmad Schah Massud (der «Löwe des Pandschir») geht, der trotz der Verbrechen seiner Mudschaheddin-Fraktion weitherum als Held verehrt wird.