PERSONENFREIZÜGIGKEIT IN CHINA: Glück am Strassenrand

Nr. 36 –

In Europa grassiert die Sorge vor ein paar tausend MigrantInnen. In China wandern Millionen aus den armen Regionen in die Städte.

In Beijing leben etwa doppelt oder vielleicht sogar dreimal so viele Menschen wie in der Schweiz. Aber so genau weiss man das nicht. Nicht einmal die Behörden sind sich sicher. Das dortige Büro für Öffentliche Sicherheit zählt 15 Millionen EinwohnerInnen, permanent registriert sind 11,5 Millionen. WissenschaftlerInnen wiederum schätzen, dass in Beijing fast 20 Millionen Menschen wohnen.

Schuld an diesem statistischen Durcheinander haben Menschen wie Cui Xiaoyong. Cui lebt auf einer der zahllosen Baustellen in der Stadt. Er ist in Beijing nicht registriert, sondern in seiner Heimatprovinz Sichuan, gut dreissig Zugstunden von Beijing entfernt. Er arbeitet, schläft und isst auf einem Baugelände, von dem rund um die Uhr Funken stieben. Den Platz des Himmlischen Friedens, gerade einmal fünfzehn Gehminuten entfernt, hat Cui in seinen langen Jahren auf dem Bau noch nie gesehen. «Keine Zeit», sagt er. Keine Zeit für ihn hat auch seine Umgebung. Für Beijing und seine offiziell registrierten EinwohnerInnen ist Cui Xiaoyong praktisch unsichtbar. Denn akzeptiert, geschweige denn integriert ist er nicht.

Cui Xiaoyong ist Teil der gewaltigen grauen Masse von MigrantInnen, die den Wirtschaftsboom von China tragen und die in den Städten und den Fabriken der exportorientierten Küstenregionen schuften. Sie haben fast keine Rechte, ihre Kinder dürfen in den Städten keine Schulen besuchen, und oft wird ihnen monate-, manchmal sogar jahrelang der Lohn vorenthalten.

Die riesige Binnenmigration hat in China mit den Reformen von Deng Xiaoping ab den späten siebziger Jahren begonnen. Davor sassen die meisten ChinesInnen an ihrem Heimatort fest. Der «Grosse Steuermann» Mao Zedong hatte in den späten fünfziger Jahren das so genannte Hukou-System eingeführt, die Registrierung der Haushalte. Dieses System wurde zwar vor kurzem gelockert, aber im Grundsatz gilt es noch heute. Es schreibt vor, dass Leute nur dort leben und arbeiten dürfen, wo sie angemeldet sind. Die zwischenzeitliche Lockerung bedeutet, dass man mittlerweile zwar recht frei umherziehen darf, die meisten Rechte aber nur am offiziellen Wohnort ausgeübt werden dürfen.

Xiapings Xiaokang

«Chinas Migration unterscheidet sich ganz grundlegend von der im Westen», sagt Diana Lary, Historikerin und Leiterin des Zentrums für Asiatische Studien an der Universität von British Columbia in Kanada. Während im Westen zumindest ansatzweise «versucht wird, Einwanderer zu integrieren», sei «die Migration innerhalb Chinas bewusst so konzipiert, dass Wanderarbeiter isoliert und rechtlich benachteiligt werden».

Die Zahl dieser so von einem Ort zum nächsten driftenden ArbeiterInnen ist – wie die Bevölkerungszahl von Beijing – nicht genau bekannt. Die Schätzungen reichen von 80 bis 150 Millionen. Die Regierung in Beijing blickt mit Sorge auf die riesigen Menschenströme und die immer weiter wachsende soziale Kluft zwischen Stadt und Land. Denn die Personenfreizügigkeit birgt für sie ein politisches Risiko. Es häufen sich Aufstände und Demonstrationen von ArbeiterInnen – allein im letzten Jahr haben laut offiziellen Angaben insgesamt drei Millionen Menschen protestiert. Die registrierte Bevölkerung in der Heimat lässt sich viel leichter kontrollieren als die schwer fassbaren Massen der WanderarbeiterInnen.

Trotzdem, die Vorteile der Migration überwiegen, auch politisch. Die billige Arbeitskraft vom Land ist der Treibstoff für den exportorientierten Wirtschaftsmotor und damit für die Raison d’être einer Partei, die ihre kommunistischen Ziele längst über Bord geworfen hat und ihre Legitimation aus den sich bessernden Lebensverhältnissen eines Teils der Bevölkerung bezieht. «Xiaokang» (kleiner Wohlstand) lautet seit den Reformen Deng Xiaopings in den achtziger Jahren das Schlagwort. Konkret heisst das, dass bis 2020 allen ChinesInnen ein Pro-Kopf-Bruttoinlandprodukt von 3000 US-Dollar versprochen wird – gerade letztes Jahr hat es die 1000-Dollar-Grenze überschritten. Die Wirtschaft muss also mit halsbrecherischer Geschwindigkeit weiterwachsen. Und der Status als «Werkbank der Welt» muss mittlerweile hart verteidigt werden.

Denn schon heute liegen die Produktionskosten für manche Textilien in anderen asiatischen Ländern wie Kambodscha, Sri Lanka and Vietnam tiefer; China muss darauf achten, seinen Wettbewerbsvorsprung nicht zu verlieren. Aus diesem Grunde hält die Regierung die Migration von immer mehr ArbeiterInnen in die Fabriken an der Küste für wirtschaftlich unerlässlich. Im vergangenen Jahr und teilweise auch in diesem Sommer litten Industrieregionen im Jangtse-Delta und am Pearl River sogar unter akutem Personalmangel. Schätzungsweise fehlen dort zwei Millionen Arbeitskräfte. Falls nicht noch mehr arme ArbeiterInnen aus dem Norden zuwandern, könnte Chinas Wirtschaftskonzept, das auf unendlichen und billigen Arbeitsressourcen beruht, bald scheitern.

Vergiftet am Pearl-River-Delta

Diese riesige Volkswanderung – zahlenmässig eine der grössten in der Geschichte – hat in China auch tiefschürfende soziale Konsequenzen. «Meist werden die Migranten von der restlichen Bevölkerung getrennt», sagt Kam Wing Chan, Spezialist für Migration an der Washington University. Am offensichtlichsten sei das in den exportorientierten Zonen, wo Arbeiter auf den Fabrikgeländen wohnen und nachts sogar eingesperrt würden. Allein in der südlichen Provinz Guangdong (im Pearl-River-Delta) sind sechzehn Millionen ArbeiterInnen zugewandert, das ist fast ein Drittel der Beschäftigten. Die meisten von ihnen leben, so Chan, unter «ausbeuterischen Bedingungen», sind weder gegen Krankheit noch fürs Alter versichert und leben von ihrer Familie getrennt – unter anderem, weil Kinder nur am Ort ihrer Registrierung die Schule besuchen dürfen.

Die schlechten Arbeitsbedingungen tragen weiter zur Misere bei. Eine im Jahre 2002 angefertigte Studie fand heraus, dass rund zehn Prozent der ArbeiterInnen im Pearl-River-Delta an chemischer Vergiftung leiden und fast ein Viertel Verletzungen am Arbeitsplatz erlitten haben. Seither haben die Meldungen über Betriebsunfälle noch zugenommen; die Katastrophen in den chinesischen Kohlegruben sorgen mittlerweile weltweit für Schlagzeilen.

Hohe Selbstmordrate bei Frauen

Und auch die Daheimgebliebenen spüren die Konsequenzen der Völkerwanderung. Cui Xiaoyong, der Bauarbeiter in Beijing, reist nur alle drei Jahre zu Frau und Tochter nach Hause. Millionen von Kindern teilen das Schicksal von Cuis Tochter. Nachdem Chinas Ein-Kind-Politik den Kindern meist schon die Geschwister genommen hat, schnappt die riesige Wirtschaftsmigration auch noch einen Elternteil weg.

Die zurückgebliebenen PartnerInnen, meist Frauen, müssen oft jahrelang ohne Partner auskommen – Experten erklären damit die schockierend steigende Selbstmordrate auf dem Land. China hat, so die Weltgesundheitsorganisation WHO, nicht nur eine allgemein sehr hohe Suizidrate, sondern ist auch das einzige Land auf der Welt, in dem sich mehr Frauen als Männer das Leben nehmen. Ungewöhnlich ist auch, dass die Selbstmordrate auf dem Land höher ist als in der Stadt.

In der Stadt wiederum werden die MigrantInnen meist mit grosser Skepsis empfangen. «In den letzten Jahren hat die Konkurrenz zwischen Einheimischen und Migranten stark zugenommen», sagt Professor Kam Wing Chan. «Migranten werden von Stadtbewohnern vermehrt als soziales Übel betrachtet, nicht als Hilfe.» Viele Städte hätten stark protektionistische Regeln eingeführt, welche die Rechte der MigrantInnen noch stärker einschränken. In Beijing beispielsweise gibt es eine Liste von 37 Jobs, die nur in Beijing aufgewachsenen Arbeitskräften zugänglich sind. Und wenn einem Beijinger das Fahrrad abhanden kommt (was durchaus oft geschieht), dann werden intuitiv sofort die «waidiren», «die von ausserhalb», beschuldigt.

«Die Stadtregierungen haben meist auf Druck der Bevölkerung mit Protektionismus reagiert, denn viele Bürger wollen die Einwanderer am liebsten wieder ausgeschafft haben», sagt Chan. Die Konkurrenz sei am ganz unteren und am oberen sozialen Rand besonders ausgeprägt. Elite-Jobs würden heute nicht mehr zwingend an Einheimische vergeben. Gleichzeitig stehen Bau- und Fabrikarbeiter mittlerweile in einem Wettbewerb, der immer härter wird. Gerade im Bereich der einfachen Handarbeit wächst die Zahl der Arbeitslosen, in den Städten hat die Erwerbslosigkeit nach Angaben der Parteipresse mittlerweile fünf Prozent erreicht. Tatsächlich liegt sie aber eher bei zehn Prozent.

Streiks per SMS und E-Mail

Die Regierung, und damit auch die Parteipresse thematisieren die Probleme der Migranten immer häufiger und auch durchaus kritisch. In der Realität aber hat sich in den letzten Jahren nur sehr wenig verändert. «Die neue Führung unter Premier Wen Jiabao schenkt dem Thema zwar mehr Aufmerksamkeit», sagt Chan. «Aber die Situation wird von den Lokalregierungen gesteuert. Und dort passiert wenig.» Dennoch erwartet er langsame Reformen in der Politik der Binnenmigration. Einige Veränderungen zeichnen sich bereits ab. So bestraft die Stadtregierung von Shanghai Firmen, die keine Krankenversicherung für ihre MigrantInnen abschliessen. 3000 Firmen wurden im ersten Halbjahr 2005 mit einer Geldbusse belegt. Und in Beijing bekommen WanderarbeiterInnen seit April Rechtshilfe, wenn sie ausstehende Löhne einklagen wollen.

Ausserdem helfen sich die WanderarbeiterInnen auch zunehmend selbst. Vor einiger Zeit haben Arbeiter in Shenzhen, einer südchinesischen Boomtown, kurzerhand ihren Chef in seinem Büro eingesperrt: Er hatte ihnen drei Monate lang keinen Lohn gezahlt. Die Polizei ist Berichten zufolge nicht eingeschritten; die Arbeiter haben ihr Geld inzwischen bekommen. In Zhengzhou, Hauptstadt der Provinz Henan, hielten 170 MigrantInnen im Juli eine Pressekonferenz ab, um auf dasselbe Problem aufmerksam zu machen. Auch ihnen waren Löhne vorenthalten worden. Und in Shenzhen schrieben über dreissig Arbeiter einen offenen Brief, in dem sie sich darüber beklagten, dass sie in ihrer Fabrik eingesperrt würden und wegen des spärlichen Kontakts mit ihren Frauen unter Sexmangel litten. Jetzt dürfen sie eine Nacht in der Woche ausserhalb des Werksgeländes übernachten.

Eine landesweite, parteiunabhängige Gewerkschaft gibt es nicht. Trotzdem geben gerade moderne Kommunikationsmittel den ArbeiterInnen die Chance, sich zusammenzuschliessen und auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Nicht wenige Streiks wurden per SMS und E-Mail organisiert. Und so nimmt ein immer grösserer Teil der Bevölkerung die spezifischen Nöte der MigrantInnen wahr. Eine beliebte TV-Seifenoper beispielsweise widmet sich sogar explizit dem Leben der WanderarbeiterInnen und wird mit grossem Erfolg auch auf DVD verkauft.

Eine Abkehr vom Prinzip der migrierenden BilligarbeiterInnen ist vorerst nicht zu erwarten – das exportorientierte Wirtschaftskonzept der Regierung ist auf sie angewiesen. Langfristig aber, sagt Kam Wing Chan, wird das der Partei grosse Kopfschmerzen bereiten. Auf die Dauer, glaubt er, kann das auf Billigarbeit fussende Exportsystem nicht aufrechterhalten werden. Und so wird sich die Regierung den WanderarbeiterInnen zuwenden müssen, sie besser ausbilden und schliesslich auch besser integrieren.

Cui Xiaoyong, der nun schon dreizehn Jahre in Beijing arbeitet, scheint aber noch Geduld zu haben. Er sei zufrieden, sagt er, obwohl er seinen gesamten Tag auf dem Arbeitsgelände verbringt und dabei zwischen zwölf und sechzehn Stunden schuf seiner kleinen Bauinsel inmitten der Hauptstadt zum Bauaufseher hochgearbeitet.