Atommülllager: Freie Bahn für AKW

Nr. 37 –

Hätte der Bundesrat Wort gehalten, wäre kein AKW mehr in Betrieb. Nun ist der Entsorgungsnachweis angeblich erbracht.

Atommüll zwingt, das Apokalyptische zu denken. Damit das nicht auffällt, greifen die Spezialisten zu sperrigen Wörtern wie etwa «Selbstverschlussbauwerk». Die Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen (KSA) hat das Wort diese Woche benutzt. Sie trat zusammen mit der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen (HSK) vor die Medien und sagte, sie sei zufrieden mit der Arbeit der Nagra, der Nationalen Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle. Die Nagra sucht seit über dreissig Jahren nach einem Platz für den Atommüll, jetzt ist sie fündig geworden: im Opalinuston, der sich im Zürcher Weinland findet wie auch im Kanton Aargau und am Jurasüdfuss.

Neben dem Lob gaben die Bundesbehörden der Nagra einige «wichtige Empfehlungen» auf den Weg. Die eine lautet: «Die Machbarkeit eines Selbstverschlussbauwerkes soll abgeklärt werden.» Was ist ein Selbstverschlussbauwerk? «Gute Frage», sagt Heinz Sager, Sprecher der Nagra. Technisch wisse man noch nicht genau, wie man es lösen wolle, aber das Prinzip sei einfach: «Ein Endlager ist ein Jahrhundertbauwerk, das lange offen steht und bewacht wird. Es müsste nun einen Mechanismus geben, der es selbständig verschliesst, wenn die Menschen, die es bewachen sollten - wegen Krieg oder Seuchen -, nicht mehr dazu in der Lage sind.» Vielleicht finde man eine Lösung, bei der sich das Gestein von selbst schliesse, oder aber: «Es gibt einen Mechanismus, der zum Beispiel eine Bombe zündet, etwa wenn ein Jahr lang ein bestimmter Knopf nicht mehr gedrückt wird, weil die Leute, die das Lager bewachen sollten, nicht mehr da sind.» Sager nennt es ein Notfallszenario. Auch die Internationale Atomenergieagentur (IAEA) denke im Moment über solche Selbstverschlussmechanismen nach - weil niemand wissen kann, wie die Welt in einigen Jahrzehnten aussehen wird.

Frist bis 1985

Dennoch tun alle so, als ob man den Atompfad ungestört weiter beschreiten könnte. Im nächsten Jahr wird der Bundesrat - wie diese Woche vorerst seine Behörden KSA und HSK - offiziell bestätigen, dass der «Entsorgungsnachweis» erbracht ist. Damit ist der Weg frei für neue Atomkraftwerke. Dahinter steckt ein Wortbruch, der zwanzig Jahre zurückliegt. Ende der siebziger Jahre war das AKW Gösgen im Bau. Die Bevölkerung wehrte sich heftig dagegen. Zur Besänftigung der Opposition schrieben die Bundesbehörden in die Betriebsbewilligung von Gösgen, es müsse «bis Ende 1985 ein Projekt» vorgelegt werden, «welches für die sichere Entsorgung und Endlagerung der aus dem Kernkraftwerk Gösgen-Däniken stammenden radioaktiven Abfälle Gewähr bietet. Sollte bis zum Ende der Frist für die Entsorgung keine Gewähr geboten sein, müsste die Anlage Gösgen allenfalls abgestellt oder sogar stillgelegt werden.»

1979 präzisierte das Amt für Energiewirtschaft das «Projekt Gewähr»: Wenn die Nagra bis 1985 den Machbarkeitsnachweis nicht liefern könne, sagte Vizedirektor Peter Pfund, «dürften wir nicht nur keine neuen Kernkraftwerke bewilligen, selbst wenn sie für den inländischen Bedarf erforderlich wären, sondern wir müssten auch die bestehenden Werke abstellen». Damals versprach die Nagra, diesen Nachweis zu erbringen. Sie suchte zuerst im kristallinen Grundgestein, dann in der Süsswassermolasse - ohne Erfolg. Geologen warfen ihr Unfähigkeit vor. Der Lausanner Professor Marcel Burri kritisierte, die Nagra gehe vor wie «ein Arzt, der den Fuss eines Hüftkranken aufmacht, als ob dort die Schmerzursache zu suchen wäre».

Russland will den Müll

1985 passierte nichts. Die Nagra war weit davon entfernt, das «Projekt Gewähr» zu erfüllen - Beznau I und II, Mühleberg, Leibstadt und Gösgen sind trotzdem bis heute in Betrieb.

Inzwischen arbeitet die Nagra professioneller. Auch kritische Geologen halten den jetzt als Lagerort präsentierten Opalinuston für eine prüfenswerte Option. Die Umweltorganisationen fordern jedoch ein anderes Lagerkonzept - eines, das erlaubt, den Müll jederzeit zu kontrollieren und zurückzuholen.

Gut möglich, dass in der Schweiz gar nie ein Endlager gebaut wird. Die Schweiz beteiligt sich nämlich im Rahmen der IAEA intensiv an der Suche nach einer internationalen Lösung. Russland würde den westlichen Müll gerne übernehmen, auch andere osteuropäische Staaten haben Interesse bekundet. Der Schweizer Atomindustrie wäre das recht, weil es billiger käme. Wichtig ist für sie nur, dass der Entsorgungsnachweis offiziell erbracht ist, damit die Altlast «Gewähr» endlich beseitigt ist. Dann hätten sie freie Bahn und könnten bald ein Gesuch für ein neues AKW einreichen.