Tunesien: Informationsgipfel im Zensurland

Nr. 45 –

Vor dem Weltinformationsgipfel häufen sich Protestaktionen der Opposition. Das Regime lässt das kalt.

«Yezzi fock Ben Ali!» lautet der Slogan einer der jüngsten Initiativen gegen die Soft-Diktatur des tunesischen Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali. Im Vorfeld des Weltinformationsgipfels der Vereinten Nationen, der Mitte nächster Woche in Tunis beginnt, hat das Regime einen harten Kurs gegen seine KritikerInnen eingeschlagen. «Lass uns in Ruhe» heisst «Yezzi fock» in tunesischem Dialekt; Assoziationen anderer Art sind wohl nicht ganz unerwünscht. In Anlehnung an die ägyptische Kifaya-Bewegung versuchen die Yezzi-fock-AktivistInnen seit Anfang November eine neue Bewegung des zivilen Ungehorsams und des Widerstands zu entwickeln: Da Demonstrationen vor und während des Gipfels verboten sind, organisieren sie auf dem Internet eine virtuelle Demonstration. Teils unverhüllt und mit vollem Namen, teils unter Pseudonym bekennen AktivistInnen ihre ablehnende Haltung gegenüber dem herrschenden System.

Unbrauchbar gemachte Handys

Es gibt auch härtere Protestformen: Mit einem unbefristeten Hungerstreik mitten im Stadtzentrum von Tunis versuchen acht prominente Regimegegner und Menschenrechtsaktivisten auf die prekäre Lage im Land aufmerksam zu machen. Der Streik hat am 18. Oktober begonnen; die Streikenden werden sich also just zur Zeit des Gipfels in einer bedrohlichen Lage befinden. Einer der Streikenden musste aus gesundheitlichen Gründen bereits aufgeben, die verbliebenen sieben Personen sind stark geschwächt. Am 30. Oktober setzten die Behörden die Mobiltelefone der Streikenden ausser Betrieb. Das Haus, in dem der Streik stattfindet, ist zudem von einem grossen Polizeiaufgebot umstellt. Die Streikenden können deshalb den Kontakt mit der Aussenwelt nur noch mit grossen Schwierigkeiten aufrechterhalten. Angesichts der Gleichschaltung der Medien kann sich die tunesische Bevölkerung nur via ausländische TV-Kanäle über den Hungerstreik informieren. Für die Behörden sind die Streikenden «Nestbeschmutzer», die versuchen würden, die «öffentliche Meinung zu manipulieren».

Die legale Opposition hat sich vom Hungerstreik distanziert. Ob die Streikenden mit ihrer Aktion eine grosse Resonanz in der Bevölkerung finden, ist fraglich. Eine grössere Solidarisierung ist bis anhin jedenfalls ausgeblieben; die Aktion wirkt wie eine Verzweiflungstat einer Gruppe von Aktivisten, die gegen die Friedhofsruhe im Land und gegen die weitverbreitete Angst ankämpfen. Nicht auszuschliessen ist aber auch, dass der Funke noch überspringen wird.

Schlüssel eingezogen

Für die tunesischen Menschenrechtsorganisationen haben sich knapp eine Woche vor Beginn des Gipfels die schlimmsten Befürchtungen erfüllt. Statt ihren Forderungen nach mehr Freiheit im Land ein Stück weit entgegenzukommen - und wenn auch nur, um den Schein zu wahren - hat das Regime einen harten, unnachgiebigen Kurs eingeschlagen. So wurde etwa die tunesische Menschenrechtsliga mit verschiedenen Mitteln daran gehindert, ihre Jahresversammlung abzuhalten. Auch Zusammenkünfte lokaler Sektionen der Liga wurden teilweise verunmöglicht durch polizeiliche Gewalt. Der Vereinigung der tunesischen Richter, die in letzter Zeit durch eine Reihe von Forderungen auf sich aufmerksam machte, nahmen die Behörden kurzerhand die Schüssel zu ihrem Versammlungslokal ab. Die eh schon düstere Bilanz Tunesiens in Sachen Bürgerrechte hat sich durch diese Vorfälle weiter verschlechtert.

Der eklatante Widerspruch, ein Weltgipfeltreffen zum Thema Information abzuhalten und gleichzeitig die Meinungsäusserungs- und Informationsfreiheit weiterhin massiv einzuschränken, scheint die tunesischen Behörden nicht weiter zu stören. Die Verantwortlichen bekümmert offenbar auch nicht der schwere Imageverlust, den Tunesien aller Voraussicht nach in den kommenden Wochen erleiden wird. Man konzentriert sich darauf, den Grossanlass gut zu organisieren und mögliche Störfaktoren von Anfang an auszuschalten. Das Kongressgelände wird denn auch von der Aussenwelt abgeriegelt sein. Die tunesische Bevölkerung wird praktisch keine Gelegenheit haben, an Veranstaltungen des Gipfels teilzunehmen. Um allfällige Demonstrationen nach Möglichkeit zu verhindern, bleiben sämtliche Schulen und Universitäten während des Treffens geschlossen.

Fehlende Versammlungsräume

Angesichts dieser Umstände und vor allem der Vorfälle, die sich im Rahmen der zahlreichen Vorbereitungstreffen abgespielt haben (siehe Kasten), hat sich die Koordinationsgruppe der wichtigsten tunesischen nichtstaatlichen Organisationen (NGO) entschieden, den offiziellen Gipfel zu boykottieren. Stattdessen wird eine Art Gegengipfel organisiert - das Forum citoyen pour la société de l’information. Das ist im Tunesien des Jahres 2005 kein leichtes Unterfangen; bis jetzt haben die InitiantInnen keine Räumlichkeiten für den geplanten Anlass finden können. Dennoch geben sie sich optimistisch; sie setzen nicht zuletzt auf den Druck, den international tätige NGO und einzelne Regierungen auf Tunesien ausüben werden. Doch selbst wenn dieser Gegengipfel stattfinden sollte, können dies regierungskritische Kreise kaum als grossen Erfolg verbuchen. Denn er wird kaum mehr als eine zeitlich befristete Plattform für den Austausch mit internationalen NGO und Vertretern europäischer Regierungen sein. Ob sich dabei eine Breitenwirkung erreichen lässt, ist fraglich.

Ben Ali wird gedeckt

Im Vorfeld des Weltinformationsgipfels treten die Machtverhältnisse im Reich Ben Alis überdeutlich zu Tage. Der Präsident scheint sich um die Forderungen der Zivilgesellschaft weitgehend zu foutieren. Für ihn sind die geplanten Aktionen schlicht Zeugniss eines fehlenden Patriotismus. Ben Ali sieht sich in einer Position der Stärke. Vor allem weiss er sehr genau, dass der Westen - in erster Linie Frankreich und die USA - das kleine Tunesien als zuverlässigen Partner «im Kampf gegen den Terrorismus» und der unkontrollierten Einwanderung schätzen und brauchen. Mehr als eine milde Rüge wegen der nur allzu offensichtlichen Menschenrechtsverletzungen handelt sich Ben Ali mit seiner Politik nicht ein. Gute Regierungsführung und Demokratisierung stellen für Frankreich und die USA, die beiden wichtigsten Partner Tunesiens, keine Priorität dar.

An den Machtverhältnissen im Land wird auch der Weltinformationsgipfel nichts ändern. Doch zumindest ein Effekt ist bereits absehbar: Der Gipfel in Tunesien wird immer mehr zu einem Gipfel über Tunesien. Heute Donnerstag findet in Bern eine Medienkonferenz statt, an der die Schweizer Plattform zum Informationsgipfel, comunica-ch, unter anderem über die Lage in Tunesien und über den geplanten Gegengipfel informieren will. Und am kommenden Montag wird die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen Bericht über die massiven Einschränkungen und Menschenrechtsverletzungen im Vorfeld des Gipfels veröffentlichen.


Die Invasion der Phantom-NGO

In Tunesien existieren tausende von Vereinen und Organisationen, die zur Annahme verleiten, im «Musterland des Maghreb» gebe es eine aktive Zivilgesellschaft. Allerdings handelt es sich dabei in den allermeisten Fällen um künstlich ins Leben gerufene Organisationen, die zum Teil sogar unrechtmässig die Namen und Logos internationaler nichtstaatlicher Organisationen (NGO) missbrauchen. «Die Erfindung einer falschen Zivilgesellschaft» nennen Sihem Bensedrine und Omar Mestiri in ihrem neusten Buch «Despoten vor Europas Haustür» dieses beängstigende Phänomen. Sie weisen nach, dass der tunesische Staat unzählige Vereine ins Leben gerufen hat, die den einzigen Zweck haben, die authentischen Organisationen zu bekämpfen, und sie in ihrer Arbeit zu behindern. Organisations véritablement gouvernementales (OVG) oder Gongo werden diese Pseudo-NGO in Tunesien verächtlich genannt. Sie verfügen über keine eigene Basis, werden von staatlichen Agenten gesteuert und halten auch keine Mitgliederversammlungen ab.

Von den über 9400 nichtstaatlichen Organisationen, die offiziell in Tunesien existieren, seien nur gerade sieben wirklich unabhängig, schätzt Essia Bel Hassen, Sprecherin der Frauenorganisation Association Tunisienne des Femmes Démocrates. Diese sehen sich zudem alle mit einer Infiltrationsstrategie konfrontiert, die auf die Kontrolle durch die immer noch fast allmächtige ehemalige Einheitspartei RCD abzielt. Ausserdem blockiert der tunesische Staat regelmässig Gelder, welche diese Organisationen von befreundeten internationalen Vereinigungen erhalten. Gleichzeitig verunmöglicht er es den Organisationen, sich durch Gala-Anlässe oder Geldsammlungen selbständig zu finanzieren. Schliesslich versuchen die Behörden, die missliebigen Organisationen mittels endloser Prozesse lahm zu legen.

Im Vorfeld des Weltinformationsgipfels hatten die Phantom-Organisationen des Regimes eine Reihe peinlicher Auftritte. Mestiri und Bensedrine berichten von einer «Invasion falscher NGO». Die VertreterInnen dieser Phantom-NGO hätten die Delegierten der unabhängigen Organisationen an den Vorbereitungstreffen regelmässig «zu Boden geredet» und sie daran gehindert, ihre Sicht der Dinge darzulegen. Dazu passt ein Vorfall, der sich Mitte September in Genf ereignet hat: Ein hoher tunesischer Funktionär, so erklärt Wolf Ludwig von comunica-ch - der Schweizer Plattform zur Informationsgesellschaft - habe sich zu Unrecht als «Uno-Polizist» ausgegeben und veranlasst, dass eine Sitzung abgebrochen werden musste.

Beat Stauffer

Sihem Bensedrine/Omar Mestiri: Despoten vor Europas Haustür. Verlag Antje Kunstmann. München 2005. 224 Seiten. 16.90 Euro.

Die heiklen Daten aus Genf

Am ersten Teil des Weltinformationsgipfels im Dezember 2003 in Genf bemühten sich die tunesischen GeheimdienstmitarbeiterInnen gar nicht erst, geheim aufzutreten. Säckeweise sammelten sie unliebsame Zeitungen ein, sie störten Veranstaltungen tunesischer Oppositioneller und spendeten ihrem Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali eine lächerlich übertriebene Ovation. Deutlicher hätte Tunesien nicht demonstrieren können, dass es auch als Gastgeber des zweiten Teils des Gipfels nicht vorhabe, die Informationsfreiheit zu achten.

Den Schweizer OrganisatorInnen kann man solches nicht vorwerfen - wohl aber, dass sie mit den am Gipfel anfallenden Personendaten leichtfertig umgingen. Alle akkreditierten TeilnehmerInnen erhielten in Genf ein Badge mit einem RFID-Chip (Radio Frequency Identification). Die RFID-Chips, die auch in Abokarten von Sportbahnen oder in Reisepässen (in der Schweiz als «Pilotprojekt», in der EU ab Anfang 2006 als Standard) zum Einsatz kommen, können auf Distanz gelesen werden.

Sofern sie nicht codiert sind, lassen sich RFID-Chips von jeder Person lesen, die ein Lesegerät mit sich führt - etwa von tunesischen GeheimdienstlerInnen. Je nach Frequenz haben die Chips eine Reichweite von drei bis zehn Kilometern. Ein Lauschangreifer hätte in Genf erfahren, wer als VertreterIn welcher Organisation am Gipfel akkreditiert war, aber auch, wann diese Person das Gelände durch welches Zugangstor betreten und verlassen hat. SportAccess, die Betreiberin des Systems, behauptete seinerzeit, die Reichweite der Chips sei auf einige Zentimeter begrenzt worden und die Daten würden durch die Genfer Polizei nach dem Gipfel zerstört. Die Genfer Polizei allerdings wusste nichts davon. Heute heisst es von SportAccess, dass die Daten codiert gewesen seien.

Nicht die RFID-Technologie an sich sei problematisch, sagt Stéphane Koch, Präsident der Genfer Organisation Internet Society, sondern die Verbindung von RFID, dem repressiven tunesischen Regime und dem «eklatanten Mangel an Bewusstsein für die Risiken» seitens der OrganisatorInnen des Informationsgipfels. Koch versuchte herauszufinden, wo die Daten gespeichert wurden, wer Zugriff darauf hatte und wer dafür verantwortlich war, dass sie gelöscht werden. Sein Fazit: Niemand wusste etwas, niemand kümmerte sich um nichts. Charles Geiger, Exekutivdirektor des Gipfels in Tunis, sagt auf Anfrage der WOZ, dass die Daten inzwischen vernichtet worden seien. Dies hätten ihm die Schweizer Behörden versichert. In Tunis werde wieder RFID zum Einsatz kommen, doch bestünden diesmal Datenschutzrichtlinien. So müssten die Daten binnen 48 Stunden nach Gipfelende vernichtet werden.

Marcel Hänggi