Tunesien: «Jede Krise macht die Linke stärker»

Nr. 14 –

Die Zivilgesellschaft in Tunesien ist stark wie nie, und die Demokratie wird immer stabiler. Dennoch träumen unzählige TunesierInnen von Europa. Denn in ihrem Land fehlt es an wirtschaftlichen Perspektiven.

Der junge Khairi will unbedingt nach Europa. Er spricht alle AusländerInnen an, die er abends im kleinen Teeladen seiner Tante in Tunis bedient. Tagsüber macht er eine Ausbildung zum Coiffeur. Er ist hübsch, höflich und mit viel Sorgfalt gekleidet. So richtig klappen wollen seine abendlichen Bewerbungsgespräche trotzdem nicht. Khairi ist auch nicht der Einzige, der aus dem nordafrikanischen Land raus will: In den vergangenen vier Jahren stellten allein in der Schweiz 7283 TunesierInnen ein Asylgesuch – ohne jede Chance.

Sie wollen weg aus dem einzigen arabischen Land, dem zurzeit eine wirkliche Demokratisierung zugetraut wird. Es ist ein Land mit freien Wahlen, einer Verfassung, die nicht nur die Gleichberechtigung der Frauen festhält, sondern auch Glaubensfreiheit und die Transparenz der Regierungsverhandlungen. Selbst das Recht auf Wasser, eine nachhaltige Entwicklung und Arbeit ist darin festgeschrieben. Doch was nützt die schönste Verfassung, wenn laut dem tunesischen Gewerkschaftsbund UGTT 31 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind (unter den AkademikerInnen sind es gar 45 Prozent) und 24 Prozent in Armut leben?

Linke Organisationen und Gewerkschaften verfügen in Tunesien nur über wenig Einfluss. Von ihren politischen GegnerInnen werden sie pauschal als «Ungläubige» abgestempelt. Kommt dazu, dass die einflussreiche islamistische Ennahda-Partei in den letzten Jahren eigene «Gewerkschaften» und auch eine Vielzahl an karitativen Organisationen gegründet hat, die den Bedürftigen lieber Geld in die Hand drücken, als die Ursachen der Armut zu bekämpfen.

20 000 nichtstaatliche Organisationen

Dabei war es 2011 vor allem das Verdienst der säkularen tunesischen Zivilgesellschaft und nicht zuletzt der Gewerkschaften gewesen, dass Diktator Zine al-Abidine Ben Ali gestürzt wurde – es waren die Proteste der ArbeiterInnen, der Jugendlichen, der Arbeitslosen, der MenschenrechtlerInnen, der Mittelklasse und der Armen. Nur acht Monate später konnten die TunesierInnen eine verfassunggebende Versammlung wählen.

Doch danach drehte sich die politische Diskussion hauptsächlich um Religion und die Verschleppung des Verfassungsauftrags. Die IslamistInnen drohten das Land nach ihrem Gutdünken umzugestalten; das politische Klima wurde immer rauer. Und wieder war es die Zivilgesellschaft, die Tunesien aus der Krise führte. Der Gewerkschaftsbund, der UnternehmerInnenverband, der AnwältInnenverband und die Menschenrechtsliga lancierten einen «nationalen Dialog» zwischen den Parteien. Mit Erfolg: Anfang 2014 trat die Verfassung in Kraft. Im Herbst darauf fanden erstmals freie Parlamentswahlen statt, bei denen das säkulare Parteienbündnis Nidaa Tounes die Mehrheit gewann.

Dass Tunesien einen Weg aus der politischen Krise fand, hat stark damit zu tun, dass nach dem Sturz Ben Alis die Zivilgesellschaft regelrecht explodierte: Gab es unter dem Diktator um die 3000 nichtstaatliche Organisationen im Land, so sind es nun rund 20 000. Der Gewerkschaftsbund spielte schon vorher eine wichtige Rolle. Er genoss noch während Ben Alis Regime eine gewisse Autonomie, unterstützte dann soziale Bewegungen und koordinierte die Proteste, die zum Sturz des Diktators führten. «Wir vertraten die politischen Strömungen der Zivilgesellschaft und die sozioökonomische Kritik, ohne von einer Partei abhängig zu sein», sagt der stellvertretende UGTT-Generalsekretär Kacem Affaya.

Linke Zerstrittenheit

Doch herrscht zumindest innerhalb der Zivilgesellschaft Einigkeit, Gemeinsamkeit und Solidarität? Nicht ganz, die Solidarität bleibt zaghaft. So wurde etwa Kalthoum Kannou, die einzige weibliche Präsidentschaftskandidatin, von den Frauenorganisationen nicht einmal im ersten Wahlgang unterstützt, «weil es für eine tunesische Präsidentin noch zu früh ist». Und das linke Parteienbündnis Volksfront unterstützt kaum je ein Anliegen der UGTT öffentlich, obwohl viele PolitikerInnen Gewerkschaftsmitglied sind. Die Gewerkschaften wiederum setzen die Arbeitslosen zwar als Druckmittel ein, bedienen dann aber vor allem Mitglieder, die eine Arbeitsstelle haben.

Fathi Chamkhi, Abgeordneter der Volksfront und Präsident von Attac Tunesien, weiss ziemlich genau, was alles schiefläuft: «Fast das ganze Parlament verfolgt eine neoliberale Politik – ob die Abgeordneten zur Ennahda gehören oder zu Nidaa Tounes.» Säkular oder religiös zu sein, ist eben noch kein politisches Programm, das das Land aus den wirtschaftlichen Schwierigkeiten retten könnte. «So wird die Revolution für die TunesierInnen zur Enttäuschung», meint Chamkhi. Sie fragten sich, ob es nicht die Demokratie ist, die ihnen Hunger und Armut und Terrorismus bringt.

Und was tut die Linke dagegen? «Wir streiten noch darüber, ob der richtige Weg jener der Albaner, von Mao, Nasser oder der Baathisten ist», antwortet der Abgeordnete lakonisch. Vor den Wahlen hätten die neun an der Volksfront beteiligten Parteien 28 Tage lang durchschnittlich zehn Stunden gestritten, bis sie sich auf die 33 gemeinsamen KandidatInnen und deren Position auf der Liste hätten einigen können. Doch jede Krise mache die Linke stärker, die nächsten Wahlen würden sie gewinnen, ist Fathi Chamkhi überzeugt. Mit einem Programm gegen Liberalisierungen, mit einer Reichtumssteuer, einem Schuldenschnitt und einer Landreform. «Bereit für die Machtübernahme!» werde das Motto lauten. Chamkhi ist ein Optimist: Die Volksfront stellt zurzeit gerade mal 15 von 217 Abgeordneten.

Der Union des Chômeurs Diplômés (UDC), der Gewerkschaft der arbeitslosen AkademikerInnen, ist jeder Optimismus fremd. «Wir werden immer mehr Arbeitslose», sagt Generalsekretär Salam Ayari gegenüber der WOZ. Die tunesischen Universitäten spülen jedes Jahr zwischen 9000 und 12 000 junge Erwachsene auf einen Arbeitsmarkt, auf dem sie keine Chance haben. Die UDC wurde noch in der Zeit Ben Alis gegründet, war aber bis zu seinem Sturz verboten.

Arbeitslose im Hungerstreik

«Für uns hat sich seit der Jasminrevolution 2011 nicht viel verändert. Die Regierung hat überhaupt keinen Plan, wie sie Arbeitsplätze schaffen will», sagt Ayari. Zudem seien die neuen Stellen – 45 000 davon will die Regierung geschaffen haben – alle unter der eigenen Klientel verteilt worden. Gute Jobs fehlten besonders im privaten Sektor: Da gebe es Firmen, die die Mindestlöhne nicht einhielten, Sozialabgaben nicht bezahlten, Einarbeitungszuschüsse kassierten und die Leute dann wieder entliessen – und dazu kaum Steuern bezahlten. Seit über einem Monat ist eine Gruppe der UDC deswegen im Hungerstreik. «Aber die Regierung spricht nach dem Attentat im Bardo-Museum lieber vom Kampf gegen den Terrorismus», sagt Ayari.

So ist es nicht verwunderlich, dass Khairi, der junge Coiffeur, weg aus Tunesien will. Sein Bruder, der ebenfalls Coiffeur ist, sei in Frankreich, erzählt er. Es kann gut sein, dass Khairi weiss, wie schwierig sein Leben dort ist, denn er will lieber in die Schweiz. «Ich bin ein guter Coiffeur», sagt er nochmals.

Weltsozialforum in Tunis : Von Regierungen annektiert

Nur wenige Stunden nach dem Terroranschlag auf das Nationalmuseum von Tunis vom 18. März kam ein E-Mail der OrganisatorInnen: Das zwölfte Weltsozialforum (WSF) in Tunis werde stattfinden, die Teilnahme daran sei die richtige Antwort der demokratischen und pazifistischen Kräfte. Gegen eine komplette Umdeutung des Forums in einen «Kampf gegen den islamistischen Terror» – was nicht nur die tunesische Regierung, sondern auch die meisten nationalen Medien versuchten – wehrten sich die OrganisatorInnen allerdings.

Vor vierzehn Jahren fand das erste Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre statt. Ursprünglich war es als eine Art Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum in Davos gedacht. Inzwischen ist es das grösste weltweite Treffen der sozialen Bewegungen und nichtstaatlichen Organisationen. Oft wird allerdings kritisiert, die Zusammenkünfte hätten keine konkrete Wirkung. «Im Vergleich zum ersten Forum stimmt das vielleicht», sagt Peter Niggli, Geschäftsleiter von Alliance Sud. «Damals waren die Globalisierungsbestrebungen der multinationalen Konzerne, der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation auf einem Höhepunkt.» Als daraufhin ein lateinamerikanisches Land nach dem andern eine linke Regierung erhielt, habe man die Wirkung vielleicht überschätzt. Dennoch meint Niggli: «Dass sich die Entwicklungsländer in den letzten Jahren gegen die extremen Liberalisierungsgelüste des Nordens gewehrt haben, hat unbedingt auch mit dem Forum zu tun.» Viele TeilnehmerInnen finden ohnehin, die Ergebnisse müssten nicht immer konkret und sichtbar sein. Für die meisten Organisationen, Gewerkschaften und Bewegungen sind allein schon die internationalen Kontakte, die am WSF geknüpft werden, von grosser Bedeutung.

Das Weltsozialforum fand dieses Jahr vom 24. bis 28. März zum zweiten Mal in Folge in der tunesischen Hauptstadt statt, und schon im Vorfeld sorgten sich die OrganisatorInnen über die zahlreichen Anmeldungen aus Algerien und Marokko – sie vermuteten staatliche Einflussnahmen, etwa wenn über den Konflikt in der Westsahara diskutiert würde. Eine Sorge, die berechtigt war: Mitglieder von staatsnahen Organisationen aus Algerien störten verschiedene Veranstaltungen mit massiven Zwischenrufen, in den Tagen darauf kam es zu Pöbeleien und körperlichen Angriffen. Der Vertreter der lokalen OrganisatorInnen meint dazu: «Es schmerzt, dass der einzige Raum, in dem über Alternativen diskutiert werden kann, nun von den Regierungen annektiert wird.»

Beim nächsten Mal wird alles anders: Der internationale Vorstand beschloss nach Abschluss des WSF, dass die 13. Austragung im Sommer 2016 im kanadischen Montreal stattfinden soll. Für Peter Niggli ist die Ortswahl eine Schnapsidee: «Welche Symbolik soll das denn haben? Das Sozialforum sollte doch ein Gegenpol zum Weltwirtschaftsforum sein und die Optik des Südens einbringen.» Für viele VertreterInnen der Entwicklungsländer wird die Reise nach Quebec unerschwinglich sein.

Sina Bühler

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