Die USA im Krieg: Das Testament ist gemacht

Nr. 50 –

Während Präsident Bush Durchhalteparolen ausgibt und viele PolitikerInnen in Deckung gehen, denken OffiziersanwärterInnen an den ersten Einsatz.

Wenn über die schneebedeckte Exerzierwiese von West Point die ersten eiskalten Winterwindböen fegen, dann erschliesst sich die historische Bedeutung dieses Orts nur schwer. Das Oval von der Grösse mehrerer Fussballfelder grenzt auf der einen Längsseite an ein Monumentalgebäude im neugotischen Stil des 19. Jahrhunderts. Es beherbergt die Kantine, in der 4000 MilitärschülerInnen üblicherweise ihr Mittagessen einnehmen. Links und rechts lassen sich fernab die Statuen amerikanischer Feldherren erahnen, dahinter erheben sich graue rechteckige Gebäude. Wider alle Erwartungen wehen auf dem Campus der Militärakademie keine US-Fahnen im Wind. Die Architektur des von Baumreihen und Grünflächen durchzogenen Geländes erinnert eher an Harvard, Yale oder Princeton als an eine Eliteschule für US-Militärs.

An der Ostseite des Plateaus kann man hinter dem eher unspektakulären Battle Monument und den Kanonen aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg auf den Hudson hinunterblicken, der sich hier durch die Hügel schlängelt. Von hier aus ist die strategische Bedeutung unschwer zu erkennen, die West Point für die Aufständischen unter George Washington hatte. Wer den Hudson River beherrschte, der während des Unabhängigkeitskriegs von 1775 bis 1783 mitten durch die britischen Kolonien verlief, kontrollierte auch den Nachschub für Truppen und Kriegsmaterial. Washington liess auf dieser Anhöhe befestigte Artilleriestellungen bauen und zwang so die Briten, denen die Falle bewusst war, zur Landung weiter südlich. West Point und die Flussenge blieben uneinnehmbar.

Seit 1802 dient West Point als Kaderschmiede des US-amerikanischen Heeres. Der Name der ältesten Militärakademie der USA ist bereits GrundschülerInnen ein Begriff. Dies erklärt nicht nur die jährliche BesucherInnenzahl von rund drei Millionen, sondern auch, weshalb Präsident George Bush im Juni 2002 hier auf der Exerzierwiese von West Point seine neue nationale Sicherheitsstrategie verkündete, die Strategie des Präventivkriegs. «9/11», der 11. September 2001, habe auch West Point zu verschärften Sicherheitsvorkehrungen veranlasst, erzählt die Rundtourenleiterin am Rande der Exerzierwiese. Das Fotografieren sei jetzt erlaubt, aber die Gruppe - fünfzehn chinesische TouristInnen, acht AmerikanerInnen, ein Deutscher - dürfe die Wiese nicht betreten und müsse unbedingt zusammenbleiben.

24 Minuten Mittagessen

Meine Anfrage beim zuständigen Medienverantwortlichen von West Point, ob der Besuch des Militärfriedhofs möglich sei, war abschlägig beschieden worden. Ausnahmen seien nur möglich, wenn das US-Aussenministerium eine Empfehlung abgebe. Ein Friedhofsbesuch hätte vielleicht ein Gespräch ergeben, womöglich am frischen Grab des im Irak getöteten First Lt. Dennis W. Zilinski. Der 23-Jährige aus dem Bundesstaat New Jersey hatte im vergangenen Jahr in West Point seinen Abschluss gemacht. Viele AbsolventInnen würden lieber in West Point beerdigt als in ihrem Heimatort, sagt die Tourenleiterin. Der vier Jahre dauernde physische und psychische Drill gräbt sich tief in ihre Persönlichkeit ein.

Auch die OffiziersanwärterInnen in ihren grauen Uniformen sind nur aus der Ferne zu sehen. Der Tagesablauf ist streng reglementiert, viel geändert hat sich daran nichts in den letzten 200 Jahren (ausser dass seit 1980 Frauen teilnehmen dürfen): Frühstück um sieben Uhr morgens, gegenseitige Uniform- und Frisurenkontrolle, ein Mittagessen, das nicht länger als 24 Minuten dauern darf, dazwischen traditionelle Schikanen wie die mehrstündige Schinderei in voller Montur. Erlaubt ist den KadettInnen nur ein freies Wochenende pro Semester. Wer den Campus nach Exerzieren, Unterricht und Sport abends verlassen will, braucht eine Sondergenehmigung.

Schon wer Anwärter für West Point werden will, benötigt eine Empfehlung des Gouverneurs seines Bundesstaats oder eines Kongressabgeordneten: Weniger als zehn Prozent der BewerberInnen werden angenommen. BeobachterInnen von aussen werden höchst selten zugelassen. Aber immerhin konnte Ende November der für die Tageszeitung «Philadelphia Inquirer» tätige Journalist Leonard Fleming mit einigen KadettInnen ungestört reden. Das Gespräch fand zu einem interessanten Zeitpunkt statt. Kurz zuvor hatte der demokratische Abgeordnete John Murtha, ein Falke mit guten Verbindungen zum Pentagon, für Aufsehen gesorgt: Murtha, der der Bush-Regierung nahe steht, forderte den Abzug der US-Truppen aus dem Irak innerhalb eines halben Jahres. In dieser Situation konnte Fleming den West-

Point-EliteschülerInnen mehr entlocken als die üblichen Satzbausteine, mit denen Kadetten sonst zitiert werden. «Es stimmt, wir müssen den Irak irgendwann verlassen», sagte etwa der 19-jährige Khalil Gayles aus Louisiana. Und: «Niemand will dauernd Kriege führen.» Die KadettInnen wissen, so Fleming, dass sie nach ihrer Ausbildung in den Irak geschickt werden. Einige hätten deshalb bereits ihr Testament gemacht. Aber - und hier ähneln sich die Argumente sowohl der Militäreliten als auch des US-amerikanischen Mainstreams und grosser Teile der US-Friedensbewegung - es sei «närrisch, das irakische Volk ausgerechnet jetzt sich selbst zu überlassen».

Also gilt es durchzuhalten. Man dürfe sich über das Risiko nicht beschweren, sagte die 22-jährige Offiziersanwärterin Abbie Gottschall dem Reporter Fleming: «Es ist eine Freiwilligenarmee. Wer sich bewirbt, muss auch zum Kampf bereit sein. Wir verteidigen das Land nicht mit Weicheiern.» Seit dem Beginn der Kriege in Afghanistan und im Irak sind 31 West-Point-AbsolventInnen gefallen.

Dissens vor dem Tor

Direkt vor dem Haupttor vor der abgeschotteten Eliteenklave West Point liegt eine andere Welt, liegt Durchschnittsamerika. Ein- und zweistöckige Häuserzeilen säumen die zweispurige Hauptstrasse des 3700-Seelen-Örtchens Highland Falls, dazwischen einzelne Läden. Ein Schneidergeschäft («West Point Cleaners-Expert Tailoring» steht auf dem grünen Schild) bietet «military alterations», das Umarbeiten von Uniformen an. Ja, zwei Minuten habe er Zeit, sagt der junge Mann mit dem Militärhaarschnitt - vorne kurz, angedeuteter Scheitel, über den Ohren noch kürzer - und einer Uniform über dem Arm, der gerade auf die Strasse tritt. Europäischer Journalist, aha, «very interesting», was wollen Sie wissen? Er befinde sich im dritten Ausbildungsjahr, sagt der Mann, der seinen Namen lieber nicht nennen will, spezialisiere sich auf Mathematik und - «yes» - sehe in zwei bis drei Jahren dem Einsatz an der Front im «war on terror» entgegen, Afghanistan, Irak oder anderswo.

Seine Informationen beziehe er aus der «New York Times». Daher sei er über die Zahl und die Namen der gefallenen Kameraden ebenso unterrichtet wie über die jüngsten Bemerkungen des Präsidenten. Was er von den Anwürfen der KriegsgegnerInnen halte, Bush und die Regierung hätten das Land mit Lügen in den Krieg gezogen? Der Kadett denkt nicht lange nach: «Wir müssen den Job beenden, das Land braucht uns», sagt er und geht.

Eine andere Stimmung herrscht um die Ecke, im «Grocery-Deli» an der Mountain Avenue. Hierher verirren sich die sauber herausgeputzten KadettInnen eher selten. Popcorn, Chipstüten und Coke prägen den kleinen Krämerladen, hinter der Kasse hängt ein Marienbild, aus dem Lautsprecher tönt leise Salsa, und die beiden Kids, die im Eingangsbereich auf Kisten hocken, hören Louis Carroso zu, dem das «Delikatessen»-Geschäft zum Teil gehört. Die US-Army müsse sich schon des Ansehens der USA wegen schnellstens zurückziehen, sagt er mit Nachdruck. Die Folterskandale seien ein Resultat des Krieges («es gibt keinen sauberen Krieg»), auch die Demokratie befinde sich in Gefahr. Gegen die Kadetten habe er nichts, aber gegen die Regierung.

Demnächst Teilabzug?

Wo das Problem liegt, ist für Krämer Carroso klar: bei den Republikanern. Doch die Opposition, der er sich als überzeugter Demokrat zurechnet, kann sich nach ihrer massenhaften Zustimmung zum Kriegsbeschluss vor über drei Jahren immer noch nicht darüber einigen, welchen Ausgang das Irakabenteuer nehmen soll. Denn auch bei den DemokratInnen hatte Murthas Vorstoss für Ärger gesorgt. «Unser Militär leidet, die Zukunft des Landes steht auf dem Spiel, unsere Soldaten haben alles getan», hatte Murtha gesagt, «es ist an der Zeit, sie zurückzuholen.»

Die Chefin der demokratischen Fraktion im Repräsentantenhaus, Nancy Pelosi, stellte sich zwar hinter Murtha, und auch Parteichef Howard Dean lehnte sich aus dem Fenster («Die Vorstellung, dass wir den Krieg im Irak gewinnen werden, ist völlig falsch», sagte er vor kurzem in einem Interview). Doch viele führende Parteimitglieder distanzierten sich von Murtha, der ihnen in der Vergangenheit oft als scharfer Redner gedient hatte, wenn es darum ging, als ebenso militaristisch und «tough» zu erscheinen wie die Republikaner. Der stellvertretende Fraktionschef Steny Hoyer lehnt einen schnellen Abzug vehement ab; einem Grossteil der Parteioberen geht der Vorschlag ebenfalls viel zu weit. Sie hoffen, dass die Regierung und mit ihr die Partei der Republikaner aufgrund der Widersprüche des Irakkriegs implodieren, und ziehen es vor, im Hintergrund zu bleiben. Man dürfe sich nicht zu offen gegen den Krieg stellen, sagen sie.

Ähnlich unklar sind die Positionen auf der republikanischen Seite. Erste Risse werden erkennbar, manche setzen sich vorsichtig von der Regierung ab, und alle versuchen, sich vor der Zwischenwahl im nächsten Jahr zu positionieren (bei den «midterm elections» stehen ein Drittel der SenatorInnen, alle Abgeordneten und viele GouverneurInnen zur Wahl). Viele PolitikerInnen sind in Washington vorerst auf Tauchstation gegangen. Aber sie können sich nicht lange verstecken. Denn Anfang Januar müssen sie erneut über Neuausgaben im Rüstungsbereich in Höhe von rund hundert Milliarden US-Dollar beraten.

Derzeit deutet vieles darauf hin, dass es nach der Wahl im Irak - unabhängig von deren Ausgang - zu einem Teilabzug des US-Militärs kommen könnte. Derzeit erörtern die Strategen im Pentagon eine Verlegung von Bodentruppen. Ob dies der irakischen Bevölkerung nützt, ist jedoch zweifelhaft (siehe ganz unten). Denn die Luftangriffe werden wohl weitergehen und der Krieg wird sicher weitergeführt - nur eben mit vermindertem Risiko für die US-SoldatInnen. Die Kadetten von West Point können vielleicht demnächst aufatmen.



Mehr Luftangriffe, mehr zivile Tote

Seit einigen Wochen gebe es in Washington Planspiele für den Fall, dass US-Präsident George Bush nächstes Jahr angesichts der Kritik am Irakeinsatz auch in der eigenen Partei mit einem Truppenabzug beginnt. Das schrieb der angesehene Enthüllungsjournalist Seymour Hersh in der Ausgabe des «New Yorker» vom 5. Dezember. Ein vollständiger Abzug, so Hershs Informanten in der Regierung und im Pentagon, komme jedoch nicht infrage. «Der Krieg wird weitergehen», zitierte Hersh in seinem Bericht den stellvertretenden Direktor des Washingtoner Instituts für Nahostpolitik Patrick Clawson, dessen Ansichten oft dem Denken der Leute um Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld entsprechen. Aber «wir wollen die Zusammensetzung der kämpfenden Truppen ändern - irakische Infanterie mit US-Unterstützung und einem grösseren Einsatz der Luftmacht.»

Mehr Airforce-Einsätze seien ein zentraler Bestandteil aller Rückzugspläne, schrieb Hersh. Mit schnellen, tödlichen Angriffen aus der Luft könne, so glaubten die Strategen, die Kampfkraft selbst der schwächsten irakischen Einheiten deutlich erhöht werden. Dabei fliegt die US-Airforce auch jetzt schon zahllose Angriffe. So bombardierte die 3. Marine-Aircraft-Staffel während der Belagerung von Falludscha im Herbst 2004 nach eigenen Aussagen «wochenlang Tag und Nacht» die Stadt. Insgesamt seien allein von dieser Staffel, so Hersh, zwischen Kriegsbeginn und Ende 2004 Geschosse mit einem Gesamtgewicht von 500 000 Tonnen abgefeuert worden; im Bombenhagel kamen auch viele Frauen und Kinder um. Und «in den letzten Monaten hat das Tempo der Bombardements offenbar noch zugenommen».

Aber wer bestimmt die Ziele? Da der Krieg gegen die Aufständischen in städtischen Gebieten geführt wird, verwenden die Kampfflugzeuge lasergesteuerte Bomben, die auf zuvor ebenfalls per Laser-Leitstrahl markierte Ziele treffen. Nicht die Piloten entscheiden über das Ziel, sondern die mit den entsprechenden Laserstrahlern ausgerüsteten Spezialeinheiten am Boden. «Und diese Aufgabe sollen wir künftig den Irakern überlassen?», zitiert Hersh einen vor kurzem noch aktiven hochrangigen Offizier. Ein anderer Pentagon-Informant befürchtet, dass «viele Iraker alte Rechnungen begleichen wollen» und die ihnen solcherart übergebene Macht künftig zur Ausschaltung rivalisierender Gruppen nutzen könnten. (Ähnliches ist von Afghanistan mehrfach berichtet worden: Afghanische Informanten bezeichneten unliebsame Rivalen als Taliban und gaben sie damit zum Abschuss durch die US-Militärs frei.) Politikprofessor Robert Pape, der mehrere Jahre an einer Airforce-Ausbildungsstätte gearbeitet hat, befürchtet - so Hersh - einen «sehr schmutzigen» Luftkrieg, dem noch mehr ZivilistInnen zum Opfer fallen als bisher schon.

Auch wenn man von diesen Aussagen die militärtypische Arroganz abzieht («wir operieren besser als die anderen») bleibt unter dem Strich erstens: Der Krieg geht weiter, auch wenn die USA ihre Bodentruppen reduzieren. Und zweitens: Die Zahl der Toten und Verstümmelten im Irak wird weiter zunehmen.

Pit Wuhrer