«Familiendramen»: Endstation Eigenheim

Nr. 51 –

Das Eigenheim ist der Traum unserer Zeit. Der Rasen grünt, die Frau stellt Blumen auf den gedeckten Tisch, die Kinder spielen vor dem Cheminée. Und dann werden alle vom Mann erschlagen, der sich anschliessend selbst umbringt.

«Trautes Heim, Glück allein.»

Sprichwort

Immer schneller stirbt es sich im Eigenheim. Statistisch belegen lässt sich das nicht, da weder die Kantone noch der Bund entsprechende Datenbanken führen, doch die Häufung der Delikte ist auffällig: Mehr als fünfzehnmal ereignete sich in der Schweiz in den letzten drei Jahren, was der Boulevard jeweils ein «Familiendrama» nennt.

Zum Beispiel diesen Herbst im bernischen Niederhünigen: Im schmuck umgebauten Stöckli mit den vielen Geranien, der hölzernen Sitzbank, der gusseisernen Laterne und den leuchtend roten Fensterläden finden die Behörden eines Tages Frau und Kinder - blutüberströmt, totgeschlagen. Der 28-jährige Mann hat sich kurz zuvor der Polizei gestellt. Der Nachbar ist fassungslos: Es habe der Familie so gut gefallen «in ihrem Paradies», dass sie «nicht einmal mehr in die Ferien fahren» wollte. Oder im Mai im aargauischen Islisberg: Ein 37-jähriger Familienvater erschlägt ebenfalls mit einem Hammer die Frau und die beiden Kinder und stürzt sich dann von einer Brücke. Oder im März in Muri, ebenfalls im Aargau: Ein Mann erschiesst die Frau, die Kinder, dann sich selbst.

Die Taten muten paradox und archaisch an: Da reisst einer plötzlich sich selbst und seine Nächsten aus dem Leben und macht allem, was er über Jahre sorgfältig aufgebaut hat, ein Ende. Wie kann man das verstehen? Die Psychiatrie spricht von «erweitertem Selbstmord»: Die «kranken» Männer, die sich töten wollen, müssen das, was ihnen «zur Erweiterung des Selbst» dient, also die Familie, ebenfalls töten. Doch woher rührt diese fatale zwischenmenschliche Verstrickung, die offenbar keinen Raum mehr für eigene und fremde Autonomie lässt, woher kommt diese erschreckend archaisch-patriarchalische Pathologie, die - alttestamentarisch gesprochen - den eigenen Samen mit Stumpf und Stiel ausrotten will ?

Paradies in der Enge

Viele dieser verstörenden Fälle ereignen sich im gutschweizerischen kleinbürgerlichen Milieu, in jenen Eigenheimsiedlungen also, in denen die Trottoirs nicht weniger sauber sind als die Küchenfliesen, wo man das Grundstück durch einen Rosenbogen betritt, der von einer Metallkonstruktion gehalten wird, wo unweit des Sitzplatzes eine Rotunde steht, wo am Eingang eine selbst gebrannte, bunt glasierte Keramiktafel anzeigt, dass hier «Familie Müller» wohnt - und wo auch die akkurat gestutzte meterhohe Hecke weder den HausbewohnerInnen noch den PassantInnen verbergen kann, dass es sich nicht um eine grossbürgerliche Residenz handelt. Eng ist es in der Siedlung, so eng, dass die Nachbarn nach dem Verbrechen der Polizei und der Presse jeweils bezeugen können, dass die nun ausgelöschte Familie freundlich, gut integriert, ja vorbildlich war. Das heisst in diesem Milieu: Der Garten war ordentlich aufgeräumt, die Müllsäcke standen nicht schon abends auf dem Trottoir, nach der Nachtruhe drang kein Lärm zum Nachbarhaus, der Mann hatte eine Stelle, die Frau machte im Verein mit, die Ehe verlief in geordneten Bahnen.

Im Nachhinein jedoch tauchen plötzlich Anzeichen auf, die auf Risse im selbst geschaffenen Paradies hinweisen. Im Fall von Muri wollte die Frau offenbar den Mann verlassen. Der Täter von Ittigen, ein Informatiker, der vor drei Jahren die ganze Familie erschoss und sich selbst schwer verletzte, hatte Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und flüchtete sich nächtelang ins Internet. Und der Islisberger Mörder, ebenfalls Informatiker, hörte stundenlang anarchisch-aggressiven Death-Metal. Im Keller unten entwich er der kleinbürgerlichen Idylle, die oben im besten Licht glänzte.

Verstehen kann man diese Verbrechen am ehesten, wenn man sie nicht als «Familiendrama» oder «Familienmord», sondern als sozusagen transhistorisches Gesellschaftsdrama liest, in dem eine soziale Pathologie sich selbst plötzlich auf Leben und Tod bekämpft. Mit dem französischen Soziologen Emile Durkheim lässt sich in diesen Verbrechen das Amalgam zweier Suizidtypen erkennen: des «fatalistischen» und des «altruistischen Selbstmordes». Ersterer, schreibt Durkheim in seiner klassischen Studie «Der Selbstmord» (1897), «erwächst aus einem Übermass an Reglementierung»; es ist der Selbstmord «derjenigen, denen die Zukunft mitleidlos vermauert wird, deren Triebleben durch eine bedrückende Disziplin gewaltsam erstickt wird». Vieles deutet darauf hin, dass sich die Täter in eine kleinbürgerliche Enge hineinmanövriert hatten, in der nur noch die Sorge um die Finanzierung und die Ausstattung des Eigenheims Platz fand. Ihr Freitod lässt sich als letzten Ausweg aus dieser Existenzform lesen; einen anderen gab es offensichtlich nicht, weil sie sonst der Aussenwelt, die ihnen in der Siedlung dicht im Nacken sass, ihre Kapitulation hätten eingestehen müssen. Unerträglich wäre die Scham gewesen.

Die Sorge des Hausvaters

Warum aber lassen es diese Männer nicht beim eigenen Freitod bewenden? Die Ermordung der übrigen Familienmitglieder kann in einem zweiten Schritt als Vorwegnahme dessen verstanden werden, womit der Täter - aus seiner Perspektive: leider - nicht rechnen darf: des «obligatorischen altruistischen Selbstmords». Dieser Suizidtyp ist nach Durkheim typisch für traditionelle Gesellschaften, die sich durch strikte Hierarchien und kaum ausgeprägte Individualitätsformen auszeichnen; es herrscht eine «rüde Moral, in der die Belange des Einzelnen nichts wiegen». Als Beispiele führt Durkheim die Selbsttötungen von Dienern und Gefolgsleuten beim Hinschied ihres Herrn oder den hinduistischen Brauch an, bei dem sich die Witwe nach dem Tod ihres Mannes umbringen muss, weil sie mit diesem ihren Platz in der Welt verloren hat: «Das Geschick des einen muss auch das Geschick des andern sein.»

Der «Familienmörder» agiert genau in dieser Logik, obschon er in der modernen Welt lebt. Er fantasiert sich in eine traditionelle patriarchalische Welt hinein, in der er der «Hausvater» ist, der über die Mitglieder seines Hauses herrscht und wacht, der sie ernährt, ihnen den Ort zuweist und ihrem Leben einen Sinn über die Gegenwart hinaus gibt. Nun ist diese Vorstellung keineswegs aus der Luft gegriffen. Sie hat die europäischen Gesellschaften mit dem idealisierten Modell des «ganzen Hauses», das auf den realen Ausprägungen der bäuerlichen und gewerblichen Familienwirtschaften beruht, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts dominiert. Im «ganzen Haus» - der Begriff wurde 1854 vom konservativen deutschen Soziologen Wilhelm Heinrich Riehl geprägt - steht der Hausvater den drei Herrschaftskreisen der «ehelichen», der «elterlichen» und der «herrschaftlichen Gesellschaft» (dem Gesinde) vor.

Paradoxerweise verschärfte sich die patriarchale Komponente des «ganzen Hauses» in dem Moment, als es geschwächt wurde, als nämlich am Ende der Frühneuzeit dessen wirtschaftliche Grundlage, die Einheit von Haushalt und Betrieb, aufgehoben wurde. Um 1800 schreibt Johann Georg Krünitz in seiner weit verbreiteten «Oeconomischen Encyclopaedie»: «Wenn es der Natur der Sache gemäss ist, dass der Schwächere von dem Stärkeren, der Beschützte von dem Beschützer, der Ernährte von dem Ernährer abhängen muss: so folgt auch, dass die Frau der häuslichen Gewalt des Mannes unterworfen seyn muss.» Zwar, muss Krünitz zugeben, «giebt es auch Fälle und Haushaltungen, wo die Frau den Mann ernährt, wo sie ihn beschützt, wo sie für den armen Tropf denkt und handelt. Allein, diese Scheingründe sind zu schwach, das männliche Geschlecht oder den Hausvater überhaupt um Gewalt und Ansehen zu bringen (...)» Krünitz formuliert damit einen Herrschaftsanspruch, der sich im 19. und 20. Jahrhundert mit der ideologischen Figur des männlichen «Alleinernährers» Geltung verschaffen sollte.

Der «Familienmörder» schreibt sich mit seiner Tat in eine traditionelle Welt ein, die es in der von ihm fantasierten Art nie gegeben hat: Wenn der «Hausvater» geht, muss in dieser pathologischen Logik auch seine Familie gehen, da sie mit ihm den Platz auf Erden verloren hat und ohne ihn nicht lebensfähig ist. Weil er aber nicht damit rechnen kann, dass seine Familie den - nach Durkheim - «obligatorischen altruistischen Selbstmord» vollzieht, nimmt er ihn in seinem patriarchal-narzisstischen Wahn präventiv vorweg. Im Grunde - so seine Logik - bewahrt er seine Familie vor der Schmach und dem Elend, ohne ihren Herrn leben zu müssen.

Staatsbürger und Bausparer

Der Schauplatz dieses Sozialdramas ist häufig das Eigenheim, der grosse Traum unserer Zeit. In den letzten dreissig Jahren hat in der Schweiz der Anteil der Einfamilienhäuser am gesamten Gebäudebestand um 16 Prozent zugenommen (auf 56 Prozent). Dank der tiefen Hypothekarzinsen ist der Erwerb eines Eigenheims für breite Bevölkerungsschichten günstiger denn je. Die Banken bieten nicht nur auffallend offensiv niedrige Zinssätze an, sondern verkaufen das «gute Gefühl, frei und unabhängig in Ihre eigenen vier Wände einzuziehen», gleich mit. Auch von staatlicher Seite sollen Bau und Erwerb eines Eigenheims gefördert werden. Zurzeit sind drei parlamentarische Initiativen sowie eine Standesinitiative (des Kantons Baselland) hängig, die das «Bausparen» auf eidgenössischer Ebene einführen wollen: Wer einen Teil seines Einkommens auf sein Bausparkonto einzahlt, muss dieses Geld «zwingend für den Erwerb beziehungsweise Bau von selbst bewohntem Wohneigentum» verwenden - dafür muss er es nicht versteuern.

Die InitiantInnen sehen darin eine «Chance für die Schweiz»: Das Bausparen wirke gerade bei jungen Familien «eigentumsfördernd», was für den Erwerb eines Eigenheims «unerlässlich» sei. Daraus wiederum ergebe sich eine «Förderung des akut gefährdeten Mittelstandes» und eine Ankurbelung der Wirtschaft. Die hinter dem Modell Bausparen stehenden Fantasien sind unschwer erkennbar: Wer ein Haus besitzt, ist für Staat und Gesellschaft eine unabdingbare Stütze. Mehr noch: Erst der Besitz eines Hauses bringt die charakterlichen Eigenschaften hervor, die einen verlässlichen und verantwortungsbewussten Staatsbürger auszeichnen, der im Idealfall ein Unternehmer ist.

Versickerte Fantasien

Vielleicht ist der Traum vom Eigenheim deshalb so anziehend, weil es in den Erwachsenen kindliche Sehnsüchte nach Wärme, nach Geborgenheit und dauerhafter Stabilität wachruft. Genau das erhofft sich das junge Paar, das jahrelang gespart hat und nun abends in Wohnzeitschriften blättert und samstags in den grossen Möbelgeschäften nach passenden Betten, Lampen, Bildern und Teppichen sucht, die das Eigenheim noch gemütlicher machen und das generationenübergreifende Bollwerk noch mehr für den Kampf gegen die Zumutungen des Alltags und den Zerfall durch die Zeit rüsten.

Doch allzu oft entpuppt sich das Eigenheim, das so viel privates Glück versprach, nicht nur in finanzieller Hinsicht als «Hauptquelle des kleinbürgerlichen Elends», wie Pierre Bourdieu in «Der Einzige und sein Eigenheim» (1998) schreibt. Bald reichen die Wünsche und Fantasien des Paars nur noch bis zum Trottoir, bald nicht einmal mehr über die Türschwelle hinaus; stumm versickern sie zwischen der neuen Salzmühle und den glänzenden Serviettenringen. Das «Haus Meier» ist kein «ganzes Haus», sondern schrumpft je länger, desto mehr auf ein zu enges Häuschen mit zu kleinem Gärtchen zusammen, auf einen farblich dekorierten, jedes Geräusch absorbierenden Bunker, einen jede Regung abtötenden Eisschrank, die Hölle.

Der französische Epistemologe Gaston Bachelard kommt in seiner «Poetik des Raumes» (1957), welche die auf verschiedenste Räume bezogenen Vorstellungen literarischer Werke untersucht, schon im ersten Drittel zum Schluss, der wahre «Wohnträumer» sei zwar «überall einquartiert, aber nirgends eingeschlossen»; nur so bleibe die «Freiheit des Wohnens» erhalten. Wer ein festes Haus hat, gibt das Nomadisieren und damit das Provisorische auf, das immer wieder verändert werden kann. «Vielleicht», schreibt Bachelard, «ist es gut, einige Träume festzuhalten, die sich auf ein Haus richten, das wir später einmal bewohnen wollen, immer später, so spät, dass wir nicht die Zeit haben, es zu realisieren. Ein endgültiges Haus wäre ein Sterbehaus.» ◊