Amok und Terror: Die Anrufung zum Morden

Nr. 31 –

Der IS, aber auch die nationalsozialistische Ideologie «verwandeln» den Wahn einsamer Wölfe in eine «politische Tat». Aus Sinnlosigkeit und psychischen Defekten werden ein Bedeutungszusammenhang und eine Identität geschöpft.

Die wiederkehrende Frage dieses Sommers lautet: Amoklauf oder Terroranschlag? Die Frage also: Sind die Horrorszenarien, die diesen Sommer takten, «politische Aktionen» oder Ergebnis psychischer Störungen? Bei einem Amoklauf tötet ein psychisch entgleister Einzelner blindlings und wahllos. Ein politischer Terrorakt hingegen reklamiert für sein Tun, so schrecklich dieses auch sein mag, einen Sinn, ein Ziel und eine Erzählung. Der sogenannte Islamische Staat (IS) streicht das «oder» durch. Er bietet quasi die Möglichkeit, gerade den Amoklauf zu einer «politischen Aktion» zu machen. Der IS gibt also gleichsam die Möglichkeit, einzelne Pathologien, private Störungen in sein System einzuordnen.

Wir denken irgendwie immer noch im Prinzip des Heroismus – selbst dort, wo er negative Vorzeichen hat. Also im Prinzip eines exemplarischen Handelns, einer ungewöhnlichen Leistung, die einen Einzelnen zu einem herausragenden Subjekt macht.

Übersetzte Verlorenheit

Dem IS hingegen ist es gelungen, auch das gegenteilige Prinzip zu verwerten: Er ermöglicht Einzelnen, sich über ihre Defekte, über ihr Versagen, über ihre Verhinderungen mit einem grösseren Ganzen kurzzuschliessen. Der psychische Defekt ersetzt bei diesen Attentaten eigentlich alles: Er ersetzt die politische Motivation, die gefestigte Ideologie, die politische Organisation, das technische, das organisatorische, das physische Können.

Der IS übersetzt die Verlorenheit, die Entwurzelung, die psychische Labilität des Einzelnen, die sich in einem sinnlosen Tötungsakt entlädt. Er verwandelt die Entladung in eine «Artikulation» – als ob sich da etwas äussern würde. Wie macht der IS das? Kommt er hinterher und reklamiert die Taten für sich? Adoptiert er die Täter nachträglich? Sicher auch das. Aber die reine Instrumentalisierung alleine greift zu kurz. Das, was dem vorausgeht, ist eine Anrufung. Anrufung ist, laut dem französischen Philosophen und Marxisten Louis Althusser, der Mechanismus der Subjektbildung. In jeder Institution – in den Familien, in Schulen, Kirchen, am Arbeitsplatz, in den Parteien –, überall werden die Individuen angerufen. Es ergeht also ein Ruf an sie, ein Appell, der ihnen eine Identität verleiht, der sie zu eindeutigen Subjekten macht. Diese Anrufung ist nicht einfach ein Satz. Sie funktioniert vielmehr über eine Vielzahl materieller Anordnungen: Der Ruf erreicht den Einzelnen in und durch kollektive Rituale, Gewohnheiten, Versammlungen. Er ist physisch, ja sogar räumlich verankert. Der Ruf wird über ein institutionelles Ganzes transportiert.

Vom IS geht nun genau das aus: eine Anrufung. Ein Ruf, der die Einzelnen mit einer Identität versorgt. Der sie in ein grösseres Ganzes einbindet, als dessen Stellvertreter sie sich fühlen können, in dessen Namen sie agieren. Er gibt ihnen eine Position («Soldat»), ein Ziel («Kalifat»), und er liefert ihnen eine Ordnung – also eine Unterscheidung zwischen Gut und Böse, zwischen Erlaubtem und Verbotenem. Und die zentrale Bestimmung: Wer sind die Freunde, wer sind die Feinde. Kurzum – der IS liefert den Einzelnen Bedeutung in jeder Hinsicht. Das Besondere daran ist, dass diese Anrufung anscheinend auch ohne materielle Anordnung gelingen kann. Der IS ist das Paradoxon einer archaischen Institution, die auch virtuell funktioniert: eine Long-Distance-Anrufung ohne physische Verankerung. Eine entmaterialisierte Anrufung, die nur das Schnittmuster zum Selberbasteln der Identität bereitstellt. Ein Albtraum für jeden Geheimdienst.

Und der IS ermöglicht es pathologisierten Jugendlichen, ihr Verlangen nach Zugehörigkeit durch Morde auszuleben. Damit wird der psychische Defekt zu einer Produktivkraft des IS, einer Produktivkraft, die reine Destruktion ermöglicht. Die psychopolitische Voraussetzung zu solchen Taten scheint nicht eine gefestigte Ideologie zu sein. Sie morden nicht aus Überzeugung wahllos in der Menge. Es sind vielmehr Leute, die sich selbst als überflüssig erleben, denen ihr Leben sinnlos erscheint, die solche überflüssigen, sinnlosen Gewalttaten begehen. So viel Sinnlosigkeit. Und einzig der IS zieht einen Mehrwert daraus.

Gefühlsgemenge von rechts

Aber man kann solche Taten nicht nur mit einer islamofaschistischen Ideologie begehen. Auch die nationalsozialistische Anrufung eignet sich noch heute dafür, wie das Münchner Attentat vom 22. Juli 2016 gezeigt hat. Nicht zufällig wurde das Attentat zunächst für eines mit islamistischem Bezug gehalten. Es unterschied sich im Ablauf nicht davon. Erst die Indizien der Täterbiografie brachten die Erkenntnis, dass es sich um ein rechtsradikales Verbrechen gehandelt haben muss. Seine deutsch-iranische Herkunft hinderte den Täter nicht, diesem Ruf Folge zu leisten und «Nicht-Arier» zu meucheln. Aufschlussreich ist, dass er sich dafür den norwegischen Attentäter Anders Breivik zum Vorbild genommen hatte und sein Attentat am fünften Jahrestag des Massakers von Utoya beging.

Auch Anders Breivik war am 22. Juli 2011 einer Anrufung gefolgt. Auch diese war eine Long-Distance-Anrufung, die ihn als einsamen Wolf, als der er sich inszenierte, dennoch erreichte. Auch als «Einzelkämpfer» war er angewiesen auf ein Milieu von Gleichgesinnten. Dieser Schläfer war wie jeder Schläfer ein Einzelner, der Teil einer Masse ist. Wobei die Masse, wie schon der französische Sozialpsychologe Gustave Le Bon schreibt, keine physische Ansammlung sein muss, sondern auch eine kollektive Denk- und Fühlweise sein kann. Diese bot Breivik eine sowohl emotionale als auch kognitive Befestigung in einem Milieu. Klandestin, allein gegen den «Feind», braucht er eine Anrufung, die seine Affektintensität steigert. Das Manifest, das er im Internet veröffentlichte, zeigt deutlich, woher diese Anrufung kam. Dieser Text ist durch zahlreiche Fäden mit einem gewissen öffentlichen Diskurs verknüpft: Hier werden seitenweise rechte Autoren zitiert und Haltungen von Politikern übernommen, die europaweit auf dem Vormarsch sind.

Das Attentat war wahnsinnig, aber die Beweggründe des Attentäters waren nicht dessen private Pathologie. Die politischen Äusserungen, auf die sich Breivik beruft, die Texte, die er zitiert, enthalten keinen Aufruf zur Gewalt. Aber sie stellen einen Zusammenhang her, in den Breivik und nun auch der Attentäter von München sich eingereiht haben. Es ist dies der Zusammenhang einer Emotion. Die Anrufung dieser Texte ging nicht einfach von ihren fremdenfeindlichen Inhalten aus. Diese apokalyptischen Untergangsfantasien erzeugen vielmehr ein Gefühlsgemenge aus Hass, Hysterie und Paranoia. Insofern geht von diesem Diskurs ein verheerender affektiver Ruf aus, der sogenannte einsame Wölfe erreicht.

Isolde Charim ist freie Publizistin und Philosophin. Sie lebt in Wien.