Markus Theunert: «Der Mann ist zugleich Gefangener und Wächter seiner eigenen Zelle»

Nr. 47 –

Der Gleichstellungsaktivist und Männerberater Markus Theunert will den Durchschnittsmann davon überzeugen, sich zu emanzipieren. Im Gespräch erklärt er, wieso das bisher kaum gelingt – obwohl es für die eigene Gesundheit, die Demokratie und den Planeten gut wäre.

Portraitfoto von Markus Theunert
«Die Zugehörigkeit zur Gruppe der ‹richtigen Jungs› ist wichtiger als die Treue zu sich selber. Das ist das Urdrama»: Markus Theunert.

WOZ: Markus Theunert, vor einem halben Jahr ist Ihr neues Buch erschienen, ein Ratgeber, der sich als «Kompass für Männer von heute» versteht. Sie wollen damit explizit den durchschnittlichen weissen, heterosexuellen cis Mann erreichen. Wissen Sie bereits, ob das klappt?

Markus Theunert: Ich bin positiv überrascht über die Resonanz. Das Buch sei für ihn ein Leuchtturm im Alltag, hat mir ein Leser geschrieben, das hat mich gerührt. Wenn es das sein kann, wow! Gleichzeitig kommen solche Reaktionen wahrscheinlich von Männern, die sich bereits in einem Prozess befinden und ihre Männlichkeit hinterfragen. Ich gehe davon aus, dass man die männliche Bevölkerung grob in drei Gruppen einteilen kann. Das erste Drittel nimmt die Herausforderung der Gleichstellung an, denen kann mein Buch etwas Orientierung geben, auch Bestätigung. Am anderen Ende des Spektrums ist die Gruppe, die findet, Frauen gehörten wieder hinter den Herd. Die spreche ich gar nicht an; ich habe nicht den Nerv, darüber zu diskutieren, ob es Gender gibt. Das mittlere Drittel wäre meine eigentliche Zielgruppe. Die finden Gleichstellung an sich eine gute Sache, aber wissen nicht recht, wie das gehen soll, oder sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden. Meine bisherige Erfahrung sagt, dass ich die mit einem solchen Buch vor allem indirekt erreichen kann – über ihre Partnerinnen.

Wieso erreichen Sie die Gruppe in der Mitte nicht direkt?

Ich vermute, dass mein Buch trotz grösstem Bemühen zu wenig niederschwellig ist. Ursprünglich wollte ich ein einfaches, schlankes Bändchen schreiben, das man an der Kasse in der Buchhandlung für zehn Franken noch schnell einpackt. Es war mir aber auch wichtig, genau zu sein und meine Thesen mit Fachliteratur zu belegen, das braucht halt Platz. Aber ich muss sagen, und das meine ich auch selbstkritisch: Es gibt ein Vermittlungsvakuum. Es braucht Möglichkeiten, den Geschlechterdiskurs für den Durchschnittsmann anschlussfähig zu machen.

Der Gleichstellungsaktivist

Markus Theunert (50) hat Psychologie und Soziologie studiert und ist seit 2016 der fachliche wie operative Leiter von männer.ch, der Dachorganisation der progressiven Männerorganisationen der Schweiz. 2005 war er Mitgründer und bis 2015 der politische Kopf der Organisation. 2000 hat er die Schweizer «Männerzeitung» gegründet, die später in «Ernst» umbenannt und Anfang Jahr eingestellt wurde. 2012 war er Männerbeauftragter des Kantons Zürich, als erster Mann in einer solchen Funktion zumindest im deutschsprachigen Raum.

Theunert arbeitet auch in der Erwachsenenbildung und als Autor. Zuletzt erschienen ist von ihm «Jungs, wir schaffen das» (Kohlhammer, 2023), ein Ratgeber für die männliche Emanzipation.

2019 traten Sie im «Club» von SRF auf, es ging um «toxische Männlichkeit», der Begriff kam da gerade auf. Wenn man dieser Runde aus mehrheitlich alten und mehrheitlich konservativen Männern zuschaut, hat man den Eindruck, es ist viel passiert in diesen vier Jahren.

Ich habe mir die Sendung gar nie angeschaut. Mich hat das recht schockiert, wie SRF da eine ganze Armada mit männerrechtlerischer Schlagseite aufgeboten hat. Ich habe auch nicht gut reagiert, war zu aggressiv, wenn auch aus Verzweiflung. Aber das ist eine spannende Beobachtung – wie kommen Sie darauf?

In der Zwischenzeit hat sich die SVP den Kampf gegen Gender Studies und queeren Aktivismus auf die Fahne geschrieben. Vielleicht würde man einen wie Toni Bortoluzzi, der von der Natur des Mannes faselt und wie dieser nur das Weibchen beeindrucken wolle, heute nicht mehr in eine solche Sendung einladen. Dafür vielleicht eine Person, die kein cis Mann ist?

Tatsächlich ist die Sensibilität gegenüber nonbinären und trans Identitäten gestiegen. Aber ich sehe nicht wirklich eine Verbindung zum Männlichkeitsdiskurs, da gibt es im Mainstream kaum Bewegung. Das Grundproblem scheint mir: Es gibt diesen Diskurs zwar – Stichwort toxische Männlichkeit –, aber er wird gnadenlos oberflächlich geführt. Ich sehe keine gesellschaftliche Bereitschaft, die Kritik an Patriarchat und Männlichkeit als systemische Reflexion anzugehen, sie auch mit der Frage nach einem nachhaltigen Umgang mit natürlichen Lebensgrundlagen zu verbinden, das androzentrische, also männlichkeitszentrierte Unbewusste, etwa in der Gleichstellungspolitik, auszuleuchten. Von den Institutionen kommt ja nichts in dieser Richtung. Und es gibt kaum Männer, die Männlichkeit in der Öffentlichkeit zum Thema machen.

Von nonbinären und trans Personen in der Öffentlichkeit kann sich der Durchschnittsmann leicht abgrenzen.

Genau, weil das scheinbar nichts mit ihm zu tun hat. Schon bei Conchita Wurst, der Travestiekünstlerin, die 2014 beim Eurovision Song Contest auftrat, dachte man: Dass so eine Figur einen derart biederen Contest gewinnen kann, muss doch ein Zeichen dafür sein, dass die Gesellschaft sich wandelt! Aber tolerierte Exot:innen sind nur bedingt Ausdruck echter Normalisierung von Vielfalt.

Wieso kommt die Diskussion um Männlichkeit nicht vom Fleck?

Es gibt einen verbreiteten Denkfehler: Wenn die traditionellen Vorstellungen, wie ein Mann sein soll, so stark kritisiert werden und so offensichtlich dysfunktional sind, dann müssen diese sich doch bald selber überleben. Väter sind jetzt präsenter, Männer lernen emotionale Kompetenzen, sind teamfähiger und so weiter. Also kann es doch nur eine Frage der Zeit sein, bis das Alte abstirbt und das Neue zur Hegemonie wird. Ich halte diese Annahme für vollkommen realitätsfremd. Traditionelle Männlichkeitsnormen sind zwar offensichtlich gesundheitsschädigend und demokratiegefährdend, aber dass diese Erkenntnis Männer in der Breite erfasst und in der Tiefe zum Hinterfragen bewegt: Ich sehe es nicht.

Was geschieht stattdessen?

Viele Männer sind in einem Vakuum gefangen, weil sie widersprüchlichen Botschaften ausgesetzt sind: Die traditionellen Normen gelten weiterhin, es bleibt also alles wie immer. Hinzu kommen aber auch viele neue Normen, es soll also auch alles anders sein. So entsteht viel Verwirrung und Wut, weil die meisten Männer nicht wissen, wie sie mit dieser Spannung umgehen sollen.

Die Beständigkeit traditioneller Männlichkeit zeigt sich für Sie auch in der Gleichstellungspolitik.

Ich möchte betonen, dass es mir nicht um die wertvolle Arbeit geht, die – vor allem von Frauen – in diesem Bereich geleistet wird, sondern um den politischen Auftrag, der dahinter steckt. Ich finde es wichtig, den androzentrischen Ansatz der Gleichstellungspolitik klar zu benennen. Gleichstellung geht davon aus, dass es einen Massstab gibt, nämlich das Männliche, und eine Abweichung davon, das Weibliche. Problematisch daran ist nicht nur das binäre Konzept, sondern auch der quantitative Ansatz: als sei nicht das patriarchale System als solches das Problem, sondern «nur» der Mangel an Verteilungsgerechtigkeit.

So werden Frauen allein darauf getrimmt, sich an einer männlichen Erwerbsbiografie und einem männlichen Konsumverhalten zu orientieren. Ich gönne es jeder einzelnen Frau, die sich ein Cabrio leistet, weil sie einen dicken Lohn hat, aber ich weigere mich, das in einer grösseren Perspektive als Fortschritt zu sehen. An dieser Stelle käme im Referat mein Lieblingsbeispiel: Es gibt weltweit ein einziges Land, in dem es mehr Raucherinnen als Raucher gibt, wissen Sie, welches?

Schweden. Das Beispiel bringen Sie regelmässig.

Ich finde es einfach so anschaulich. Die Lebenserwartung von Frauen und Männern war Anfang des 19. Jahrhunderts etwa gleich, dann ist die Schere aufgegangen, bis in den achtziger Jahren Männer im Schnitt sieben Jahre früher starben. Nun wird der Unterschied wieder kleiner, vor allem, weil Frauen angefangen haben, sich vergleichbar gesundheitsschädigend und riskant zu verhalten wie Männer und die Männer nur wenig gesünder leben. Der Kern des Patriarchats ist die Alternativlosigkeit des Prinzips Selbst- und Fremdausbeutung. Aber Gleichstellung lässt sich nicht von sozialer Gerechtigkeit trennen. Wenn am Schluss die privilegierten Frauen den privilegierten Männern gleichgestellt sind, aber die soziale Ungleichheit grösser geworden ist, dann ist das nicht meine Gleichstellung.

Sie haben von der fehlenden Bereitschaft von Institutionen gesprochen. Können Sie ein Beispiel nennen?

Bei männer.ch, dem Dachverband der progressiven Männerorganisationen, hatten wir verschiedene Projekte, um die Geschlechterbalance in pädagogischen und sozialen Berufen zu verbessern. Der Männeranteil an Primarschulen sinkt rasant, bei Kitas und Kindergärten ist er eh schon im einstelligen Prozentbereich. Dabei ist gut belegt, dass Kinder von vielfältigen Bezugspersonen profitieren – und insbesondere Jungen männliche Identifikationsfiguren brauchen, damit sie sich nicht an problematischen virtuellen Helden orientieren. Solange kein Mangel an Studierenden herrscht, tun die pädagogischen Hochschulen dafür kaum etwas.

Und damit kommen sie durch?

Von Christian Dittloff, der das Buch «Prägung» über Männlichkeit geschrieben hat, stammt der Satz: «Das Patriarchat versteckt sich vor aller Augen.» Dass unsere Welt patriarchal strukturiert ist, ist so allgegenwärtig, dass man es kaum kritisieren oder angreifen kann. Für zentral halte ich das Verdrängen männlicher Privilegiertheit.

Das heisst?

Der erste Schritt wäre, dass Männer anerkennen, dass sie strukturelle Privilegien geniessen, selbst wenn sie persönlich gar nicht privilegiert leben. Man spricht auch von der patriarchalen Dividende – dass Männer davon profitieren, wenn sie sich patriarchalen Normen unterwerfen. Und in einem zweiten Schritt, dass es in ihrer Verantwortung liegt, verantwortungsvoll damit umzugehen. Wenn Männer zumindest das täten, würden sie sich von einer Diskussion wie der um toxische Männlichkeit nicht mehr persönlich angegriffen fühlen, weil sie einordnen könnten, dass es um Strukturen und ihre gesellschaftliche Rolle geht. Das bringt Entlastung. Die Einsicht in die eigene strukturelle Privilegiertheit halte ich für den besten Schutz gegen antifeministische Ressentiments.

Macht Sie diese Starrheit manchmal wütend?

Wütend … na ja. Eher hadere ich, bin traurig oder verzweifelt. Ich erkläre das Problem oft mit einem Bild: Der Mann ist zugleich Gefangener und Wächter seiner eigenen Zelle. Er braucht gar keine äussere Instanz, um alles, was unmännlich sein könnte, wegzusperren, etwa Bedürftigkeit. Der grosse Entwicklungsprozess ist, mit seinem eingesperrten bedürftigen Anteil in Verbindung zu treten und darauf zu hören.

Wird das über die Generationen nicht besser?

Die Menge des Weggesperrten wird kleiner, die Mauern werden dünner, aber der Mechanismus bleibt derselbe: Männliche Sozialisation führt zu Selbstentfremdung. Weil es für Buben weiterhin zu riskant ist, ihre Bedürftigkeit und Verletzlichkeit zu zeigen. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der «richtigen Jungs» ist wichtiger als die Treue zu sich selber. Das ist das Urdrama.

Wie sind Sie zum Männeraktivisten geworden?

Ich sehe mich eher als Gleichstellungsaktivisten, der männlichkeitskritische Perspektiven beisteuert. Aber das Etikett «Männeraktivist» stört mich auch nicht. Mein Engagement kommt tatsächlich aus einer tiefen Zuneigung zu Männern, und ich wünsche mir, dass sie den Autopiloten, den männliche Sozialisation bei ihnen installiert, überwinden können. Dafür habe ich einen starken inneren Antrieb; die Freiheit, diese Arbeit nicht zu machen, habe ich eigentlich nicht.

Hat Ihre Motivation auch einen biografischen Ursprung?

Ich bin in einem kleinbürgerlichen, arbeiternahen Milieu in einem städtischen Umfeld aufgewachsen. Mein schulisches Umfeld war intellektuell, meine Eltern habe ich in Sachen Bildung und Redegewandtheit schnell überflügelt. Gleichaltrige Freundinnen und auch Lektüren haben mich feministisch geprägt, mit fünfzehn habe ich mich als Feministen gesehen. Ich hatte ein sehr schlechtes Männerbild und war früh davon überzeugt, dass die Welt eine bessere wäre, wenn Männer anders wären. Wie alt sind Sie?

36.

Ich finde den Vergleich immer interessant. Der globale Blick fehlte uns zwar noch, wir diskutierten damals über sauren Regen und Borkenkäfer, aber das Thema war bereits das gleiche: Wenn wir so weitermachen, zerstören wir unsere Lebensgrundlagen. Mir war früh klar, dass die kapitalistische Wachstumsideologie mit patriarchalen Herrschafts- und Ausbeutungsdynamiken zusammenhängt.

Spielten männliche Räume für Sie eine Rolle? Ich erinnere mich, wie es für mich mit achtzehn undenkbar war, in die Armee zu gehen. Ich glaube, das hatte stärker mit der Angst vor bestimmten Ausprägungen von Männlichkeit zu tun als etwa mit Pazifismus.

Das kenne ich. Tatsächlich wurde ich in der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee politisiert. Vor der Abstimmung über die Abschaffung der Armee 1989 verteilte ich Flyer, da war ich sechzehn. Dabei hat sicher auch ein Widerstand mitgespielt, in diesem Männerverein mitzumachen.

Wie war Ihr Leben als Feminist?

Ich hatte eine gute Stellung in meinem Umfeld und viele Freundinnen. Man hat gern mit mir geredet, ich war eine Vertrauensperson. Aber als Sexualpartner war ich für Frauen nicht attraktiv – oder ich war zu schüchtern, um es zu merken. Das hat mich sehr beschäftigt. In meiner Vorstellung verhielt ich mich zwar so, wie ein Mann eigentlich sein sollte, dafür fühlte ich mich sexuell nicht wahrgenommen.

Wie hat sich das ausgewirkt?

Zuerst wurde ich magersüchtig. Das zwang mich quasi dazu, mich mit meinem Mannsein zu beschäftigen. Lernen, Körper und Gefühle wahrzunehmen. Klären, was wirklich zu mir gehört und was ich einfach übernommen hatte. Zum Glück hatte ich keine Scheu, psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. So klärte sich auch: Es war nicht das Sensible, das mir im Weg stand, sondern der Mangel an Klarheit und Kontur.

Gibt es andere Anknüpfungspunkte in Ihrer Biografie?

Die transgenerationale Ebene. Mein Vater stammte aus Schlesien – damals deutsch, heute polnisch –, meine Mutter war Schweizerin. Die Konfrontation mit seiner Kindheit im Krieg und auf der Flucht, mit Traumata, Scham, Verdrängung, Verehrung auch – mein Vater hatte bis zum Schluss Sympathien für Hitler – habe ich im sicheren Rahmen in Basel erlebt. Das ist eine komische Mischung. In der Schweizer Männerarbeit ist die Generationenfrage kaum ein Thema, in Deutschland sind sie da natürlich an einem ganz anderen Punkt.

Was war mit anderen Männern in Ihrer Familie?

Mein Grossvater starb als Soldat in Hitlers Polenfeldzug, mein Onkel starb bei einem Autounfall, vermutlich mit übersetzter Geschwindigkeit, ein anderer Onkel ist auf der Flucht verhungert, ein dritter hat eine geistige Behinderung, weil er am falschen Ort stand, als ein Lastwagen ausgeladen wurde – viele tragische Männerfiguren, viel Leiden, das für mich mit Männlichkeit zu tun hat. Ich sehe da schon eine biografische Linie.

Das klingt wie Berufung.

Ich habe Mühe damit, wenn das so etwas Glorioses bekommt. Für meinen Geschmack bin ich schon viel zu fest Wanderprediger. Aber ja, es hat schon was von Berufung.

Im «Tages-Anzeiger» erschien kürzlich ein Interview mit Ihnen, in dem es stärker um die Ängste des Journalisten als um Ihre Thesen ging. Passiert Ihnen das häufig, dass Sie Männer einschüchtern?

Haben Sie das so wahrgenommen? Nun ja, ich habe eine gewisse Lust entwickelt, im Rahmen meiner begrenzten Möglichkeiten das Patriarchat herauszufordern. Aber ich bin ein netter Mensch. Ich ziehe keinen Gewinn daraus, jemanden lächerlich zu machen. Wenn meinem Gegenüber unwohl ist, wird mir eher auch unwohl. Aber ich bin natürlich auch Projektionsfläche. Dass ein Mann mir gegenüber beweisen will, dass er nicht «einer von denen» ist, oder einer gestresst ist, weil er denkt, ich hätte Erwartungen an sein Verhalten, daran bin ich gewöhnt. Ich bin aufgeladen, ich bin eine Figur.

Geniessen Sie es, diese Figur zu spielen?

Ja, zweifellos. Es ist nicht mein primärer Antrieb, Aufmerksamkeit zu bekommen, sondern Wirkung zu erzielen. Aber sie ist definitiv Nahrung – auch durch die Reibung. Wenn das System irritiert reagiert, dann kann ich tanken. Sonst könnte ich diese Arbeit wohl nicht machen.

Im Buch schreiben Sie über verschiedene Machtbereiche von Männern und Frauen, aber nehmen die Sexualität explizit davon aus. Wieso?

In meinem Buch «Co-Feminismus» von 2013 gibt es eine Passage zur häuslichen Macht der Frauen, die ich in verschiedene Bereiche unterteilt habe, unter anderem die Sexualität. Es hat sich gezeigt, dass die Idee, dass Frauen über sexuelle Macht verfügen, ganz schräg ankommt, als Unterschlagung der sexuellen Gewalt.

Also ist es kompliziert in diesem Bereich?

Viele hetero cis Männer machen in ihren jungen Jahren, wo es darum geht, sexuelle Erfahrungen zu sammeln, die Erfahrung, dass Frauen stark regulieren, ob sexuelle Nähe passiert oder nicht. Frauen werden für sie zu einem Sehnsuchtsort: begehrt, aber oft unerreichbar. Das hat wiederum viel mit männlicher Sozialisation zu tun, mit der Unfähigkeit von Männern, sich selber zu nähren, emotional, körperlich und sexuell. Diesen Sehnsuchtsort nicht so krass aufzuladen, das scheint mir zentral. Auch die Incel-Geschichte hat damit zu tun; Sexlosigkeit wäre ja nicht so eine Katastrophe, wenn Sex für Männer nicht so existenziell wäre. Gleichzeitig ist Sexualität ein so verletzliches Gebiet, und ich verstehe, wenn die Aussage schräg ankommt, dass Frauen sexuelle Verfügungsmacht haben. Das stimmt so absolut natürlich nicht.

Sie beschreiben, wie Männer vergeblich versuchen, verschiedene Bedürfnisse nach Sorge und Nähe über Sex zu befriedigen.

Sex ist die einzige Form von Nähe und Intimität, die unzweifelhaft mit Männlichkeit vereinbar ist. Sex wollen darfst du als Mann immer. Aber getröstet oder beschützt werden, da musst du aufpassen, zu wem du das sagst. Wenn ein Mann ein Bedürfnis nach Nähe also sexuell rahmt, ist er auf der sicheren Seite. Das führt aber auch dazu, dass viele Männer die verschiedenen Bedürfnisse nicht zu unterscheiden lernen. So berauben sie sich einer Vielfalt an Erfahrungen.

Sie schreiben auch, gesellschaftliche Privilegien von Männern würden sich bei genauerem Hinsehen oft als Krankmacher und als Korsett entpuppen. Man ist bei Ihnen nie sicher, ob Sie die Männer wirklich als Opfer des Patriarchats sehen oder ob das auch eine Strategie ist, um den Männern einen guten Deal anzubieten.

Das ist eine sehr relevante Frage. Muss es ein Entweder-oder sein? (Überlegt.) Was gesichert ist: Die Orientierung an traditionellen Männlichkeitsnormen verkürzt das Leben. Männer sterben nicht nur früher, sondern auch einsamer und bitterer. Das ist empirisch belegt. Gleichzeitig habe ich noch keinen Mann getroffen, der gern früh, einsam und bitter stirbt. Trotzdem widersetzen sich Männer diesen Vorgaben kaum. Deswegen drängt sich die Frage auf, was der Gewinn sein könnte, um Männer in Bewegung zu bringen. 

Die Prämisse meiner Arbeit ist: Es gibt keine Essenz von Männlichkeit, unabhängig von Epochen und Kulturen. Also gibt es auch keine ewige männliche Lust, als Soldat auf einem Schlachtfeld zu verrecken. Dafür gibt es eine männliche Sehnsucht, mit sich und anderen verbunden zu sein, andere Menschen auch zu brauchen, also auch Abhängigkeit zuzulassen. Darum ist die Erfahrung des Vaterseins für viele Männer so existenziell, weil sie da zum ersten Mal die Erfahrung einer unverbrüchlichen Beziehung machen.

Ist es heute nicht ziemlich leicht, Mann zu sein? Ein Vater darf immer noch viel arbeiten, und wenn er zu den Kindern schaut, wird er als fortschrittlicher Vater gefeiert.

Ja, es gibt eine patriarchale Dividende. Die besteht zum Beispiel in dieser Wahlfreiheit. Für den Geschlechterdialog finde ich es allerdings nicht hilfreich, wenn man zu vergleichen versucht, wem es schlechter geht. Diese Aussage ist aber eine Provokation für Frauen, die zum Beispiel zu Recht auf die sexuelle Gewalt hinweisen, die sie im Patriarchat erleben. Von Männern wird mir wiederum vorgeworfen, ich würde zu wenig betonen, dass siebzig Prozent aller Gewaltopfer Männer sind; meistens von anderen Männern. Ich stehe mittendrin in diesen Diskussionen und probiere, dabei zu bleiben, dass beides richtig ist: empathisch zu sein für das patriarchale Trauma, das Frauen erleiden, ohne dabei das patriarchale Trauma der Männer abzuspalten. Daher kommt es wohl auch, dass ich den Leuten manchmal in meiner Positionierung entgleite.