Autonome Schule: Denkmal ohne Tags

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Schlecht geheizte Baracken, einige Kurse, keine LehrerInnen und kein Geld. Allen Widrigkeiten zum Trotz verwirklichen fünfzig junge Leute in Bern die autonome Schule.

Am Rande Berns, eingequetscht zwischen der A6, der Autobahnausfahrt und der Bolligenstrasse, stehen ein paar dünnwandige Baracken hinter einem grobmaschigen Gitterzaun. Sie umgeben einen von erfrorenen Grasbüscheln gesäumten Kiesplatz, auf dem ein paar Autos geparkt sind. Am Gittertor hängt ein rosafarbenes Schild, auf dem in grüner Schrift denk:mal steht. Oben am Schild brennen farbige Lämpchen gegen den grauen Himmel an.

«Komm schnell rein, es ist eiskalt hier draussen», sagt Fabian und zeigt an einem Gewirr aus selbst gemalten, hölzernen Wegweisern vorbei auf eine der Barackentüren. Vor der Treppe zu «Bar, Küche» steht eine Gruppe von warm eingepackten Gestalten, eine von ihnen hantiert mit Schweissbrenner und Schutzbrille an irgendwas aus Fahrradgestell und diversen Eisenteilen herum. «Das wird ein Barhocker», sagt eine der Eingepackten, und Fabian erklärt: «Das ist der Schweisskurs.» Er öffnet die Barackentür und zieht sie hinter uns rasch wieder zu. Drinnen ist es kaum wärmer als draussen.

Fabian ist einer der Mitbegründer der autonomen Schule denk:mal. Vor deren Entstehen war er Mitglied der Aktion ungehorsamer Studierender (AuS) an der Uni Bern, die das universitäre Bildungskonzept kritisiert und nach alternativen Bildungsmöglichkeiten sucht. In diesem Kreis entstand die Idee zur Schaffung eines Ortes, wo Bildung «demokratisch, ohne Zwang und kostenlos» angeboten wird. Der Gedanke kam an - und bei weitem nicht nur bei Studierenden. «Wir sind eine bunte Mischung aus allen Berufen, Studienrichtungen, Schulen und Lehren. Diese Durchmischung ist uns enorm wichtig», sagt Fabian, der sein Studium mittlerweile abgebrochen hat und ein wenig Geld in der Bar der Berner Reitschule verdient.

Ungefähr zwanzig Leute entwarfen im Frühjahr 2005 einen Plan für ihre autonome Schule. Dafür reisten sie eigens nach Berlin, um sich die ein Jahr zuvor gegründete Offene Uni Berlin anzuschauen. Die bietet täglich fünf Bildungsveranstaltungen unter den gleichen Prämissen wie denk:mal an: freiwillig, kostenlos, demokratisch. Das Projekt läuft gut, die BesucherInnen - alle zwischen 20 und 25 Jahre alt - aus Bern waren begeistert. Zurück in der Schweiz schrieben sie in ihr Konzept: «Eine autonome Schule ist mehr als nur unabhängig von Staat und von Privatwirtschaft - sie wird von denen geführt, die sie benutzen.» Und sie beschlossen, dass nur eine Voraussetzung zu erfüllen hat, wer bei denk:mal mitmachen will: die Bereitschaft zu basisdemokratischer Mitarbeit. Dann machten sich die Denk:mal-Leute auf die Suche nach Räumen, in denen sie ihr Konzept verwirklichen konnten.

Der Schweisskurs ist zu Ende, und aus dem Fahrradgestell und anderem Altmetall ist ein skurriler Barhocker mit Rückenlehne und Fussstützen geworden. Die KursteilnehmerInnen sitzen am Tisch neben der Bar, trinken heissen Tee, wärmen sich die Hände an den Tassen und besprechen, womit sie nächste Woche weiterfahren wollen. Kursanbieterin Carla ist Metallbauschlosserin und kam «spontan auf die Idee», ihr Wissen im denk:mal weiterzugeben. Wie alle andern, die im denk:mal arbeiten, bekommt sie dafür keinen Lohn. Das Material für die Kurse sammeln die TeilnehmerInnen an verschiedensten Orten. Viele SympathisantInnen schenken den Denk:mal-Leuten Material: Einige geben Alteisen für den Schweisskurs, ein Blumenladen bringt die nicht mehr ganz frischen Rosen und der Bioladen von der Hallerstrasse die Esswaren, die er nicht mehr verkaufen kann.

Ausser dem Schweisskurs sind auch Deutschkurse, Joga, veganes Kochen, Theaterimprovisation und Arabisch im Angebot. «Das Erlernen der Fähigkeiten soll gemeinsam geschehen. Die natürliche Autorität der Person mit Wissensvorsprung muss genau da aufhören, wo es sich nicht exakt um das Kursthema handelt», heisst es im Denk:mal-Konzept. «Wer etwas anbietet, hat nicht das Recht zu entscheiden, wie er sein Wissen vermitteln will. Darüber sollen alle gemeinsam entscheiden», führt Fabian die Theorie aus. Wie sieht denn eine nach diesen Grundsätzen gestaltete Deutschstunde aus? «Auf Anhieb vielleicht nicht viel anders als andere Deutschstunden. Aber zwischen den Lernenden und Lehrenden besteht absolute Gleichberechtigung», sagt Sämi, Soziologiestudent und einer der Denk:mal-Mitbegründer. Er ist zum Gespräch gestossen und hat sich aufs Sofa in einer Nische im Infoladen gesetzt. Hier ist es gemütlich, der Raum sieht aus wie eine durchschnittliche WG-Stube - bis vielleicht auf die dutzenden von vollgekritzelten Zetteln an den Wänden mit Gedankenfetzen, Ideen für neue Projekte, Sprüchen, Zeichnungen.

Als das Konzept für eine autonome Schule ausgearbeitet war, reichten die Denk:mal-GründerInnen im Sommer 2005 bei Stadt und Kanton Bern eine von 1200 Personen unterschriebene Petition ein mit der Forderung nach Räumen für ihr Projekt. Die Antwort des Kantons kam rasch: Das Konzept einer autonomen Schule - die mit «dieses Etwas» umschrieben war - «kennt der Kanton Bern nicht», meldete dessen Bildungsdirektor Mario Annoni schriftlich. Am 1. August besetzten die Denk:mal-Leute die städtischen Baracken des ehemaligen Durchgangszentrums für Asylsuchende an der Bolligenstrasse 85 - aber nur für kurze Zeit, musste doch das Rote Kreuz als Betreiberin des Zentrums die Räume der Stadt als Vermieterin erst einmal sauber und leer zurückgeben. Denk:mal zog wieder aus, blieb aber mit der Stadt in Verhandlung.

Nach Gesprächen mit Edith Olibet (SP), der Direktorin für Schule, Bildung und Sport der Stadt Bern, und mit Jürg Jampen, dem stellvertretenden Chef der Stadtbauten Bern, bekamen die GründerInnen einen befristeten Nutzungsvertrag: Vom 1. Oktober bis zum 23. Dezember sollte in drei der sechs Baracken die Denk:mal-Theorie umgesetzt werden können. Miete zahlt die Schule keine, Heizkosten hingegen viel. «Das ist ein mieser Vertrag», sagt Sämi bestimmt. «Sie lassen uns, wohl um uns ruhig zu stellen, ein bisschen machen und werfen uns dann wieder raus. So können wir aber gar nicht richtig arbeiten.» Mittlerweile ist der Vertrag bis Ende März 2006 verlängert worden. Sämi hält dies für Zermürbungstaktik, wahrscheinlich habe sie auf den März keine neuen Mieter. Das bestreitet Jampen vehement: «Wir haben einige Interessenten für diese Räume, die die Miete bezahlen können. Es gibt für das Projekt denk:mal mit Sicherheit keine Vertragsverlängerung.» Die Denk:mal-Leute kritisieren die Haltung der Stadt vehement. «Die Räume können allerhöchstens als Lagerräume gebraucht werden - es ist völlig daneben, einen lebendigen Ort wie das denk:mal dafür einzustampfen», ärgert sich Sämi.

Um sich selber um die Räumlichkeiten an der Bolligerstrasse zu bewerben, fehlt den Denk:mal-Leuten das Geld. Bereits die Heizkosten - das Rote Kreuz hat dafür jeweils bis zu 20000 Franken bezahlt - können sie kaum auftreiben. Die Stadt will ihnen die Baracken nicht kostenlos überlassen. «Das können wir gar nicht, wir haben den Auftrag, zum marktüblichen Preis zu vermieten», sagt Jampen dazu. Dabei ist die städtische Bildungsdirektorin vom Projekt «fasziniert»: «Mich beeindruckt, dass in der heutigen Zeit junge Leute so engagiert in eine Lebensideologie investieren und sie auch umsetzen», sagt Olibet. Dennoch sei es nicht an der Stadt, dem Unternehmen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. «Die autonome Schule bietet Kurse und Bildung nach der Sekundarstufe an - dies fällt in den Bereich des Kantons.» Auch finanziell wird die Stadt Bern nicht mithelfen: Sie muss bereits bei den bestehenden Bildungsangeboten an allen Ecken und Enden sparen.

Trotz aller Schwierigkeiten ist denk:mal in den ersten Monaten gut angelaufen. «Irgendwie geht alles von selbst, genau so wie wir uns das gewünscht haben», sagt Fabian. «Oft ziehen Besetzungen oder Zwischennutzungen die immer gleichen Leute an - wir hingegen möchten wirklich offen gegenüber allen sein.» Das scheint nicht schlecht zu gelingen: An jede Veranstaltung kommen neue Leute in die Bara-cken, schauen für einen Film oder einen Vortrag rein und bringen plötzlich eigene Vorschläge für Kurse ein. Über das Denk:mal-Kursprogramm entscheidet die offene Vollversammlung jeweils am Mittwochabend. Sie sagte Ja zum Queer-Wochenende, an dem unter anderem die streitbare Genderforscherin Tove Soiland einen Vortrag hielt, sie beschloss Auflagen für ein Töggeliturnier, das mit einem Frauenbonus und einem Bierpass aufwarten wollte: «Geschlechterdiskriminierung gibt es hier nicht und konsumorientierte Veranstaltungen auch nicht», begründet Fabian den Entscheid. Neben regelmässigen Kursen bietet denk:mal auch Filmabende, Konzerte und Themenwochenenden wie das Queer-Festival an. An den Veranstaltungen sind meist um die fünfzig Leute an der Bolligenstrasse 85 anzutreffen. Und weil es so gut läuft, sind die Denk:mal-Leute auf keinen Fall bereit, die Schule Ende März zu schliessen. «Wir machen weiter», sagt Sämi überzeugt.

Mittlerweile zieht der Duft von scharfer Kürbissuppe und von Pellkartoffeln in den Infoladen, und in den Aufenthaltsräumen lungern ein paar Leute mehr hungrig rum. Heute ist Volksküche, wie jeden zweiten Freitagabend. Sonja, die am Sonntagabend den Kochkurs anbietet, kleistert an einer Skulptur und sagt: «Wer nichts zu tun hat, kann in der Küche helfen.» Sie ist eine der wenigen Frauen, die an diesem Abend im denk:mal anzutreffen sind. Wie stehts hier denn überhaupt mit den Frauen? «Ungefähr ein Drittel von uns sind Frauen, auch wenn es heute vielleicht nicht so aussieht», sagt Fabian fast entschuldigend. Sämi nickt. Woran dies liegt, ist ihnen selber nicht klar. Klar ist aber, dass sie die Situation mit den anderen Denk:mal-Leuten diskutieren. Sowieso wird hier viel diskutiert und reflektiert - vor allem über Bildung natürlich. Kurz vor Weihnachten bekam denk:mal sogar Unterstützung von der Studentenvereinigung der Uni Bern, die einen Beitrag von 6000 Franken zusagte, auszuzahlen in vier Tranchen. «Das Geld brauchen wir für die Heizkosten», sagt Sämi und reibt sich die kalten Hände.

Inzwischen steht das Essen auf dem grossen Tisch. Fast zwanzig Leute haben sich versammelt - unter ihnen die Musiker der Band, die am Abend ein Konzert gibt. «Wir müssen eine Sauna einrichten, eine Schwitzhütte, wegen der Kälte», sagt ein junger Mann, der am Kopfende des Tisches seine Suppe löffelt. Ein anderer nickt. «Wir brechen einfach eine vierte Baracke auf, die kleine in der Mitte würde sich super eignen!» Der junge Mann ist begeistert von der Idee, andere am Tisch brummeln zustimmend. «Ich glaube nicht, dass wir die Baracke aufbrechen müssen. Wir fragen einfach bei der Stadt, ich glaube, das klappt schon», meint der zweite. Am Holzpfeiler hinter ihm hängt ein Zettel: «Bitte keine Zigaretten auf den Boden, keine Tags - sonst bezahlen wir dafür, danke.» Auch das funktioniert im denk:mal problemlos.