Autonome Schulen: M wie Mensch, R wie Recht, B wie Bildung

Nr. 2 –

Bildung für alle anbieten – aber nicht dafür ausgenutzt werden. Vor diesem Zwiespalt steht das Denk:mal, die Autonome Schule Bern. Ein Besuch im Deutschkurs für AnfängerInnen im Berner Lorrainequartier.

Dem Kopierer fehlt der Strom. Vera Blaser *, eine junge Frau mit Pagenschnitt, kramt im Kabelsalat hinter der in die Jahre gekommenen Maschine. Derweil füllt sich der enge Gang mit Leben. Junge Männer treffen in kleinen Gruppen ein, begrüssen sich auf Arabisch oder Persisch. Ein paar ältere Männer mit Mäppchen unter dem Arm nicken ein freundliches «Grüessech». Hinter drei plaudernden Tibeterinnen kommen zwei junge Frauen mit Kopftuch die Treppe herauf, die eine umklammert fest die Hand ihrer Freundin. Es ist Dienstagabend, viertel vor sieben Uhr in der Autonomen Schule Bern, dem Denk:mal.

Vor zehn Jahren gründete die Gruppe Aktion ungehorsamer Studierender das Denk:mal als ein Zeichen gegen das etablierte Bildungssystem. Die Schule ist basisdemokratisch organisiert und funktioniert durch die freiwillige Unterstützung mit Zeit und Material. FreundInnen helfen bei Reparaturen, alte Unterrichtsmaterialien und die Wandtafeln wurden gespendet. JedeR kann das kostenlose Angebot besuchen oder einen eigenen Kurs anbieten; sei es Nähen oder Thaiboxen, Joga oder Arabischunterricht. Seit knapp drei Jahren besetzt das Denk:mal-Kollektiv ein Haus im Berner Lorrainequartier. Kollektivmitglied Gian Drochsel sagt: «Wir passen gut in diese traditionell eher linksalternative Nachbarschaft.»

Bei meinem Besuch sind vier Zimmer mit Deutschkursen für AnfängerInnen belegt. «Normalerweise führen wir diesen Kurs sogar fünffach», sagt Vera Blaser und kopiert letzte Übungsblätter. «Wahrscheinlich wissen viele noch nicht, dass die Weihnachtsferien vorüber sind.» Kurz nach 19 Uhr beginnt in den Zimmern ein lebhafter, konzentrierter Unterricht. Neben Blaser stehen drei weitere junge Frauen vorne an den Wandtafeln und bringen den BesucherInnen die deutsche Sprache so anschaulich wie möglich näher. Uhrzeiten werden repetiert, trennbare Verben konjugiert, Haupt- und Nebensätze zusammengehängt. «Nächste Woche … besuche ich meine Eltern», vervollständigt ein junger Afghane einen Übungssatz. «Richtig!», sagt Blaser und schreibt die Lösung an die Wandtafel. Einer der TeilnehmerInnen übersetzt laufend auf Arabisch. Dadurch können auch zwei Syrer dem Unterricht folgen, die noch kein Deutsch verstehen.

Alternative Bildung

Autonome Schulen gibt es unter anderem in Zürich, Luzern, Biel, Thun, Frauenfeld, St. Gallen und seit kurzem auch in Schaffhausen. «Wir sind lose miteinander vernetzt, aber doch sehr verschieden», sagt Gian Drochsel vom Denk:mal. Jede der autonomen Schulen nahm ihren Anfang in unterschiedlichen Kreisen; manche organisieren den Unterricht in besetzten Häusern, andere funktionieren als offizielle Vereine. Die Schulen in Bern und Zürich sind sehr zentral gelegen; in der Ostschweiz spielen die Anreisekosten für die BesucherInnen eine wichtige Rolle.

Gemeinsam ist den autonomen Schulen, dass sie alle das Menschenrecht auf Bildung verteidigen. Damit stehen sie in einer langen Tradition, die auch einen der berühmtesten Präsidenten der Welt hervorgebracht hat: Nelson Mandela. Vor seiner Wahl zu Südafrikas erstem schwarzen Präsidenten sass Mandela fast zwanzig Jahre lang als politischer Häftling im Gefängnis auf Robben Island. Gemeinsam mit anderen Inhaftierten setzte sich Mandela für eine kollektive Bildung ein. In den Steinbrüchen organisierten sie die anfangs streng verbotenen «Each one teach one»-Unterrichtsstunden, in denen die Häftlinge sich gegenseitig ihr Wissen beibrachten. Aus diesem sehr losen Austausch entwickelte sich mit der Zeit ein mehrjähriger Studienkurs. Etliche der Gefangenen, die Robben Island überlebten, verliessen das Gefängnis schliesslich mit einem Fernabschluss. Robben Island erhielt den Übernamen «Knast-Uni».

Spätestens seit vergangenem Sommer rückt vor allem ein Angebot der autonomen Schulen in den Vordergrund. «Mit einem Mal kamen jeden Abend dreissig, vierzig Besucherinnen und Besucher mehr ins Denk:mal», erzählt Nicole Sommer, auch sie Mitglied des Berner Kollektivs. «Alle wollten sie Deutsch lernen. Wir begannen also, die Anfängerkurse mehrfach zu führen. Aber auch so quetschen sich oft zwischen 25 und 30 Besucherinnen und Besucher in ein Zimmer.»

Genauso tönt es auch bei der Autonomen Schule Zürich (ASZ). Menschen, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keinen Anspruch auf Sprachunterricht haben – Sans-Papiers, Flüchtlinge, die auf ihren Asylentscheid warten oder einen Nichteintretensentscheid erhalten haben –, würden von den Integrationsbehörden oder der privaten Betreuungsfirma ORS direkt an die ASZ verwiesen; grad so, als gäbe es eine offizielle Zusammenarbeit. Nicolas Brauchli, Mitbegründer der autonomen Schule in Schaffhausen, erklärt: «Politisch sollte es die Lücke nicht geben, dass die Schweizer Migrationspolitik bestimmten Menschen den Sprachunterricht nicht ermöglicht. Mit unserer Schule versuchen wir nun, diese ein wenig zu füllen.»

Schnell Deutsch gelernt

Im Denk:mal geht um 21 Uhr der Unterricht zu Ende. Jen Tsen aus Tibet geht seit zwei Jahren im Denk:mal ein und aus. Hier könne er so viele Fragen stellen, wie er wolle, nie verliere jemand die Geduld, sagt er. Der junge Afghane Ali Faisal kommt mit zwei Landsleuten jeden Abend aus der Asylunterkunft Ittigen hierher zum Deutschkurs. Sein Wortschatz reicht nach drei Monaten Unterricht aus, um in groben Zügen seine Geschichte zu erzählen.

Auch Adjam Tadasse und Delina Atta haben schnell Deutsch gelernt. Mit einer Mischung aus Erleichterung und Ironie erzählen sie von ihrer Flucht aus Eritrea, der schwierigen Überfahrt nach Italien, ihrer Ankunft in der Schweiz. Sie verabschieden sich schliesslich mit einem munteren Winken von ihren Denk:mal-Bekannten und verschwinden um die Ecke. Doch nur bis morgen Abend, bis zur nächsten Unterrichtsstunde.

* Einige Namen wurden geändert.