St. Gallen: Nöd logg lo gwönnt

Nr. 4 –

Die Handball-EM der Männer wird in jener Schweizer Stadt eröffnet, die als Handballhochburg gilt: St. Gallen. Eine kleine Zeit- und Milieugeschichte und die Erzählung vom unaufhaltsamen Aufstieg des gottesförchtigen Handballers Kurt Furgler aus dem Geiste der körperlichen Ertüchtigung.

O Otmar Leintuch Handballstadt

O Freisinn Weihrauch Pferdestadt

O Sportler Gerber Bleicherstadt

Niklaus Meienberg

«Liebe Landsleute! Wir sind hier zusammengekommen, um einen Verein zu gründen. Da wir in diesem Verein turnen wollen, so nennen wir ihn einfach den Turnverein. Der Sangverein singt, der Fussballverein fussballt, der Radfahrerverein radfahrt oder fährt Rad, der Schützenverein schiesst, und zwar lauter Nullen. Wir aber, meine Herren, wir gründen einen Turnverein.»

April 1924. Die Gründung des Katholischen Turnvereins St. Otmar, entstanden als Sektion des Kath. Jünglingsvereins, findet in einer Zeit statt, da im stickereikrisengeschüttelten St. Gallen der Kulturkampf noch an jeder Strassenecke schmort. Die katholische Abgrenzung gegenüber dem Liberalismus bildet in St. Otmar und St. Fiden, den Quartieren westlich und östlich der reformierten Innenstadt, ein katholisches «Ghetto», eine konservative Sondergesellschaft, die mit ihrer Einbindung der Gläubigen in ein weit verzweigtes System von kulturellen, sozialen und politischen Institutionen ihren Höhepunkt erreicht. Von der Geburt im kath. Krankenhaus über die Nahrungsbeschaffung in der kath. Metzgerei bis zur Bestattung auf dem kath. Friedhof - das Leben spielt sich in einem engen, von einem starken Wir-Gefühl bestimmten Milieu ab.

Über all dem wacht die kath. Kirche. Es geht um alles, vor allem aber gegen den drohenden Zerfall der Sittlichkeit, der in Gemeinschaftsbädern ebenso gewittert wird wie in der Frauenmode. Doch auch die «Sportswut» gilt es mit aller Kraft zu bekämpfen.

Wie der ideale kath. Turner beschaffen sein soll, ist im Jahresbericht 1934 nachzulesen: «Eine der Haupttugenden und eine der Hauptpflichten des katholischen Turners ist, dass er diszipliniert und charakterfest sei, dass er gehorsam sei den leitenden Instanzen, dass er sich dem Geheiss des Vorturners füge ohne Murren, dass er an seinem Platz mit allen Mitteln mithelfe, dass Ruhe und Ordnung herrsche. Durch Ein- und Unterordnung in ein Ganzes erzieht er sich zum tüchtigen Menschen, zum brauchbaren Glied der Gesellschaft, zum hoffnungsvollen Staatsbürger. Treu wollen wir sein und bleiben dem Turnverein, der Kirche und dem Vaterlande.»

Aus diesem Geist macht sich 1934 in der Turnsektion des TSV St. Otmar erstmals eine Handballtätigkeit bemerkbar. Zur Gründung einer Handballsektion kommt es aber erst 1942. Der Initiant: ein achtzehnjähriger Jüngling. Sein Name: Kurt Furgler.

Aufstieg aus dem Ghetto

Otmar-Quartier, Paradiesstrasse 30. Hier, in einer Fünfzimmerwohnung, wächst Kurt Furgler, Jahrgang 1924, mit seiner Schwester und seinen drei Brüdern auf. Der Zusammenbruch der Stickereiindustrie hat Spuren hinterlassen. Vater Robert muss seinen Stickereibetrieb schliessen und eröffnet ein Treuhandbüro. Beginnen tut die Geschichte damit, dass der vergiftete Strassenfussballer Kurt Furgler plötzlich Handball spielt. Da Fussball in den «besseren Kreisen» den Ruf eines Proletensports hat, ist Tschutten nicht die geeignete Freizeitbetätigung für den aufstrebenden Gymnasiasten - und Handball ein probates Mittel gegen die Proletarisierungsangst des christlichsozialen Mittelstands, der auf keinen Fall in den Verdacht kommen will, sozialistisch zu sein und sozialreformerisch den Abmarsch der kath. Arbeiter und Angestellten nach links zu verhindern sucht.

St. Gallen 1959. SP-Stadtrat Robert Pugneth spricht an der Versammlung des Arbeiterturnvereins Satus St. Gallen: «In einem Zeitalter, wo der nackteste Materialismus König ist und die moralischen Werte so wenig gelten, ist es besonders wertvoll, einen Verband zu wissen, dessen Endziel nicht nur auf die sportliche Leistung ausgerichtet ist. Immer wieder gab sich der Satus bemüht, seine Mitglieder zu zielbewussten und zuverlässigen Menschen heranzubilden, die bereit sind, sich einzusetzen für Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit. Wir sind stolz darüber, dass der Satus sich mit aller Entschiedenheit gegen eine Versklavung seiner Mitglieder durch den Sport wendet.»

Zur Zeit, da der Satus noch standhaft wettert, scheint die kath. Verweigerung gegenüber der «Sportswut» fast vollständig verschwunden. 1957, fünfzehn Jahre nach dem Start in der 3. Liga, spielen die Otmärler in der Nati A. Damit beginnt unter Führung von Spielertrainer Nationalrat Dr. Kurt Furgler die grosse Ära der Feldhandballer: 1960 Vizemeister, 1961 Cupsieger - und die Einweihung des Lerchenfeldstadions mit 7000 Stehplätzen und einer Sitzplatztribüne für 1000 ZuschauerInnen.

Die Devise der 7. Division

«Meine lieben jungen Kameraden: Nöd logg lo gwönnt! Das ist die Devise der 7. Division»: Mit diesen Worten eröffnet Oberst Kurt Furgler seine Einweihungsrede. Um dann von der militärischen Idee direktament auf die religiöse Antwort zu kommen: «Wer auf Gott vertraut und seine eigenen Kräfte voll einsetzt, wird - allein und in der Gemeinschaft - bestehen!»

Wiederum ist es Furgler, der den Bau initiiert und die Gelder zusammentrommelt (das Stadtparlament lehnt einen Beitrag mit der freisinnigen Begründung ab, dass es eine «Konfessionalisierung des Sports» mit öffentlichen Mitteln zu verhindern gelte). Das Schicksal will es, dass just nachdem dem St. Galler Feldhandball eine noch populärere Zukunft beschert werden soll, national das Hallenspiel in den Vordergrund rückt. GC und der BSV Bern ziehen sich im selben Jahr vom Feld zurück.

Handball ist in der Stadt inzwischen so verbreitet, dass bis zu vier Mannschaften in der Hallen-Nati A spielen: die kath. Otmar und Fides sowie die protestantischen STV und BTV. In den Jahren, da der FCSG und der SC Brühl im Fussball unterklassig sind, schwingt sich Handball zum Publikumssport Nr. 1 empor. Die Spiele in der mit 3000 ZuschauerInnen, Wienerlidampf und Stumpenrauch vollgepfropften Olma-Halle sind Stadtereignis. Noch aufgeheizter sind die Derbys zwischen Otmar und dem BTV: Bis in die sechziger Jahre ist es nicht nur der Kampf um die städtische und nationale Vorherrschaft, sondern auch immer noch Kulturkampf. Goalie Otmar Keller erinnert sich, wie er sich «als achtzehnjähriger Schnösel» von BTV-Spielern allerlei Schlötterli anhören muss: «Du Otmarli häsch Wiiwässerli gno?» Oder: «Bisch scho go biichte gsi?»

Doch Furgler & Co. lassen nicht locker. Parallel zur Halle steigern sie sich auch auf dem Feld: 1964, 1968, 1969 und 1970 Meister, 1968 Cupsieger. Erst 1970 orientiert sich auch der TSV St. Otmar klar zur Halle, während Feldhandball bedeutungslos wird.

Coach, Brigadier, Bundesrat

Es ist kurz vor Mittag des 8. Dezember 1971, als im Nationalratssaal tosender Applaus einsetzt. Soeben hat der frisch gewählte Bundesrat Kurt Furgler seine Antrittsrede mit einem Appell an die Schweizer Jugend beendet. Er steht auf sein linkes Bein gestützt. Das andere steckt wegen einer Meniskusoperation in einem Gipsverband.

Furgler, nach 1367 Diensttagen auch zum Oberstbrigadier befördert, kann auf ein höchst erfolgreiches Jahr zurückblicken. Im selben Jahr wird der TSV St. Otmar erstmals Schweizer Hallenmeister - mit Furgler als Coach. Mit der Wahl zum Bundesrat legt er, nach dreissig Jahren als Spieler, Trainer und Coach, sein Amt beim TSV St. Otmar nieder. Der sportliche Stil findet seine Fortsetzung in der Politik des Vorstehers des Justiz- und Polizeidepartements (JPD). Körperliche Defizite kompensierte Furgler durch «Spielwitz, das rasche Erkennen der Schwächen des Gegners, erbitterten Willen» (Biograf José Ribeaud). Ein Mitspieler: «Wenn er einen gegnerischen Spieler decken musste, folgte er ihm während des ganzen Spiels auf Schritt und Tritt.»

Kurt Furgler und der TSV St. Otmar: Eine beispiellose Geschichte des Aufstiegs hat ihren vorläufigen Höhepunkt erreicht. Da ist das kath. Ghetto der zwanziger Jahre mit seinen Männerbünden. Da ist die in diesem christlichsozialen, (kultur-)kämpferischen Milieu ausgebrütete Person Furgler, die sich handballerisch vom Proletariat abhebt. Da ist in den Fünfzigern der politisch-militärische Aufstieg Furglers, der ihm die nötigen Verbindungen bringt. Da ist seine im Europarat geförderte Weltoffenheit, die ihn sich in so unkath. Phänomene wie den Spitzensport hineinwagen lässt. Da ist ab den Sechzigern das Auslaufen des Kulturkampfs. Da ist dieses spitzensportliche Vakuum im St. Gallen der Sechziger, das Nichtvorhandensein einer Eishockeykultur, kombiniert mit der langjährigen Absenz von St. Galler Fussball in der Nati A. Und da ist der Kalte Krieg.

Kalte Krieger

Der Antikommunismus ist in den fünfziger und sechziger Jahren bei den Katholiken ebenso verbreitet wie bei den Freisinnigen. Der Kampf gegen die «rote Gefahr» führt zur reaktionären Allianz von CVP und FDP. Furglers Aufstieg ist undenkbar ohne seine Profilierung als Kalter Krieger. Mit dem Kampfgeist, den er im kulturkämpferischen Milieu eingesogen hat, arbeitet er sich nun im Kalten Krieg an vorderste Front - als Brigadier in der Armee, als Vorsteher des JPD in der Politik.

August 1968. In Prag fahren sowjetische Panzer auf. Viele Menschen flüchten in die Schweiz, darunter zahlreiche AkademikerInnen. Josef Caniga, ein 34-jähriger Turn- und Sportlehrer, landet mit seiner Ehefrau und zwei Kindern in St. Gallen. Einer unter vielen. Doch etwas ist besonders: Caniga ist einer jener Spieler, die 1958 mit der Tschechoslowakei Vizeweltmeister wurden. Caniga, 1934 im slowakischen Bratislava geboren, darf wie andere tschechoslowakische Spitzensportler als älterer Spieler im Westen etwas Geld verdienen: Er wechselt zu Rapid Wien. Doch bereits bei internationalen Spielen mit Inter Bratislava knüpft er Kontakte im Westen - so auch zum SV Fides.

Der Sportlehrer reicht eineinhalb Jahre unbezahlte Ferien ein, im Herbst 1968 hat er alle Papiere im Sack. Dann wählt er die Nummer des Präsidenten vom SV Fides, der dem Weltklassespieler eine Wohnung plus Anstellung als Sportlehrer garantiert. Die Realität sieht anders aus: Caniga arbeitet als Hilfsarbeiter in der Maschinenfabrik Spühl, gleichzeitig verstärkt er (unbezahlt) den SV Fides, weigert sich aber, das Team auch (unbezahlt) zu coachen, solange er nicht eine Stelle als Sportlehrer hat. Mit Caniga gewinnt Fides 1968/69 erstmals alle Spiele gegen Otmar und belegt mit Rang drei die beste Platzierung der Vereinsgeschichte. Doch Caniga will mehr: Geld. Er hat eine Ehefrau und zwei Kinder.

Dann greift Dr. Kurt Furgler ein, und die Geschichte wendet sich schlagartig. Der Industrielle Walter Spühl, Canigas Arbeitgeber, macht Furgler auf den Fall Caniga aufmerksam. Sogleich vermittelt dieser einen besser honorierten Job bei der City-Garage (Furgler war unter anderem Präsident der City-Garage). Bedingung: Wechsel zu St. Otmar, als unbezahlter Spieler und Trainer. Später arbeitet Caniga, wieder dank Furgler, als Turnlehrer an der Mädchenabteilung der kath. Sekundarschule Flade. 1971 holt Otmar den ersten Hallentitel, 1973 den zweiten, 1974 den dritten. Dann zieht sich «Entwicklungshelfer» Caniga vom Spitzensport zurück. Fides erholt sich nicht mehr. Dem vergleichbaren Verein (kath. Arbeiterquartier) mangelt es an wirtschaftlichen Beziehungen, wie sie Furgler & Co. zur Verfügung stehen. Derweil im Westquartier der Höhenflug weitergeht: Cupsieger 1980 und 1981, Meister 1981, 1982 und 1986.

Herbst 1982. 5500 ZuschauerInnen in der Eissporthalle in Herisau sind aus dem Häuschen. Auch Martin Furgler, der Bruder von Kurt, Leiter der Abteilung Sport beim Schweizer Fernsehen, das das Spiel live überträgt, zittert. Otmar führt mit einem Tor Vorsprung. Der Gegner: TV Grosswallstadt. Noch zehn Sekunden. Ein Schuss aus dem Hinterhalt, Lutz hält, der Schlusspfiff: St. Otmar ist im Europacupfinal der Meister (der gegen Honved Budapest verloren geht).

Unter denjenigen, die nun übermütig aufs Spielfeld rennen, befindet sich auch «Mister Europa-Cup»: Otmar Keller, heute 62 Jahre alt. Seine Laufbahn beim TSV St. Otmar ist beeindruckend: Junior, Goalie (1961-1969), Präsident (1971-1975), sportlicher Leiter (1976-2005) - alle diese Aufgaben erfüllte der Controller einer St. Galler Bank ehrenamtlich.

Keller, ein Kind vom Rosenberg, kommt in den Fünfzigern über die die kath. Sekundarschule Flade zum Handball. Von klein auf zieht es ihn ins Tor - der geborene Goalie. «Han alles ghebet.» Bis ein Mitschüler zu ihm sagt: «Du ghörsch zu Otmar.» Das war der Beginn einer Klubkarriere: 1959 erstes Nati-A-Spiel als Sechzehnjähriger. Hinterster Mann in der legendären Mannschaft mit Kurt Furgler, Martin Furgler und Hans Gemperle («Kanonier der Nation»). In der Verteidigung die norwegischen HSG-Studenten Sven Aseboe und Shel Kran. Keller erinnert sich, wie er mit den beiden Hünen nach dem Training bis spät in die Nacht in der Beiz hockt und sie auf Papierbögen «Schussfallen» aushecken.

Eine Szene verfolgt ihn noch heute: 1962 in der pumpenvollen Olma-Halle. Meisterschaftsfinal gegen GC. Unentschieden. Ein Gegentor weniger, und Otmar wäre Meister geworden. «Den letzten Schuss», Keller verwirft die Hände, «den letzten Schuss hätte ich kratzen müssen.»

Wo liegt der Schlüssel für die Handballhochburg St. Gallen? Keller muss es doch wissen. Er sieht in die Abgründe der St. Galler Handballerseele. Gibt es ein Geheimnis? Keller schweigt. «Springseili versorge!», sagt er dann plötzlich. So seis gewesen, damals in den goldnen Sechzigern, so hätten die Turnlehrer in der Stadt zu den Jungs und Mädels gesprochen. «Springseili versorge, Handball hole»: Bis in die Siebziger war Handball in den St. Galler Turnstunden so etwas wie ein heimliches Pflichtfach. «In den besten Zeiten», so Keller, «hatten wir bis zu 25 sehr gute Aufbauspieler.»

Und gibts mal einen schlechteren Jahrgang, richten die Talentspäher ihre Augen in den Osten der Stadt. Und schnappen sich Alex Bruggmann von Fides. Gern bedient man sich auch beim Christlichen Verein Junger Männer und wählt einen draus heraus: Heinz Metzger. Oder die Späher richten ihre Fernrohre in Richtung See. Von dort unten, aus Rorschach, kommt Pöschtler Robert Jehle mitsamt grossem Bauch und kleinem Bruder. Hechtet ein grosser Goalie, der Hampi Lutz. Wirbelt Peter Stürm entgegen. Wird aus Arbon der Norwin Platzer vom Platz geholt. Und manchmal werden sie nach Winterthur geschickt, und dann springt Heinz Karrer auf den Zug oder auf eine Reise nach Jugoslawien, und zurück kommen sie mit einem Ballzauberer, und das ist dann ein richtiger Profi: Nedeljko Vuinovic. Jetzt mit René Hirsch und Daniel Peter zwei original Otmärler dazugeben, trainieren, gut mischen und schütteln - fertig ist sie, die Supermannschaft 1982.

2006. Längst hat sich die weltweite Kommerzialisierung des Fussballs auch in Furgler-City bemerkbar gemacht. In den Turnstunden haben neue Sportarten Einzug gehalten. Platz vier, noch tausend ZuschauerInnen im Schnitt: Die Stagnation von St. Otmar steht in krassem Widerspruch zur Budgetentwicklung. Wurde 1982 der Einzug in den Europacupfinal (gemäss Keller) noch mit einem offiziellen Budget von 35 000 Franken geschafft, stehen heute 1,3 Millionen zur Verfügung - die Abhängigkeit gegenüber Sponsoren ist grösser geworden.

Die ersten «Professionalisierungs»-Schritte in den Siebzigern sind harmlos: zuerst die kostenlose Materialbelieferung der Spieler (Adidas-Vertrag), erste Spesengelder, Stellen- und Lehrstellenvermittlungen. Doch als Europacupbomber Robert Jehle 1982 Topofferten aus Madrid und Winterthur ins Haus flattern, hört der Spass auf - und damit auch das Image des «Akademikersports». Jehle bleibt für eine Kleinigkeit, während Platzer zu Atlético Madrid wechselt. Der Professionalisierungszwang verschärft sich, nachdem 1984 die neue Sporthalle Kreuzbleiche eröffnet wird und man 1988 erneut in den Europacuphalbfinal vorstösst. In den Neunzigern die ersten offiziellen Vollprofis. Klingende Namen wie Koso oder Rasmussen. Als man mit dem schwedischen Spielertrainer Robert Hedin 2001 alle Titel gewinnt, strömen oft bis zu 5000 ZuschauerInnen in die Kreuzbleichehalle. Heute befinden sich fünf Profis mit einem Jahreseinkommen von gut 100 000 Franken im Kader: Der Rest geht zumindest teilzeitweise einem anderen Beruf nach, verdient wenig bis nichts.

Furgler, Gott und die Welt

Heitere Faane, waren das noch Zeiten! Damals in den Fünfzigern. Auf dem Mannschaftsfoto der «jungen, spritzigen Otmar-Boys» schauen einem nicht nur die Gesichter der Gebrüder Kurt (mit Brille), Robert (mit Brille) und Martin Furgler (ohne) entgegen - auch in den Gesichtern von weiteren Spielern, die im Lauf der nächsten fünfzig Jahre aus dem Geiste der körperlichen Ertüchtigung steile CVP-Karrieren durchlaufen, wie zum Beispiel Hardy Notter (Präsident des kath. Administrationsrats und Gerichtspräsident), spiegelt sich diese Mischung aus frommer Zuversicht, verbissenem Ehrgeiz und studentischer Wohlbehütetheit. Alle studierten sie an der kath. Uni in Fribourg, alle waren sie Mitglied im kath. Studentenverein. Machten sie fleissig mit im Militär, befolgten sie fromm die Spielregeln des Kalten Kriegs. Eine Mannschaft wie eine Musterklasse. Sie haben die Geschichte von oben ministriert und weiter diktiert, viel Geld und den Kalten Krieg gewonnen.

Und alle sind sie da. Frisch, fröhlich und unerhört frei sind sie vereint, die tüchtigen CVP-, FDP- und SVP-Oberturner. Die Mauern sind gefallen. Grenzenlose Freiheit allüberall. Sitzen auf ihren Logenplätzen und jubilieren, wenn der gottesfürchtige Torhüter Antoine Ebinger vor dem Penalty - letztes Relikt kath. Mystik - den Ball küsst und Gott dankt, wenn er ihn denn auch hält. Heinrich Thorbecke, der superreiche Henkel-Erbe, kommt mit seinem Hup-Gügeli «ganz privat und sehr persönlich» (Slogan der Bank Thorbecke) von seiner Residenz im Westen der Stadt in die Kreuzbleichehalle. Dr. Toni Steinemann, Direktor von Hauptsponsor Dörig Fenster und ehemaliger Nati-A-Spieler, putzt sich die Brille. Zahnarzt René Riecker, Mäzen auch er, ist mit dem Appenzellerbähnli von der Lustmühle hinunter in die Stadt gefahren. Die SVP-Mannen Bruno Gutmann, ehemaliger Oberministrant Dompfarrei, Jurist, Präsident Sponsorenvereinigung Club 2000, und Karl Güntzel, Vermögensverwalter, Schatzmeister des Europäischen Handball-Verbands, klopfen sich auf die Schenkel. CVP-Hardy Notter, Vorstand Schweizer Handball-Dach-Verband, und FDP-Stadtrat Fredy Brunner, Club 2000, unterhalten sich blendend. Und irgendwo sitzt auch er, der grosse Magier, der Furgler. St. Otmar spielt mässig, der Rückstand auf GC ist beträchtlich. Halb so schlimm. Der Kulturkampf ist kalter Kaffee, der Kalte Krieg Schnee von gestern. Und Otmar eine Holding. Der neoliberale Altersturnverein darf sich zurücklehnen. Die Ministranten haben gewonnen.

Und das Geheimnis von St. Otmar? Kurt Furgler, inzwischen 82, hat keine Zeit. Seit Jahren kümmert er sich im InterAction-Rat, einem internationalen Rat der Weisen aus ehemaligen MinisterInnen, um das Weltschicksal. «Schicken Sie mir eine Karte mit Ihren Fragen», sagt er am Telefon. Vielleicht kann ich sie irgendwann beantworten.


Alt Bundesrat Kurt Furgler

Kaum ein anderer Schweizer Politiker der siebziger und achtziger Jahre hat so viel Ablehnung und Zustimmung gefunden wie Kurt Furgler. Für viele Linke die Personifizierung des Schnüffel- und Polizeistaats, war Furgler in den Augen der wirtschaftlichen Rechten zu links. 1924 im christlichsozialen Milieu in St. Gallen geboren, durchlief der Jurist als Mitglied der CSP, des progressiven Flügels der CVP, eine steile Politkarriere: als Nationalrat (ab 1954) leitete er 1964 die Arbeitsgemeinschaft zur Mirageaffäre, 1963 bis 1971 die christlich-demokratische Fraktion und war Mitglied der Parlamentarierdelegation im Europarat. Von 1971 bis 1982 stand er als Bundesrat dem Justiz- und Polizeidepartement, 1983 bis zum Rücktritt 1986 dem Volkswirtschaftsdepartement vor. Zur internationalen Fortsetzung der Karriere kam es nicht. Der Vollblutpolitiker verzichtete auf Spitzenämter in der Unesco, der Fifa oder dem IOK.