Sportpolitik: «Wieder mehr bewegen»

Nr. 23 –

Es gibt weder linken noch rechten Sport, aber es gibt Gründe, die Sportpolitik nicht den Bürgerlichen zu überlassen, sagt Sportlobbyistin und SP-Nationalrätin Pascale Bruderer.

Wandelhalle im Bundeshaus. Alle paar Meter ein Fernsehgerät, das aus dem Nationalratssaal die Debatte überträgt. Von der Decke folgen die Augen einer Justitia den geschäftig hin und her Gehenden mit den irritierend bekannten Gesichtern. Bestimmt kommt eine junge Frau durch die Schwingtür des Ratssaals: Das ist die Aargauer SP-Nationalrätin Pascale Bruderer. Sie legt ihren Piepser auf den Tisch und sagt: «Damit ich die Abstimmungen nicht verpasse.» Auf dem Bildschirm verteidigt Bruderers Parteikollegin Susanne Leutenegger Oberholzer vorderhand einen Minderheitenantrag, wonach die geschlechtsspezifischen Auswirkungen des Entlastungsprogramms 2004 (EP 04) überprüft werden sollen.

Sportsgeist auf dem WC

Nicht erst seit Pascale Bruderer im März eine parlamentarische Initiative mit dem Titel «Auftrieb für den Schweizer Sport» eingereicht hat, gilt sie als Sportlobbyistin. Eine undankbare Aufgabe. Gemessen am EP 04 zum Beispiel, bei dem 5 Milliarden Franken auf dem Spiel stehen, geht es in der nationalen Sportpolitik um fast nichts (Budget für 2006: voraussichtlich 118 Millionen Franken). Zudem ist Sport nicht griffig und spektakulär politikabel, ein gesellschaftspolitisches Querschnittthema, das von der Wirtschaftspolitik über die Ökologie bis zur Integrationspolitik diffundiert. In diesem Haus ist Sportpolitik nur eine unsichere Sprosse in der Karriereleiter.

Was den Stellenwert des Sports im Parlament betreffe, sagt Pascale Bruderer, sei sie «ein wenig enttäuscht»: Es gibt zwar die WBK, die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur, die für Sportfragen zuständig ist. Diese widmet dem Sport aber auf ihrer umfänglichen Liste der «Wichtigsten Geschäfte in der 47. Legislaturperiode (2003-2007)» gerade einen einzigen Satz. Bruderer: «Seit ich in der WBK sitze, hat sich die Kommission nur ganz am Rand - meist im Zusammenhang mit Finanzierungsfragen - mit Sport befasst.» Bisher noch nie umfassend zur Sprache gekommen seien grundsätzliche Fragen wie Sicherheit und Gewalt bei Grossanlässen, Dopingmissbrauch, Diskriminierung von Frauen oder das Problem des sexuellen Missbrauchs im Sport.

Ansonsten gibt es im Bundeshaus noch die informelle Parlamentarische Gruppe Sport, in der man sich, so Bruderer von links bis rechts einig sei, «dass wir alle den Sportsgeist teilen». Präsidiert wird die Gruppe von Ständerat Maximilian Reimann (SVP), Pascale Bruderer sitzt im Vorstand, man trifft sich einmal pro Session über Mittag, um sich von externen Referierenden über wichtige Aktualitäten informieren zu lassen oder sich zu ermuntern, in den Räten gegen Kürzungsanträge im Sportbereich zu stimmen: «Aber verbindlich sind die Absprachen nicht. Das höchste der Gefühle ist es jeweils, wenn SVP-Mitglieder der Sportgruppe vor einer Abstimmung das WC aufsuchen, um nicht mit ihrer Partei für die Kürzung stimmen zu müssen.»

Das informelle Schattendasein des Sports habe «in Zeiten bundespolitischer Sparhysterie eine Stop-and-Go-Politik zur Folge». Das «Konzept des Bundesrates für eine Sportpolitik in der Schweiz» vom 30. November 2000 präsentiert zwar einen beeindruckenden Massnahmenplan - insbesondere soll der «Anteil der bewegungsaktiven Bevölkerung aller Altersgruppen» erhöht werden -, die Massnahmen werden aber wegen Budgetkürzungen nicht konsequent umgesetzt. Deshalb fordert Bruderer mit ihrer parlamentarischen Initiative ein Gremium - am ehesten konstituiert als Subkommission der WBK -, das sich formell legitimiert für die sportpolitische Nachhaltigkeit der Parlamentsbeschlüsse einsetzt.

Nicht mehr Klassenkampf

Aber wozu überhaupt ein Engagement von links für den Sport? Die Vereine des Satus (Schweizer Arbeiter-Turn- und Sportverband) haben ja ihre Blütezeit als «Vorfeldorganisationen» zur Mobilisierung für den Klassenkampf auch schon einige Zeit hinter sich. Pascale Bruderer definiert: «Linke Sportpolitik ist heute vor allem nachhaltig, worunter ich zum Beispiel die Qualität verstehe ...», sagt sie, als auf dem Tisch der Piepser zu lärmen beginnt. Sie wirft einen schnellen Seitenblick auf den Bildschirm, springt auf und verschwindet in einem von allen Seiten heranstürzenden Pulk von Räten und Rätinnen durch die Schwingtür. In den nächsten Minuten befindet der Rat zuerst über den Minderheitenantrag Leutenegger Oberholzer (die Linksgrünen verlieren mit 70 zu 90 Stimmen), anschliessend findet die Gesamtabstimmung über das EP 04 statt (die Linksgrünen verlieren mit 62 zu 95 Stimmen).

Kaum hat sich Pascale Bruderer wieder gesetzt, fährt sie nahtlos fort: Qualität im Sport zeige sich zum Beispiel in der Ausbildung des Nachwuchses oder bei den subventionierten Vereinen, die vermehrt daran erinnert werden müssten, dass Sport nicht einfach an sich etwas Gutes sei, sondern dass sie darlegen müssten, wie sie die Qualität hochhalten, wenn sie weiterhin Geld wollten.

Unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit seien im Weiteren die «Integrationsleistungen des Sports» zu fördern: «Wenn ich sehe, wie ausländische mit Schweizer Kindern im Spiel die Grenzen von Sprachen und Mentalitäten aufheben - das ist etwas Wunderschönes. Sport ist eine Möglichkeit, dass sich Menschen ohne Vorurteile begegnen können.» Integrationsspezifische Ziele seien im Sport zudem viel einfacher und billiger zu erreichen als anderswo: «Sport ist etwas Verbindendes, nicht Ausgrenzendes. Darum finde ich es gut, dass sich die Vereinsstrukturen - hier die Arbeitersportverbände, dort die bürgerlichen Turnvereine - aus den ideologischen Zwängen des Kalten Kriegs gelöst haben.»

Für sie als Befürworterin von sportlichen Grossevents wie der Fussball-«EURO 08» heisst Nachhaltigkeit aber auch, dass solche Anlässe «aufgrund von Verkehrsbelastungen nicht auf Kosten der Natur» gehen dürften: «Die Stadien dürfen nicht überdimensioniert werden, sie sollen später auch noch brauchbar sein. Und natürlich soll vom Fussballfest, von der Freude, sich selber zu bewegen, möglichst viel bleiben.»

Wichtig sei schliesslich die gute Zusammenarbeit zwischen den Vereinen, Verbänden und Swiss Olympic auf der einen Seite und Bund, Kantonen und Gemeinden auf der anderen. Entschärft werden müssten insbesondere die föderalistischen Hemmnisse, zum Beispiel wenn es zwischen den Kantonen um die Verrechnung der Schulgelder von Sportschulen gehe. Nachhaltige Sportpolitik bedeute kurzum: Qualität, Zusammenarbeit und Kontinuität im Bereich der finanziellen Rahmenbedingungen.

An dieser Stelle ist wieder ein Spurt in den Ratssaal nötig: Abgestimmt wird jetzt über die privatverkehrsfreundliche Motion für die zweckgebundene Verwendung der Mineralölsteuer. Die Linksgrünen verlieren mit 73 zu 99.

Linke Sensibilitäten

Was ist eigentlich bürgerliche Sportpolitik? Pascale Bruderer macht ein Beispiel: Vor einiger Zeit habe es im Rat einen Wortwechsel gegeben zwischen Peter Vollmer (SP) und Simon Schenk (SVP). Vollmer habe gesagt, es sei einfach völlig daneben, dass Eishockeyspieler mit Bierwerbung auf den Trikots spielten. Schenk habe entgegnet, man mache den Spitzensport kaputt, wenn man mit dem Argument, alkoholische Getränke dürften nichts mit Sport zu tun haben, regulieren wolle; gerade die Förderung des Spitzensports brauche wirtschaftspolitische Massnahmen.

Das sehe man in der SP-Fraktion anders. Hier sei man sich einig, dass der Staat primär den Breiten-, nicht den Spitzensport zu fördern habe; dass es um die Förderung von Seniorensport, Jugendsport und des Turnunterrichts in den Schulen gehe; dass es keine soziale oder geschlechtsspezifische Diskriminierung geben dürfe. «Wenn mir innerhalb der Fraktion etwas Sorgen macht, dann ist das der unterschiedliche Grad der Sensibilisierung, wie wichtig diese Anliegen sind. Da braucht es manchmal auch in unserer Fraktion Überzeugungsarbeit.»

Jetzt weitet Pascale Bruderer ihre Definition von linker Sportpolitik aus: «Zwar gibt es in diesem Bereich weniger klare Grenzen zwischen den Parteien als anderswo, aber die linken Parteien fokussieren andere Aspekte als die bürgerlichen. Für uns stehen der Breitensport, der Generationenaspekt, die Gesundheitsprävention und die Nachhaltigkeit im Vordergrund. Dazu kommt die Sensibilität für allfällige Gefahren - im Bereich der Ökologie so gut wie in jenem der Kommerzialisierung, der Gewalt oder bei der Tendenz zur Individualisierung, die zu einer Bedrohung geworden ist für die Vereinsstrukturen: Hier geht es um die Wertschätzung der Ehrenamtlichkeit.» Zentral sei, dass die Linke den Sport nicht den Bürgerlichen überlasse, es gebe genug sozialdemokratische Anliegen und Forderungen, die sich in der Sportpolitik ausdrücken liessen.

Zusammen mit der Nationalratskollegin Hildegard Fässler will sie deshalb in den nächsten Monaten das «Sportpolitische Papier der SP» aus dem Jahr 2001 überarbeiten und um aktuelle Aspekte wie das Dopingproblem oder die Gewalt in den Stadien erweitern. Gerade in der Einschätzung des Hooligangesetzes mit der Schaffung einer Hooligandatenbank sei die Fraktion im Moment «eher gespalten». Während für sie der Handlungsbedarf «ganz klar gegeben» sei, stosse der Vorschlag bei anderen aus Datenschutzgründen auf Ablehnung.

Konstante Spielstärke

Pascale Bruderer hat eine ganz persönliche und eine gesellschaftliche Vision, wenn es um Sport geht. Persönlich möchte sie nächstes Jahr ein Projekt lancieren und mit übergewichtigen Jugendlichen regelmässig joggen gehen. Gesellschaftlich müsse das Bewusstsein wieder verankert werden, dass Bewegung etwas Nötiges und etwas Lustvolles sei. «Sich seines Körpers bewusst werden, sich im Alltag wieder mehr bewegen ...», sagt sie, springt dann auf, als sei eben der Startschuss zum 100-Kilometer-Lauf von Biel gefallen, den sie in der Nacht vom 17. auf den 18. Juni zusammen mit drei FraktionskollegInnen bestreiten will.

Diesmal stimmt sie im Ratssaal gegen die Motion zur Zusammenführung von BWL, BLW, BVET und Eidgenössischer Forstdirektion. Auf dem Bildschirm wird die Sitzordnung des Rats eingeblendet, und je nachdem ob Ja oder Nein gestimmt wird, leuchtet der entsprechende Sitz rot oder grün auf. Das Team der Linksgrünen spielt weiterhin konstant: Diesmal verliert es 62 zu 98.

Politik statt Schach

Als Handballjuniorin hat Pascale Bruderer einmal in der Nationalmannschaft gegen Israel gespielt: «Als die Hymne ertönte, als ich selber mitsang - das hat mich schon gepackt. Aber dieser bürgerliche Aspekt des Sports stand für mich nie im Vordergrund.» Sie stammt aus einer SP-Familie in Baden, und ihre Eltern sind bis heute im Satus engagiert.

Geboren wurde sie 1977, besuchte zuerst eine Jugendriege, wechselte dann zur Handballabteilung von Satus Wettingen, später zu Amicitia Zürich. Damals träumte sie von einer Karriere als Sportprofi und trainierte wöchentlich bis zu fünf Mal. Eine Serie von Knieverletzungen, die insgesamt sieben operative Eingriffe nötig machten, beendete den Traum.

Der Arzt empfahl ihr damals, Schach zu spielen statt Handball - sie wählte Jogging, Schwimmen und Inline-Skating als Ausgleichssportarten und stieg in die Politik ein. Dort machte sie eine Blitzkarriere: An der Kantonsschule war sie Präsidentin der SchülerInnenorganisation, 1997 wurde sie auf der SP-Liste ins Parlament von Baden gewählt; 1999 in den Nationalratswahlen zum ersten Ersatz; 2001 Wahl zur Grossrätin; 2002 rutschte sie in den Nationalrat nach; 2003 erreichte sie bei der Wiederwahl auf der Liste der SP Aargau das beste Resultat. Das Parlamentarier-Rating 2004 weist sie auf der Skala von -10 bis +10 mit -5,8 als rechtestes Mitglied der SP-Fraktion aus - das linkste ist Susanne Leutenegger Oberholzer mit -8,9.

Zurzeit schliesst Pascale Bruderer ihr Studium der Politikwissenschaften ab. Vor einigen Tagen hat sie ihre Lizenziatsarbeit eingereicht. Thema: «Interessensbindungen im eidgenössischen Parlament».