Christian Gross: Was er sagt, das lebt er

Nr. 23 –

Zehn Jahre prägte der Zürcher den FC Basel und führte ihn von einem Erfolg zum nächsten. Seine meisterlichen Fähigkeiten bewies der Ausnahmetrainer schon in den Anfängen seiner Laufbahn.


Wer schon einmal bei einem Verein Fussball gespielt hat, kennt die Sprüche. Von der 5. Liga bis in die Super League geben die Trainer Wochenende für Wochenende alles, um die Spieler mit ihren Parolen auf eine Partie einzuschwören. Christian Gross ist beileibe keine Ausnahme: «Der Unterschied zwischen Sieger und Verlierer ist die Fähigkeit, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.» Aha! «Wir müssen den Gegner dort packen, wo er verwundbar ist, und diesen Vorteil mit positiver Aggressivität ausnützen.» Logisch eigentlich - auf dem Rasen wie im Boxring! Auch zum Teamgefüge hat sich Gross seine Gedanken gemacht: «Eine Mannschaft mag hervorragende Einzelspieler haben, wirklich stark wird sie aber nur, wenn sie ein Ziel hat und jeder für jeden da ist.»

Sprachliche Originalität sieht anders aus. Eigentlich ist der Mann mit der steifen Oberlippe und dem grellen Züri-Dialekt kein geborener Kommunikator. Dennoch trifft er mit seinen Ansprachen  - einer Mischung aus Leidenschaft, Ernst und trockenem Humor - Fussballer direkt ins Herz. Das unterscheidet den Polizistensohn aus Höngg von Tausenden anderen Trainern, die Woche für Woche ihre Motivationsfloskeln abgeben. So ist verständlich, dass sich die Klubverantwortlichen in den Amateurligen Jahr für Jahr die Köpfe darüber zerbrechen, wer das Zeug zu einem neuen «Chrigel» Gross haben könnte.

Nicht mit dem Zauberstab

1988 übernahm Gross den FC Wil in der 2. Liga als Spielertrainer - seine erste Trainerstation. Der Vorgänger hatte gerade noch den Fall in die 3. Liga verhindern können. Doch der frühere Profispieler von GC, Lausanne, Neuchâtel, Bochum, St. Gallen und Lugano ahnte, dass sich in der Ostschweizer Kleinstadt mit 17 000 EinwohnerInnen etwas bewegen lässt. Nicht mit dem Zauberstab, dafür hatte der FC Wil - lange vor dem Einstieg des Bankers Andreas Hafen, der Geld von der UBS zum FC Wil abzweigte - gar nicht die Mittel.

In den ersten beiden Jahren stabilisierte Gross das Team in der 2. Liga. Erst nach der dritten Saison startete Wil mit fast unverändertem Kader durch - 1. Liga, Nationalliga B und als Zugabe in einem Atemzug die Qualifikation für die Aufstiegsrunde zur NLA. Ein Spieler erinnert sich: «Gross kannte kein Pardon, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Er nimmt aber auch jeden Spieler als Mensch und Sportler ernst. Das war wohl die Voraussetzung, dass jeder von uns über Monate 120 Prozent Leistung abrufen konnte.»

Ein Beispiel aus dieser Zeit ist vielen in Erinnerung geblieben: 1992 setzte sich der FC Wil in den Aufstiegsspielen zur 1. Liga gegen Tuggen durch. Das obligate Aufsteigerbild war fällig. Trainer und Abwehrchef Gross stellte fest, dass ein Betreuer fehlt. Er wies die Journalisten an, auf keinen Fall bereits zu knipsen, und suchte nach dem Abwesenden. Unter heftigem Donnerwetter führte er ihn zum Gruppenbild.

«Es braucht für den Erfolg alle, von der Nummer 1 bis zur Nummer 24 und bis zum Masseur»: Gross sagt das nicht nur, er lebt es. Bereits bei den Hobbykickern des FC Wil achtete er penibel auf die Ernährung. Spieler, die er beim Cola-Trinken erwischte, erinnern sich heute noch an die Standpauke. Selbst als 39-Jähriger war der ehemalige Bundesligaprofi für die Mannschaft in der Defensive unentbehrlich.

Beim FC Wil wussten alle, was sie an Gross hatten. Im nationalen Fussball hingegen wurde der Trainer unfreundlich empfangen. «Wird aus GC jetzt ein Provinzklub?», giftelte der «Tages-Anzeiger» im Mai 1993, nachdem bekannt wurde, dass Gross bei den Grasshoppers Nachfolger des gescheiterten Welttrainers Leo Beenhakker wird. Die damaligen Stars Ciriaco Sforza, Alain Sutter oder Peter Közle verliessen den Klub fluchtartig. Trainerkollege Umberto Barberis schimpfte im «Blick»: «Gross macht den Markt kaputt!» In seinen Augen waren die 200 000 Franken Gehalt als GC-Trainer ein Dumpingpreis. Der neue GC-Trainer blieb nach aussen wie immer gelassen: «Als Neuling in der Nationalliga A kann ich doch nicht 400 000 Franken verlangen.»

Und er fand auf dem Rasen die richtige Antwort: Zweiter in der Meisterschaft und Cupsieger. Die Kritik am «Provinztrainer» war schnell verstummt, Gross hatte recht behalten: «Ich liebe es, unterschätzt zu werden. Das motiviert mich.»

Abschied vom Joggeli

Sechs Meistertitel und fünf Cupsiege später ist Christian Gross Millionär. Ein Misserfolg war einzig der Abstecher zu den Tottenham Hotspurs in England. Dafür war der Weg frei für sein Engagement beim FC Basel. Seit 1999 führte der Zürcher die Basler von einem Erfolg zum nächsten.

Dennoch wurde er nach zehn goldenen Jahren entlassen. «Wer mich kennt, weiss, dass ich den Vertrag gern erfüllt hätte», sagte Gross an der Medienkonferenz. Zwei Tage später verabschiedeten ihn 27 526 Zuschauer im St.-Jakob-Park. Gross winkte zwei, drei Mal und verschwand das letzte Mal in der Senftube.

Jetzt wird spekuliert: Deutschland, Italien oder ein Klub in der Schweiz? Dass der Trainer in diesem Frühling ein Haus im ausserrhodischen Teufen baute, deutet darauf hin, dass der Drang ins Ausland womöglich nicht allzu stark ist. «Vielleicht erschrecken Sie jetzt», sagte Gross vor drei Jahren in einem Interview mit der NZZ, «ich könnte problemlos eine Juniorenmannschaft betreuen und würde dies mit der genau gleichen Leidenschaft tun.»

Für den Schweizer Fussball könnte man sich nichts Besseres wünschen. Irgendwann wird Ottmar Hitzfeld als Nationaltrainer ja auch genug haben.

Richard Zöllig (1967), heute beim Ostschweizer Kulturmagazin «Saiten», erlebte den Höhenflug des FC Wil unter Christian Gross als junger Sportjournalist hautnah. Seither beobachtet er die Entwicklung des Meistertrainers mit ungebrochener Sympathie aus der Distanz.