Arbeitsmigration: Der Boss ist dein Gott
Im reichen Dubai können ausländische Arbeitskräfte sehr gut leben - wenn sie aus dem Westen kommen. Für die anderen bleiben die Brosamen.
Jenny ist verzweifelt. Ihr Chef hat ihr zum ersten Mal seit drei Jahren Ferien erlaubt - und ihr gleich auch fristlos gekündigt, wegen «mangelnder Professionalität». Dabei habe sie ihm, dem jungen, reichen Einheimischen, das Geschäft geführt, ihn an seine Hautpflege erinnert und sogar an ihren freien Tagen für ihn gearbeitet, wenn er es verlangte. Ohne sie, sagt sie entrüstet, wäre das Unternehmen längst in Konkurs gegangen.
Die 28-jährige Filipina lebt seit fünf Jahren in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ihre erste Stelle hat sie vorzeitig verlassen, vor Ablauf der drei Jahre, die für ausländische ArbeiterInnen als Minimum gesetzlich vorgeschrieben sind. Ihr damaliger Chef hat auf die Zurückweisung seiner Liebesavancen ungehalten reagiert und sie mit unbezahlten Überstunden bestraft, auch wenn es gar nichts zu tun gab. «In Dubai», beliebte er zu sagen, «ist dein Boss dein Gott.» Es gelang ihr, sich mit finanzieller Hilfe von FreundInnen von ihrem Arbeitgeber «freizukaufen», das heisst, ihm die Kosten für ihre Aufenthaltsgenehmigung zurückzuzahlen. Doch sie wurde aus den Emiraten ausgewiesen und erhielt eine halbjährige Einreisesperre. Aus Sehnsucht nach ihrem Freund in Dubai entschloss sie sich, mit falschem Pass zurückzukehren. Doch das nächste Unternehmen, bei dem sie Anstellung fand, ging nach einem halben Jahr in Konkurs, und die Inhaber drohten mit einer erneuten Ausweisung samt Einreisesperre. So entschied sie sich unterzutauchen. Ihr Foto erschien daraufhin in den «Gulf News», der englischsprachigen Zeitung, mit der Warnung: «Untergetaucht - Anstellung auf eigenes Risiko».
Nationalitätenhierarchie
Die Vereinigten Arabischen Emirate betreiben seit den siebziger Jahren eine Arbeitsrekrutierung in grossem Umfang. Die meisten Arbeitsverträge sind auf drei Jahre befristet, Verlängerung ist möglich. Dagegen gestaltet es sich oft sehr schwierig, die Stelle vorzeitig zu verlassen. In vielen Fällen droht den Angestellten Ausweisung und Einreiseverbot bis zu einem Jahr oder gar der Abstieg in die Illegalität.
Ausländische Angestellte («Expats») finden in den Emiraten eine informelle institutionalisierte Hierarchie vor, in der Lohn und Respekt direkt an Nationalität und Geschlecht gekoppelt sind. Menschen aus dem Westen stehen an der Spitze, gefolgt von AraberInnen, während am unteren Ende die grosse Masse AsiatInnen (aus Indien, den Philippinen, Indonesien, China, Sri Lanka) steht, unter denen die MuslimInnen wiederum etwas besser gestellt sind als der Rest. Ann, eine Filipina, die seit fünfzehn Jahren in Dubai lebt, sagt: «Bewirbt man sich für einen Job, kommt zuerst die Frage nach der Nationalität, dann nach dem Geschlecht, und erst danach wird Interesse für Arbeitserfahrung und Ausbildung gezeigt.»
«Ein europäischer Ingenieur verdient leicht einmal 25 000 steuerfreie Dirham (8000 Franken) pro Monat plus Villa, Auto, Schulkosten und Krankenversicherung», sagt Naser, der palästinensische Projektverantwortliche einer Baufirma. «Ein arabischer Ingenieur verdient etwa zehn Prozent, ein Ingenieur aus Indien sogar fünfzig Prozent weniger.» Das stört Naser aber nicht, im Gegenteil: «Der Lohn der Expats beruht auf der Kaufkraft ihres Heimatlandes.» Darum sieht er auch kein Problem darin, dass die meisten Bauarbeiter, die überwiegend aus Indien, Pakistan und Bangladesch stammen, zu einem Lohn von maximal 1000 Dirham (zirka 330 Franken) pro Monat schuften. Die Aussentemperaturen in Dubai können im Sommer bis auf fünfzig Grad steigen, und jedes Jahr kommt es zu Hitzetoten unter den Bauarbeitern. Die Unterkünfte, von der Baufirma zur Verfügung gestellt, sind einfach, nicht selten teilen sich bis zu zehn Männer ein kleines Zimmer. Ein Schweizer Unternehmer, der seit einigen Jahren in Dubai lebt und arbeitet, berichtet von Arbeiterunterkünften, in denen sich drei Männer im Schichtbetrieb ein Bett teilen. Die Männer werden zu Schichtbeginn mit Bussen auf die Baustelle gefahren und bei Schichtende wieder abgeholt. Dubais Glamour geht an den Menschen vorbei, die die Bauwerke der Superlative erbaut haben. Naser zuckt mit den Schultern: «Hier geht es ihnen besser als zu Hause.»
Frozen Margarita
Das mag aus finanzieller Sicht zutreffen. In vielen Herkunftsländern bewegt sich die Arbeitslosigkeit im zweistelligen Prozentbereich - auf den Philippinen etwa um 10 Prozent, während weitere 22 Prozent der Erwerbstätigen als unterbeschäftigt gelten.
192 000 Filipinos arbeiten in den Vereinigten Arabischen Emiraten, rund 60 000 davon in der Hauptstadt Dubai. Vicente Gabe, der Arbeitsattaché des philippinischen Konsulates in Dubai, ist überzeugt, dass die Philippinen auch ohne Arbeitsmigration auskommen könnten: Mit Hilfe von ausländischen Investitionen und mit der Arbeitskraft zurückgekehrter ArbeitsmigrantInnen käme das Land wirtschaftlich wieder auf die Beine. Doch die Realität sieht anders aus: Überweisungen philippinischer GastarbeiterInnen in die Heimat übertreffen mit zehn Milliarden Franken (2004) die ausländischen Investitionen um das Hundertfache.
Die Serviceangestellte Faye schickt wöchentlich vier Fünftel ihres Lohnes nach Hause. Davon finanziert sie unter anderem die Schulgebühren ihrer jüngeren Geschwister. Die 25-jährige Filipina arbeitet fünfeinhalb Tage pro Woche in einem irischen Pub; die Freizeit verbringt sie meist schlafend in ihrem Zimmer. Schon oft musste sie sich betrunkene einheimische Männer vom Leibe halten. Einmal, erzählt sie, habe sie einem betrunkenen Scheich das Tablett auf dem Kopf zerschmettert, als dieser nach ihrem Hintern griff. Ihr Boss sei zwar auf ihrer Seite, unternehme aber nichts, um solchen Szenen zuvorzukommen. Faye arbeitet seit knapp eineinhalb Jahren in Dubai und zählt die verbleibenden Monate, bis sie wieder nach Hause kann. Sie ist zwar glücklich über die Möglichkeit, etwas mehr Geld zu verdienen, doch länger als vorgeschrieben möchte sie nicht in diesem Land bleiben.
Auch Jenny müsste ihrer Familie Geld schicken. Dieser Auffassung ist jedenfalls ihre ältere Schwester, die seit 1986 in den Emiraten lebt und von ihrem Lohn ihren zahlreichen Geschwistern eine Ausbildung ermöglicht hat. Jenny ist anderer Ansicht. «Ich möchte jetzt leben», sagt sie, «nicht später.» Sie geht gerne in die Disco und gönnt sich regelmässig ihren Lieblingsdrink Frozen Margarita. Sie ist sich bewusst, dass sie eine Ausnahme von der gängigen ArbeitsmigrantInnen-Mentalität bildet, und ein bisschen schlechtes Gewissen schwingt in ihrer Aussage mit. Freilich hat sie schon dadurch Unfrieden über die Familie gebracht, dass sie sich mit einem Mann arabischer Herkunft liierte. «Ich bin anders als meine Familie», sagt Jenny. «Müsste ich das Leben meiner Schwester leben, würde ich vor Langeweile sterben.»
Keine Gewerkschaften
Für viele Arbeitskräfte, die in ihrem Heimatland keinen oder nur einen schlecht bezahlten Job finden, bietet Dubai die Chance, sich eine anständige Pension zu erarbeiten, im Heimatland ein Haus zu bauen und den Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Die zwanzigjährige Netsanet aus Äthiopien, die sich nach dem Tod der Mutter gezwungen sah, die Schule aufzugeben, ist stolz auf ihr Leben in Dubai. Sie arbeitet als Verkäuferin in einer Modeboutique und ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie sehnt sich einzig nach der Schule zurück - ihren Traum vom Ingenieurstudium hat sie noch nicht ganz aufgegeben.
Erfolgsgeschichten wie diese können die Tatsache jedoch nicht vertuschen, dass viele ArbeitgeberInnen sich nicht scheuen, ihre Macht zu missbrauchen. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben nur wenige internationale Abkommen zum Schutz von Menschenrechten und spezifischen ArbeiterInnenrechten unterschrieben und ratifiziert. Mehrere internationale Konventionen der Uno und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die die Emirate ratifiziert haben, untersagen zwar generell Diskriminierungen aller Art. Die wichtigste Konvention dieser Art, die Konvention zum Schutz der Rechte aller WanderarbeiterInnen und deren Familienmitglieder von 2003, haben die Emirate jedoch nicht ratifiziert. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hat die Regierung mehrfach erfolglos dazu aufgefordert. Diese Konvention schützt WanderarbeiterInnen unabhängig davon, ob sie eine gültige Aufenthaltserlaubnis haben oder nicht. Unter anderem werden die unteilbaren Menschenrechte der ArbeitsmigrantInnen festgehalten: das Recht auf Freiheit, auf Familieneinheit, auf Bildung, auf körperliche Unversehrtheit und medizinische Behandlung, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, rechtsstaatliche Verfahrensweisen.
Jenny hat noch nie von dieser Konvention gehört. Sie kann sich auch nicht vorstellen, dass diese ihre Situation verbessern würde. «Die Einheimischen haben sowieso ihre eigenen Gesetze», erklärt sie ungeduldig. Sorgen wegen eines neuen Jobs macht sie sich momentan nicht; sie vertraut darauf, dass sie durch ihr Kontaktnetz schnell wieder eine Anstellung findet. Vielmehr bekümmert sie, dass sie, solange sie hier lebt, ihren Freund nicht heiraten kann, weil sie unter falscher Identität lebt. Und solange sie nicht verheiratet ist, können sich die beiden nie zusammen in der Öffentlichkeit zeigen. Sie hofft auf eine Zukunft in den Philippinen. Verbesserungen auf dem dortigen Arbeitsmarkt sind jedoch nicht abzusehen: Noch immer strömen jeden Monat rund 34 000 Filipinas und Filipinos an den Golf.
Zweiklassengesellschaft
Die Vereinigten Arabischen Emirate betreiben eine Arbeitsimportpolitik, die auf eine Zweiklassengesellschaft abzielt. Die 700 000 Einheimischen machen nicht einmal ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Sie leben in einem Wohlfahrtsstaat, der ihre Gesundheitskosten und ihre Ausbildung bis auf Universitätsniveau bezahlt; sogar die Mitgift wird vom Staat übernommen - ein Mittel, um binationale Ehen zu verhindern. Ausländische Arbeitskräfte machten im Jahr 2000 neunzig Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus.
Die Aufenthaltsgenehmigung in den Emiraten ist an den Arbeitsvertrag gekoppelt: Wer seine Arbeit verliert oder vorzeitig verlässt, muss in der Regel das Land verlassen und erhält eine Einreisesperre von bis zu einem Jahr. Die Aufenthaltsgenehmigung muss von einem Sponsor - in der Regel der Arbeitgeber - beantragt und finanziert werden. Ferner ist es institutionalisierte - wenn auch illegale - Praxis, dass ArbeitgeberInnen den Pass der Angestellten konfiszieren. ArbeitsmigrantInnen, die ihren Job kündigen, enden oft in Illegalität oder Zwangsarbeit, wenn sich UnternehmerInnen weigern, den Pass auszuhändigen, das Rückflugticket zu bezahlen oder ein Ausreisevisum auszustellen.