Nach den Friedensdemos: Ein guter Anfang

Nr. 11 –

Vor drei Jahren demonstrierten hunderte von Winterthurer Jugendlichen gegen den Irakkrieg. Viele sind aktiv geblieben.

«Mit einigen anderen aus der Schule organisierte ich eine Demo gegen den Krieg. Vor dem Stadthaus hielt ich eine Rede. Ich kam mir grausam wichtig vor. So sollte es ja nicht sein, aber ein Erfolgserlebnis war es trotzdem. Ein guter Anfang.» Es ist Freitagabend. Roman* wartet im selbstverwalteten Restaurant Widder auf den Beginn eines Konzertes. Der «Widder» ist voll, die Konzerte sind immer gratis, dafür kostet das Bier einen Franken mehr. «Der Irakkrieg war das Ereignis, das zur Organisierung der Leute führte. Viele waren vorher schon politisch interessiert, aber noch nicht verbunden.» So sieht es auch Ramona*, die heute mit anderen AktivistInnen in einer WG an der Steinberggasse lebt. Auch sie war vor drei Jahren noch im Gymnasium. Wie in anderen Städten begannen die Winterthurer GymischülerInnen, spontan Demos gegen den Krieg zu organisieren: «Zuerst demonstrierten die Schulen einzeln, dann alle zusammen. Wir bekamen schulfrei, obwohl einige LehrerInnen dagegen waren. Wir zogen dann gemeinsam vor die Berufsschule. Dort standen die SchülerInnen an den Fenstern und durften nicht raus.» Auch für Ramona war es das erste Mal, dass sie politisch aktiv wurde.

Winterthur hatte lange das Image einer verschlafenen Industriestadt. Die ArbeiterInnen bei Sulzer und Rieter sollten früh ins Bett, damit sie ausgeruht zur Arbeit kamen. Die unruhige Jugend Anfang der achtziger Jahre war in Winterthur nicht willkommen. Polizeirazzien in WGs und wochenlange Untersuchungshaft für dutzende AktivistInnen, während deren sich eine junge Frau umbrachte, wirkten in der Stadt lange nach. Doch ganz ruhig wurde es nicht: Immer wieder gab es Hausbesetzungen und Mobilisierungen gegen Rechtsextreme. Ausserdem entstand seit den achtziger Jahren eine Vielzahl von selbstverwalteten Kleinbetrieben in fast allen Branchen.

Im März 2003 waren plötzlich hunderte von Jugendlichen zwischen fünfzehn und zwanzig zusammen auf der Strasse. Und anders als in manchen anderen Städten gingen sie nicht einfach wieder nach Hause, als die Antikriegsproteste abflauten. Ältere und jüngere AktivistInnen fanden zusammen. Das Resultat war ein Schub politischer Aktionen: die spektakuläre Besetzung des Sulzerhochhauses im Februar 2004, diverse weitere Besetzungen für Wohn- und Kulturraum, Demos, Aktionen, Veranstaltungen, ein Internetforum und eine Zeitung, der «Brandsatz». Vom Wef über Wegweisungen bis zu Ökologie und alternativen Lebensformen kommen in Winterthur viele Themen zur Sprache.

Die bis anhin letzte grosse Aktion war die Besetzung des 24 000 Quadratmeter grossen Areals der Sidi, einer ehemaligen Seidenweberei, am letzten Februarwochenende. «Sie, die bleiben», steht an der Aussenwand, unter dem Bild eines entschlossen dreinschauenden Comic-Mädchens. Das Areal gehört dem Kanton Zürich und wird von der aus der Liegenschaftenverwaltung des Kantons Zürich hervorgegangenen Kantag AG verwaltet. Zurzeit verhandeln die BesetzerInnen über einen befristeten Nutzungsvertrag. Urs*, einer der Sidi-BesetzerInnen, lebte vor drei Jahren noch im Thurgau. «Auch dort war einiges los. Es gab Protestmärsche von Frauenfeld nach Kreuzlingen und von Romanshorn nach Weinfelden. Ich war schon länger politisch interessiert, und als ich ein Jahr später nach Winterthur kam, fand ich gleich Anschluss.»

Aus einer Gruppe, die sich spontan für die Organisation der Antikriegsdemos gebildet hatte, entstanden im Sommer 2003 die Alternativ-Revolutionären Kräfte (ARK), die etwa ein Jahr lang existierten. In ihrem Grundsatzpapier hiess es: «Wir alle arbeiten auf eine Revolution (siehe Namen) und die Aufhebung des Kapitalismus hin, sind uns aber innerhalb der Gruppe nicht einig, wie die Revolution selbst und die nachfolgende Gesellschaftsordnung aussehen soll (...)» Es ging nicht mehr nur gegen den Krieg, sondern um grundsätzliche Kritik. «Irgendwann kam die Erkenntnis, dass dieses System als Ganzes nicht funktioniert», sagt Roman. «Ich habe früher auch mit bösen Managern argumentiert und so, bis ich merkte, dass es um Grundsätzlicheres geht.» Wie kam es zu dieser Radikalisierung? Am Anfang habe er vor allem in Diskussionen viel gelernt, dann auch immer mehr Bücher gelesen, sagt Roman, der sich unter anderem intensiv mit dem Aufstand im mexikanischen Bundesstaat Chiapas befasst hat. Auch für Robin*, einen der ARK-GründerInnen, waren Diskussionen enorm wichtig. «Als wir damals im ARK-Grundsatzpapier geschrieben haben, wir seien gegen Sexismus, war das nur ein Schlagwort für mich. Erst mit der Zeit habe ich gemerkt, wie auch in der Punkszene, zu der ich viel Kontakt hatte, sexistische Sprüche und Mackergehabe normal waren. Und wie ich selber sexistisches Denken verinnerlicht hatte.»

Es fällt auf, wie oft in Winterthur diskutiert wird, an Veranstaltungen, aber auch am Esstisch. Und es wird viel gelesen - vom russischen Anarchisten Michail Bakunin bis zur Geschichte des Zürcher Opernhauskrawalls. Das Interesse an politischer Theorie und linker Geschichte ist gross. Es gibt anarchistische, marxistische, autonome Gruppen und Zusammenschlüsse.

Ein immer aktuelles Thema ist die Winterthurer Stadtentwicklung. Vor allem für den sozialdemokratischen Stadtpräsidenten Ernst Wohlwend, der zahlungskräftige Schichten nach Winterthur locken will. Der Stadtrat versucht alle grossen LiegenschaftsbesitzerInnen zu überzeugen, mehr Wohnungen im «mittleren und gehobenen Preissegment» anzubieten. Mit Erfolg: Letztes Jahr wurden Baugesuche für 1100 Wohnungen mit einer Investitionssumme von 855 Millionen Franken bewilligt. «Die Stadt Winterthur wird für Investoren immer attraktiver», schreibt die NZZ. Günstiger Wohnraum ist knapp. Das macht nicht nur den linken AktivistInnen zu schaffen: Bei fast jeder Besetzung melden sich in den Regionalzeitungen LeserbriefschreiberInnen zu Wort, die Verständnis für die BesetzerInnen zeigen.

Die riesigen alten Hallen der Sidi sollen abgerissen werden für ein «langweiliges Ensemble von sieben Mehrfamilien-Wohnbauten im zeitüblichen Stil», so ein kritischer Leserbriefschreiber im «Landboten». Im Moment ist das Bauprojekt blockiert: Die Bauherrin, die Beamtenversicherungskasse des Kantons Zürich (BVK), hat rekurriert, weil sie den Minergiestandard nicht einhalten will, den die Stadt bei grossen Überbauungen verlangt. Das Urteil wird laut dem Winterthurer Bausekretär Fridolin Störi in etwa zwei Monaten erwartet, wird aber eventuell noch ans Verwaltungsgericht weitergezogen. «Sie, die bleiben», bekommen noch etwas Zeit für ihre Projekte.

* Namen geändert