Indien: Ein Sprung aus der Tasse

Nr. 13 –

Seit einem Jahr gehört die grösste Teefirma von Kerala der Belegschaft. Und zum ersten Mal erzielt das Unternehmen mit seinen 13 000 Beschäftigten wieder Gewinn.

«Mein Grossvater oder mein Vater hätten nicht im Traum daran gedacht, dass ihnen einmal die Firma gehören könnte», sagt Rani Krishnan, die im Teefeld von Nullatanni steht. «Aber ich bin jetzt Teil des Unternehmens, ich besitze 300 Anteile.» Seit dreizehn Jahren arbeitet Krishnan auf der Plantage zwischen den Hügeln von Munnar im indischen Bundesstaat Kerala, und endlich sieht sie die Zukunft ihrer drei Kinder gesichert. «Jetzt weiss ich, dass ich ihre Ausbildung bezahlen kann, denn nun hängt das Schicksal meiner Firma von den Arbeitern ab und nicht mehr von irgendwelchen Entscheidungen des Managements.» Die Teepflückerin Rani Krishnan, deren Vorfahren ebenfalls hier auf rund 1700 Metern Höhe arbeiteten, ist Mitglied der Bezirkskommission von Kannan Devan Hills Plantations (KDHP), einer 24000 Hektar grossen Teeplantage. «Ich kann also mitreden», sagt sie stolz, «und ich kann Verbesserungen vorschlagen, die uns allen weiterhelfen.»

Seit dem 1. April 2005 befinden sich die siebzehn Plantagen von KDHP, der grössten Tee-Erzeugerin von Kerala, in den Händen der ProduzentInnen. Jährlich ernten sie rund 21 Millionen Kilogramm, das ist ein Drittel der Gesamtmenge in dem kleinen südindischen Bundesstaat - und sie erzielen trotz der anhaltenden Überproduktionskrise auf dem Weltmarkt (vgl. untenstehenden Text) sogar einen Gewinn. Der Grund dafür liegt in der Übernahme des Betriebs durch die Beschäftigten und in einer Reihe von Umständen, die mit dieser Übernahme zu tun haben.

Tatas neue Wege

Über Jahrzehnte hinweg hatte Tata Tea, eine Tochterfirma des grössten indischen Konzerns Tata, die siebzehn Plantagen betrieben - zuletzt mit hohen Verlusten. Allein in den letzten vier Geschäftsjahren (von April 2001 bis März 2005) hatte das Unternehmen in Kerala Defizite in Höhe von insgesamt 2,9 Millionen Franken abschreiben müssen. Das ist nicht viel für einen Konzern, dessen 93 Unternehmen im Industrie- und Dienstleistungsbereich einen Umsatz von zuletzt 23 Milliarden Franken erwirtschafteten - aber zu viel, um die Teeproduktion in Munnar auf Dauer zu halten. Also entschloss sich der Trust, an dessen Spitze mit Ratan Tata immer noch ein Mitglied der Tata-Familie sitzt, neue Wege zu gehen.

Die Plantagen einfach zu schliessen und die knapp 16000 Beschäftigten zu entlassen, kam für die Tatas nicht in Frage. Denn seit ihrem Aufstieg, der mit Indiens Unabhängigkeit im Jahre 1947 begann, vertritt diese Familie eine Reihe von eher ungewöhnlichen Geschäftsprinzipien: Integrität, Verständnis für alle (Beschäftigte und KonsumentInnen inklusive), Einigkeit, Offenheit und Verantwortung spielen in der Firmenpolitik seit bald sechzig Jahren eine grosse Rolle. Die Arbeitsbeziehungen sind vorbildlich, die Qualität der Produkte ist gut, ein grosser Teil der Gewinne geht an Wohlfahrtsverbände und Stiftungen. An diese Grundsätze hielt sich Tata auch nach der Übernahme der britischen Tetley-Gruppe, durch die der Konzern zum zweitgrössten Hersteller von Markentee in der Welt wurde, mit einer Präsenz in über vierzig Staaten.

Da aber auch menschenfreundlich agierende Unternehmen erfolgreich wirtschaften müssen, suchte Tata ab Anfang 2004 in Munnar nach einer anderen Lösung - und beteiligte die Beschäftigten an der Diskussion. Ein Verkauf der defizitären Plantagen wäre eventuell möglich gewesen, wurde aber von den Beschäftigten und dem Plantagenmanagement mit Hinweis auf die Jobsicherheit abgelehnt. Auch die Option einer selbstverwalteten Kooperative mit gleichen Löhnen für alle fand wenig Gefallen: Besonders die ArbeiterInnen fühlten sich nicht imstande, einen so riesigen Betrieb mit langfristigem Investitionsbedarf, komplizierten Verkaufsstrukturen und komplexer Qualitätssicherung aus dem Stand heraus (also ohne das erfahrene Management) zu führen. Und so entschieden sich die Tata-Spitze, die bisherigen Betriebsleiter und die ArbeiterInnenvertretung für ein Management-Belegschafts-Buy-out, bei dem alle Mitsprache haben, Anteile besitzen und Verantwortung tragen. Das Ziel war, «kollektiv ein einzigartiges und nachhaltiges Unternehmen zu schaffen, in dem alle Beschäftigten Partner sind» - so heisst es im «vision statement», das in der Firmenzentrale in Munnar an der Wand hängt.

Das Modell

Um diesem Ziel näher zu kommen, erbrachte Tata etliche Vorleistungen. Der Konzern übernahm die Kosten für die Abfindung all jener ArbeiterInnen, die vorzeitig ausscheiden wollten. Er unterschrieb langfristige Lieferverträge, um dem neuen Projekt einen Start und die Entwicklung eigener Markenprodukte zu ermöglichen. Er sicherte zu, dass er vorläufig die Kosten für Schulen, Spitäler und andere Sozialeinrichtungen der PlantagenarbeiterInnen weiter tragen werde. Und er bot allen Beschäftigten einen Kredit in Höhe von rund hundert Franken - so viel kosten die 300 Anteilscheine, die alle mindestens kaufen mussten.

Der Plan ging auf. Von den ursprünglich 15000 Beschäftigten verliessen nur 3400 das Unternehmen. Da seither etwa 500 Arbeitskräfte neu eingestellt wurden, besitzen nun rund 13 000 ArbeiterInnen knapp vierzig Prozent der Anteilscheine. Die besser bezahlten Manager und Verwaltungsangestellten haben dreissig Prozent gekauft, der Rest der Anteile ist weiter in Besitz von Tata und diversen Stiftungen. Und alle, die ich getroffen habe und mit denen ich sprach, sind guter Stimmung.

N. Gopalkrishnan zum Beispiel ist äusserst zuversichtlich. Der Buchhalter hat schon für die britische Teefirma James Finlay gearbeitet, die einst die Plantagen besass, bevor sie von Tata aufgekauft wurden. «Der Wert meiner Anteile wird sich noch vor meiner Pensionierung in ein paar Jahren verfünffachen», hofft er. Auch T. V. Alexander, der geschäftsführende Direktor von KDHP, der seine gesamten Ersparnisse in das Projekt investierte, lobt den neu entstandenen Gemeinschaftsgeist. «Mitbestimmung wurde hier auch früher schon gross geschrieben», sagt er. «Jetzt aber erleben wir sie tagtäglich. Alle arbeiten zusammen, und ständig kommen neue Vorschläge, wie wir dieses oder jenes verbessern könnten.»

Die Teilhabe und Teilnahme an dem Projekt läuft auf allen Ebenen. Die Mitglieder der 82 lokalen Bezirkskommissionen werden von der Basis gewählt, die Hälfte aller Sitze ist für Arbeiterinnen reserviert. «Ihre grosse Erfahrung wurde bisher weitgehend ignoriert», sagt Alexander, «nun aber verfügen sie über einen grossen Einfluss.» Dieser kommt offenbar dem neuen Unternehmen zugute, in dessen Aufsichtsrat auch BelegschaftsvertreterInnen sitzen: Von April bis Dezember 2005 stieg die Produktivität um 34 Prozent; allein in diesen neun Monaten erwirtschaftete das Projekt einen Gewinn von umgerechnet rund 600 000 Franken.

Neue Produktfelder

Aber reichen mehr Engagement und die neuen Strukturen aus, um national und international wettbewerbsfähig zu sein? Seit 125 Jahren wird an den Hügeln von Munnar Tee angebaut, viele Pflanzen kommen mittlerweile in die Jahre und müssen ersetzt werden. Wie will KDHP die nötigen Neuinvestitionen finanzieren? Chacko Thomas, seit einem Jahr zuständig für die Entwicklung neuer Geschäftsbereiche, hat sich mit Unterstützung von der Basis da schon viele Gedanken gemacht. «Seit einer Gesetzesänderung im letzten Jahr dürfen wir fünf Prozent unseres Landes auch für andere Zwecke verwenden», sagt er bei unserem Rundgang durch die Felder. Diese 1200 Hektar wolle das Gemeinschaftsprojekt nun für die Anpflanzung von Obstbäumen und Blumen, die Kultivierung von medizinisch nützlichen Pflanzen und einen bescheidenen, nachhaltigen Tourismus nutzen. «Das löst uns aus der Abhängigkeit vom Weltmarktpreis für Tee», sagt er. KDHP-Chef Alexander hofft, dass bis 2010 nur noch fünfzig Prozent der Erlöse aus der Teeproduktion kommen werden.

Aber ganz aufgeben kann und will die Initiative die Teeproduktion nicht. Deshalb hat sie mehrere Massnahmen ergriffen, um ihre Haupteinnahmequelle zu stärken. Sie investiert viel Geld in neue Setzlinge und ökologisch verträgliche Anbauformen. Schon am wichtigen, alljährlich stattfindenden Wettbewerb um die indischen Golden Leaf Awards hatte KDHP im letzten September gleich sechs Preise errungen. Im Mittelpunkt standen dabei Bioteesorten, die auch vom renommierten Zertifizierungsinstitut für Marktökologie IMO in Weinfelden TG als organisch-biologische Produkte anerkannt werden. Die Richtlinien des «Just Tea»-Projekts (vgl. unten) halten die AnteilseignerInnen von KDHP ohnehin ein.

Wenn sich, wie es derzeit scheint, die Interessen von ProduzentInnen und Umwelt so sehr decken, könnte die Vision des KDHP-Projekts nach ersten Anlauf- und Umstellungsproblemen bald Wirklichkeit werden. «Wir wollen Qualitätsprodukte erzeugen, die zu niedrigsten Preisen die Erwartungen unserer Konsumenten übertreffen, und Bedingungen schaffen, die ein sozial und ökologisch verträgliches Wachstum ermöglichen», steht an der Wand der KDHP-Zentrale in Munnar. Die Tata-Führung denkt mittlerweile über ähnliche Modelle im Norden von Indien nach. Denn auch dort hat das Unternehmen Teeplantagen.



Das «Just Tea»-Projekt



Um die Bedingungen der PlantagenarbeiterInnen zu verbessern und um neue Märkte für fair produzierten Tee zu erschliessen, hat die EU gemeinsam mit dem Centre for Education and Communication in Neu-Delhi, Tradecraft in Britannien und Fakt, einem Beratungszentrum für neue Technologien in Stuttgart, die Initiative «Just Tea» gestartet. Sie unterhält in allen grossen Teeregionen von Indien Arbeitsgruppen, die über soziale und ökologische Mindeststandards debattieren und ein breites Bündnis schaffen wollen, das ArbeiterInnen und deren Gewerkschaften ebenso umfasst wie Kleinunternehmen, Händlerinnen und Plantagenbesitzer. Ziel der Initiative ist, den GrosshändlerInnen und Markenfirmen mit Hilfe einer breiteren Öffentlichkeit in Europa Kriterien aufzuzwingen, die den ProduzentInnen in Indien das Leben erleichtern.



www.justtea.org

Die indische Tee-Industrie

Mit insgesamt etwa 850 Millionen Kilogramm pro Jahr ist Indien der grösste Teeproduzent der Welt. Allein die InderInnen verbrauchen jährlich rund 670 Millionen Kilogramm, der Rest geht vor allem in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion, in den Nahen Osten und nach Britannien. Rund eine Million Menschen arbeiten in fester Beschäftigung auf den Plantagen und in den Teefabriken von Assam, Westbengalen (Darjeeling), Tamil Nadu, Himachal Pradesh und Kerala; fast genauso viele finden tageweise Anstellung oder sind im Zulieferbereich tätig.

Die weltweite Überproduktion - eine ihrer Ursachen ist der vermehrte Anbau in Sri Lanka, Kenia, China und Nepal - hat den Teepreis ins Rutschen gebracht und den Druck auf die Löhne weiter erhöht. Dabei liegen diese ohnehin schon am unteren Rand. In Westbengalen zum Beispiel bekommt eine Teepflückerin etwa 57 Rupien am Tag (umgerechnet 1,65 Franken) und in Kerala rund 77 Rupien (2,30 Franken); der Betrag liegt jeweils nur knapp über dem Mindestlohn. Schon vor fünfzig Jahren hatten die Gewerkschaften für Tee-ArbeiterInnen einen Minimallohn von 88 Rupien gefordert. Aus diesem Grunde kam es im letzten Sommer in Kerala und Westbengalen zu langen Streiks, die allerdings nur mässigen Erfolg hatten, da die grossen und kleinen FirmeneignerInnen seit Jahren über Defizite klagen. In Tamil Nadu nahmen die ArbeiterInnen gar eine Lohnkürzung hin, da viele Plantagenfirmen ihre Produktion einstellten. Mit den Arbeitskosten haben die Verluste jedoch wenig zu tun: Die Löhne der ArbeiterInnen machen nur einen Anteil von zwischen 20 und 29 Prozent der Gesamtkosten aus.

Ein wesentliches Problem stellen die mangelnden Investitionen dar. Ein neuer Teebusch muss zwischen fünf und sieben Jahre wachsen, erst dann kann geerntet werden. Die Pflanze ist bis zu hundert Jahre produktiv, die besten und höchsten Erträge liefert sie aber im Alter von zwischen dreissig und fünfzig Jahren. In Assam ist jedoch über die Hälfte der Teebüsche über fünfzig Jahre alt, in Westbengalen haben sogar achtzig Prozent der Teepflanzen ein Alter von über hundert Jahren erreicht.

Joseph Keve