Tschernobyl: Am Tag, als die Wolke kam
Wie erinnern sich Schweizer Mittzwanziger an die AKW-Katastrophe? Gab es bloss neuen Sand in den Sandkasten? Oder ins Getriebe?
Was der Radiosprecher sagte, weiss ich nicht mehr genau. Etwas von einer Wolke, die sich langsam wie eine Raupe bewege, oder so ähnlich. Wie er das sagte, weiss ich dafür noch genau: Andächtig, ja traurig klang seine Stimme. Und dabei leuchtete der Frühlingssamstagnachmittag doch so hell. Im Leben kommt man zweimal auf die Welt: Das erste Mal im bekannten Sinn. Und das zweite Mal im wörtlichen: Irgendwann klopft die Welt an die Kinderzimmertür. Macht sich bemerkbar, durch eine leichte Verschiebung des Gewohnten. Durch das Düstere im Hellen etwa. Und also liegt die Vermutung nahe: Es macht einen Unterschied, zu erleben, dass der erste Mensch am 20. Juli 1969 auf dem Mond landete. Oder dass am 26. April 1986 in der damaligen UdSSR ein Atomkraftwerk explodierte. Einen Unterschied, ob man der Welt traut, vielleicht nur für den Moment. Vielleicht für das ganze Leben. Und sei es auch nur im Rückblick. So beschloss ich letzte Woche, einige gleichaltrige Freundinnen und Freunde anzurufen. Und sie zu fragen, was ihnen einfällt, wenn sie das Wort hören, das sie vor zwanzig Jahren als Kinder hörten: Tschernobyl.
Weltuntergang
«Es war tatsächlich wunderschönes Wetter an dem Tag. Es gab ein Fest, und wir Kinder spielten draussen auf der Wiese. Als wir nach Hause kamen, hörten wir die Nachricht am Radio», sagt Salome, Jahrgang 1977. «Wir hatten keinen Fernseher. Ich hörte es auch am Radio», sagt Oli, 1980. «Wir hatten auch keinen Fernseher, meine Erinnerung ist bruchstückhaft, bilderlos», sagt Ursina, 1981. «Mir hat es die Mutter erzählt», sagt Tom, 1980. «Ich habe es nebenher erfahren», sagt Irina, 1980. «Es wurde viel davon geredet», sagt Lili, 1979. «Jedenfalls ist es das erste Ereignis von Welt, womit ich eine Erinnerung verbinde», sagt Marco, 1979. «Das erste Ereignis, bestimmt», sagen Irina, Lili, Tom, Ursina, Oli und Salome.
Salome: «Kurz zuvor verglühte zwar noch die Raumfähre Challenger. Das war fassbarer, persönlicher. Aber die beiden Katastrophen gehören für mich in der Erinnerung seltsamerweise zusammen.» Ursina: «Atomkraftwerk, der Begriff war zu abstrakt zum Begreifen. Ich habe mir darunter einfach eine Bombe vorgestellt.» Lili: «Ich habe zwar das Ausmass nicht geschnallt, aber es war ein ziemlicher Schock, es herrschte Weltuntergangsstimmung.» Irina: «Weit weg ist etwas Schlimmes passiert, viele Menschen wurden verstrahlt. Das war das Gefühl.» Tom: «Richtig erschrocken bin ich erst, als es hiess, man dürfe keine Fische aus dem Lago Maggiore mehr essen.»
Lili: «Es war von einer Wolke die Rede, die giftigen Regen in die Schweiz bringe. Und dass man deshalb kein Gemüse, keinen Salat und keine Pilze mehr essen und keine frische Milch mehr trinken soll.» Salome: «Mein kleinster Bruder war damals gerade geboren, deshalb kauften wir vorsichtshalber noch so viel Milch wie möglich ein. Ich weiss noch, wie sie sich in der Küche stapelte. Mein Freund erzählt auch immer gern, dass die Nachbarskinder nur noch Kalb statt Rind essen durften und darob eine Antibiotikavergiftung kriegten.» Ursina: «Unsere Nachbarin hörte auf zu gärtnern und ernährte sich ganz aus Konservendosen.» Oli: «Man hat sich aber schnell geeinigt, dass alles nicht so schlimm ist. Man hat über die möglichen Gefahren geredet, sie damit aber wohl auch schon gebannt.»
Marco: «Beim Wort Tschernobyl fällt mir immer zuerst der Sandkasten in unserem Quartier ein. Wir inszenierten dort jeweils Schlachten mit unseren Militärfiguren. Plötzlich durften wir drei Wochen nicht mehr darin spielen, der Sand wurde ausgewechselt. Der neue war von besserer Qualität, das hat uns gefreut. Dass die Massnahme mit Tschernobyl zu tun hatte, haben uns die Eltern erst später erzählt.» Ursina: «Bei uns wurde der Sandkasten auch abgedeckt. Wenn es mehrmals geregnet habe, dürften wir wieder rein, hiess es.» Irina: «Ich mag mich nicht erinnern, dass irgendwelche Massnahmen ergriffen wurden.»
Schönfärberei
Salome: «Was mir noch einfällt: Von der Band EAV gab es doch dieses Lied über ein Tschernobyl-Opfer namens Burlie: Burlie, Burlie, Burlie, mein Gott, ist unser Burlie süss. Der Burlie hat links und rechts drei Öhrli. An jeder Hand zehn Finger, und Hände hat er vier. Keiner spielt so schnell Klavier ... Ich wurde immer wütend, wenn dieses Lied lief. Über eine solche Katastrophe macht man doch keine Witze.» Ursina: «Die hat es aber auch auf dem Pausenplatz gegeben: Wa strahlsch so, chunsch vo Tschernobyl? Primarschulwitze halt.»
Lili: «Mich hat das Thema später nicht mehr losgelassen, ich habe alle Artikel dazu verschlungen. Bald erschien auch das Buch «Die Wolke» von Gudrun Pausewang, das von einem fiktiven Super-GAU in Deutschland handelt.» Irina: «Ich las später ein Buch über ein Mädchen, das an einer Blutkrebskrankheit leidet. Da erst habe ich die Folgen der Katastrophe begriffen.» Tom: «Für einen Schulvortrag las ich «Beherrschtes Entsetzen» von Susan Boos (vgl. Fussnote), das die Spätfolgen der Katastrophe recherchiert. Aus dieser Sicht wird die Aussage der Atomenergiebehörden, es habe in Tschernobyl bloss vierzig bis fünfzig Tote gegeben, zur blanken Lüge.»
Salome: «Noch heute fahre ich ungern am Kühlturm eines Atomkraftwerks vorbei. Tschernobyl ist für mich das Symbol für die Kehrseite des Fortschrittes. Ohne Vorsicht kann Furchtbares passieren.» Ursina: «Für mich bedeutet Tschernobyl Verlust der Kontrolle über die Forschung. Eine praktische Konsequenz daraus ist eine negative Haltung gegenüber der Atomenergie, gegenüber der Gentechnik.» Marco: «Zu einem Atomgegner hat mich Tschernobyl nicht gemacht. Die Katastrophe passierte ja nicht wegen der Technik an sich, sondern wegen mangelnder Sicherheitsmassnahmen.» Oli: «Mir macht im Moment vor allem Sorge, dass die Atomtechnik in die falschen Hände geraten könnte.»
Irina: «Die Erinnerung an Tschernobyl zeigt, wie ein Thema in den Medien, in aller Munde sein kann. Und allen Folgen zum Trotz auch schon wieder vergessen ist. Afghanistan, Irak, das war doch erst, wer denkt noch dran?» Tom: «Für mich symbolisiert Tschernobyl die Verdrängung: das Wegsehen und das Schönreden. Bis hin zur Behauptung, die Natur strahle ja auch stark. Hauptsache, man muss nicht nachdenken.» Lili: «Diese Erfahrung hat die meisten in meinem Alter aber nicht politisiert, im Gegenteil: Der Vertrauensverlust führte zu einem Grundgefühl der Verunsicherung, der Skepsis.» Salome: «Wobei man sich die auch nur aus dem Wohlstand heraus leisten kann.» Tom: «Ich versuche, eine Balance zu finden zwischen einer resignierten und einer hoffnungsvollen Einstellung.»
Non-Zonen
Der Sandkasten, die Nachbarin, das Fest: Die Verknüpfungen der Erinnerung scheinen zufällig - und doch erzählen sie viel. Fast scheint es, als hätte die Wolke die Kinderzimmer tatsächlich erreicht. Nicht mit ihrem Gift. Sondern als Grauschleier. Das AKW explodierte nahe der sowjetischen Vorzeigestadt Pripjat Tschernobyl. Seither folgten in unserem Leben weitere solche Explosionen. Die vermeintlich Schuldigen sind dabei so unfassbar, dass an ihnen schlechterdings keine Kritik und erst recht kein Protest festzumachen ist. Und am Ende kommen Menschen in Schutzanzügen und räumen alles auf.
In «Beherrschtes Entsetzen» heisst es: «Die Welt nach Tschernobyl ist unterteilt in sauber und nicht sauber.» Gewiss, das ist ein altes Gesetz von Kontrolle und Herrschaft - neu aber ist die Unsichtbarkeit der Grenzen, die längst zwischen uns hindurch verlaufen: So viele Menschen in Schutzanzügen, so viel Polizei wie jetzt gab es in unserem Leben nie. In seinem Politthriller «Globalia» zeichnet Jean-Christophe Rufin, Mitbegründer von «Ärzte ohne Grenzen», ein Bild der Welt, die aus Glaskuppeln innen und Non-Zonen aussen besteht. Drinnen leben die Globalier in einem Zustand der Halbzufriedenheit. Draussen, durch eine archaische Landschaft, ziehen marodierende Banden. Vielleicht war Tschernobyl die erste Non-Zone. «Wir werden leider das Gefühl nicht los, dass irgendwas nicht stimmt.» Unsere Verweigerung geht gerade einmal bis zu dieser Songzeile von Die Sterne. Ob das weiter schlimm ist? Vielleicht sind wir wenigstens einigermassen wach geblieben.
Dass nicht einmal das einfacher wird, illustriert folgende Meldung aus dem Online-Dienst der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»: Die Firma GSC Games in Kiew bringt demnächst ihr Computerspiel «S.T.A.L.K.E.R - Shadow of Chernobyl» heraus. «Tschernobyl ist unsere eigene Erfahrung», sagen die jungen Entwickler. An der künftig auch westliche GamerInnen teilhaben können: Umgeben vom Riesenrad und von den Plattenbauten der Geisterstadt Pripjat sowie dem Sarkophag des ausgebrannten Reaktors müssen Artefakte geschmuggelt und böswillige Mutanten getötet werden.
«Vielleicht handelt dieses Spiel über die Todeszone auch von der gespenstisch langen Halbwertszeit der Erinnerung», schrieb der Kritiker der FAZ. Ob er das resigniert meinte oder hoffnungsvoll? Vielleicht beides.
Susan Boos: «Beherrschtes Entsetzen. Das Leben in der Ukraine zehn Jahre nach Tschernobyl». WOZ im Rotpunktverlag. Zürich 1996. Vergriffen.