Integration: Ein Lob des Eigensinns

Nr. 26 –

Beruf: Hilfsabwartin. Hobbys: Filme, Rap, Tanzen, Reiten, Schwimmen, der EHC Biel. Besonderes Kennzeichen: Downsyndrom.

An Pfingsten ist Kelly aus dem Wohnheim ausgezogen. Sie lebt nun in einer geräumigen Dreizimmerwohnung, die sie mit ihrer Mitbewohnerin Susi teilt. Damit ist ihr grösster Wunsch in Erfüllung gegangen. Lasagne und Salat gab es zum ersten Abendessen, das sie in der eigenen Wohnung in Tavannes kochte. Susi macht Frühstück, Kelly räumt ab, fährt dann mit dem Zug nach Malleray zur Arbeit, liest in der Pause den Hockeybericht im «Journal du Jura», kommt um halb fünf zurück. Montags geht es gleich weiter nach Biel zum Jazztanz, in der Wintersaison ein- bis zweimal wöchentlich an den Hockeymatch, natürlich im Clubleibchen. Sie hat eine Stehplatz-Saisonkarte. Jedes zweite Wochenende fährt sie nach Hause zu ihrer Familie, macht lange Spaziergänge mit dem Hund oder geht aus mit ihrem Freund.

Nichts Besonderes, ein Durchschnittsleben. Doch selbstverständlich ist es nicht: Als Kelly vor 24 Jahren mit einem Downsyndrom geboren wurde, war zuerst mal hauptsächlich die Rede von Problemen und Defiziten, von all dem, was dieses Kind nie lernen und nie sein würde. Nach und nach fanden sich neben den schwer verdaulichen Prognosen der Fachleute andere Informationen, aussergewöhnliche Lebensgeschichten von Menschen mit Downsyndrom: das Tagebuch des Briten Nigel Hunt, der Lesen und Schreiben gelernt hatte, oder die Geschichte der Kanadierin Jane C., die als Textilkünstlerin so viel verdiente, dass ihre Eltern ihre Berufstätigkeit aufgaben, um die erfolgreiche Tochter zu managen. Kellys Eltern und Angehörige richteten sich in dieser neuen Welt ein: entschlossen, das Beste daraus zu machen, pragmatisch genug, um ein möglichst normales Leben zu führen, auf Schwierigkeiten gefasst, aber mit Nigels Geschichten und Janes Bildern im Hinterkopf.

Das Lernen

«Hände weg von meinen Haselnuss-Stängeliglaces. Sie sind für mich, für Freitagabend. Bitte. Kelly.» Der Zettel am Kühlschrank ist schön geschrieben und unmissverständlich. Was braucht es, bis jemand sich so ausdrücken kann? Die Wörter kennt und ihre Bedeutung? Eine klare Vorstellung hat von Zeit und Wochentagen? Von sich und den anderen? Von Besitzansprüchen, Zweifeln und Vertrauen?

Von klein auf lernte Kelly gern, war fleissig und ehrgeizig, wollte sich die Schuhe unbedingt selber binden und den Reissverschluss einfädeln, auch wenn es dauerte. Sie begann auf Bäume zu klettern, Dreirad, Trottinett und Velo zu fahren. Sie lernte Klavier spielen, «Der gute König Dagobert» oder «Oh Tannenbaum», und sang dazu. Das machte ihr Spass und war gut für die Modulation ihrer Stimme. Sie lernte schwimmen und Ski fahren. Heute kurvt sie steile Hänge runter, klemmt sich für die Schussfahrt die Stöcke unter die Arme und juchzt.

Dass das einmal möglich sein wird, war nicht zu erwarten. Sicher waren wir grundsätzlich zuversichtlich, aber es schlichen sich doch Zweifel ein, etwa als sie einfach keine Anstalten machte, endlich mit dem Sprechen zu beginnen. Doch eines Sommertags, sie ritt gerade auf den Schultern ihres Vaters, legte sie plötzlich los: begann zu schnattern wie die Enten im See, zu plappern, nonstop, strahlend, ganze Satzmelodien sprach sie, auch wenn vorerst kein einziges Wort davon verständlich war.

Sprache, Feinmotorik, Muskelbildung, Konzentration: Ein beträchtlicher Teil von Kellys Alltag bestand aus Training und Stimulation. Die Heilpädagogin brachte didaktisch sinnvolles Spielzeug vorbei, lehrte die Eltern, mit Kelly spielend zu arbeiten und arbeitend zu spielen und sich über ganz kleine Fortschritte zu freuen. Für ihre Mutter gut und gern ein Halbtagsjob.

Die Schule

Die Kindergärtnerinnen hatten Freude an Kelly. Sie schlugen vor, sie einzuschulen in die Klasse D von Frau Wälchli und Frau Hirschi, wo der Stoff des ersten auf zwei Jahre verteilt wird. Die Kinder lieben die beiden Lehrerinnen. Sie können Wunder vollbringen, haben Nerven wie Stahlseile. Sie haben in ihrem Lehrerinnenleben unzähligen verstörten, vernachlässigten, unverstandenen, überforderten, frustrierten, wilden und störrischen Kindern wieder Boden unter den Füssen gegeben und ihnen eine Richtung gezeigt, in der es vorangehen könnte statt immer nur gegen die Wand.

Zu ihrem zwanzigsten Geburtstag hat Kelly die beiden zusammen mit ihren anderen LehrerInnen - der Logopädin mit der Echomaschine und der revolutionären Sprachdidaktik, der Stützlehrerin für Rechnen und Rechtschreibung, dem Werkunterrichtslehrer, bei dem sie einen Hammer geschmiedet hatte - zum Kuchenessen eingeladen, in einer zufriedenen Stimmung von «Das haben wir alle gemeinsam geschafft».

Einige Kinder mit Downsyndrom werden in der Schweiz eingeschult, doch die Mehrzahl besucht eine heilpädagogische Schule für geistig Behinderte. «Kognitiv beeinträchtigt», sollte man neuerdings sagen, aber Kelly würde das wohl nicht verstehen, und schliesslich ist dieser Text auch für sie geschrieben. Sie kennt dafür Bezeichnungen und Schlötterlig wie Triso, Möngi, Idiotin, Kretin und so. Natürlich nur von Leuten, die zu beschränkt sind, um zu begreifen, wie begabt sie ist und dass ihre Leistungen vergleichbar sind mit denen von jungen Tennisstars und Schlittschuhprofis.

Das ist kein bisschen übertrieben, misst man sie an ihren Voraussetzungen. Kinder mit Downsyndrom haben zwar alles, was ein Mensch zum Leben braucht, aber sie haben ein Chromosom zu viel, da bei ihnen das 21. dreifach vorhanden ist. Während sonst in jeder Körperzelle des Menschen 23 Chromosomenpaare, also 46 Chromosomen, vorkommen, ist die so genannte Trisomie 21 eine zufällige genetische Konstellation mit 47 Chromosomen. Diese Irregularität hat eine ganze Reihe von Auswirkungen. Und obschon Menschen mit Downsyndrom untereinander recht verschieden sind, gleichen sie sich doch sehr in Verhalten und Aussehen. Am augenfälligsten: Sie sind viel kleiner als der mitteleuropäische Durchschnitt, ihre Näschen stupsiger, ihre Muskeln und ihr Intellekt schwächer. Als Kelly klein war, haben wir sie über den Klee gelobt und doch das gesagt, was offenkundig war: «Du bist langsamer als die anderen, deshalb brauchst du viel länger und musst dich mehr anstrengen, bis du etwas kannst. So ist das.»

Je mehr sie sich entwickelte, desto bewusster wurde ihr, wo sie nicht mithalten kann: Sie weigerte sich, zu Hause bei Gesellschaftsspielen mitzumachen, zog sich von vielem zurück. Während sie im Kindergarten und in den ersten Schuljahren den Stoff recht gut bewältigte und auch wirklich dazugehörte, wie die anderen Kinder Teil eines heterogenen Ganzen war, wurde aus der Integration allmählich ein Nebenher, eine Desintegration.

Die Aussenseiterin

Es kamen schwierige Zeiten. Zum Beispiel in der Kleinklasse für die Oberstufe. Wenn man in der Zehn-Uhr-Pause vorbeikam, konnte man sie sehen, an den Zaun gelehnt ass sie ihr Znüni, immer mutterseelenallein auf diesem grossen Hof, wo es von kleinen und grossen Kindern nur so wimmelte. Und als sie dann eines Tages beachtet wurde, von ein paar Oberstufenlümmeln, plagten und foppten die sie, gingen ihr hinterher und liessen Schimpfworte auf sie runterprasseln. Na ja, die LehrerInnen hatten halt auch Pause. Und ihre Peiniger, die sich als Opfer die Schwächste ausgesucht hatten, kamen aus einem Bürgerkriegsland und hatten vielleicht auch schon viel einstecken müssen. Aber das machte es für Kelly nicht leichter.

Eigentlich beklagte sie sich nie. Dass wir von dieser Plagerei überhaupt erfuhren, war eher Zufall, weil wir eines Abends die Geschichte von Corky erzählten, dem Jungen mit Downsyndrom aus den USA, der später ein TV-Serienstar wurde. Auch ihn hatte man geplagt in der Schule, einer hatte ihm eine Hand voll Piniennadeln in den Mund gestopft, einige Nadeln steckten darauf in seiner Lunge fest und mussten herausoperiert werden.

Als Kelly das hörte, erzählte sie von sich. Wir tauchten darauf in der Pause mit der Filmausrüstung auf, sagten allen, dass wir einen Film über Kelly drehten, sie zeigte uns diskret die Jungs, und wir interviewten diese vor der Kamera. Danach haben sie sie in Ruhe gelassen.

Natürlich heisst das nicht, dass die Integration gescheitert ist. Es fehlte nur zunehmend an den nötigen Voraussetzungen zu ihrem Gelingen: an Kraft und Engagement von Lehrer-, an Mitteln und Unterstützung von Behördenseite.

Der Entscheid

Wir baden am See. Kellys Mutter, Kelly mit ihrer Schulkollegin Nicole und Kellys Schwester Carly. Die kleine Carly fragt: Mami, warum geht Nicole in dieselbe Klasse wie Kelly? Ist sie auch behindert? Damit war Kellys Behinderung erstmals offen angesprochen. Kellys «Aber warum? Warum ich? Sagt mir, warum?» klang lange nach. Ein paar Jahre später konnte es dann schon mal vorkommen, dass sie, wenn sie rasch eine Ausrede brauchte, entschuldigend sagte: Aber da kann ich doch nichts dafür, das ist wegen meines Handicaps!

Schneller als wir alle realisierte Kelly, dass sie zur Aussenseiterin wurde und keine Chance hatte, von den schwierigen Jugendlichen akzeptiert zu werden. Bis sie zwanzig war, war sie immer die einzige Schülerin mit Downsyndrom. Der Unterschied zu den anderen wurde deutlicher; sie konnte sich anstrengen, wie sie wollte, ihre Leistungen mochten noch so bewundernswert sein, sie blieb immer das Schlusslicht. Mit einer Ausnahme: Zwischen Schule und Ausbildung besuchte sie in der heilpädagogischen Tagesschule das Berufsbildungsjahr. Dort gefiel es ihr gut, sie kam locker mit und konnte endlich mal den Schwächeren helfen. Aber zum Schrecken ihrer Familie hörte sie beinahe auf zu sprechen. Es gab dort nur wenige Romands, Deutsch verstand sie kaum, also sass sie meist träumend herum. Diese Erfahrung zeigte, wie wichtig Anregung und Milieu ist, und führte zum Entscheid, sie ins Berufsbildungsinternat nach Grandson zu schicken. Dort werden über hundert 18- bis 22-jährige Jugendliche in der Gärtnerei, Küche, Wäscherei, Hauswirtschaft, Cartonnage oder Schreinerei ausgebildet und angelernt.

Im zweiten Ausbildungsjahr machte sie einen Stage in einer Wäscherei, wo ausschliesslich geistig Behinderte arbeiteten. Als sie nach Hause kam, stand ihr Entschluss fest: Dorthin will ich gehen. Ich will mit Leuten sein, die so sind wie ich.

Die Solidarität

An einem kalten Winterabend sitzen wir zwei als einzige Gäste im Restaurant Lariau unten im Dorf, warten auf das Essen und versuchen uns zu erinnern, wie Georges Brassens’ Lied vom Auvergnat geht. Wir haben es beide in der Schule gelernt. Kelly singt es vor, ziemlich falsch, die schwierige Melodie führt ein Eigenleben. Doch den Text weiss sie noch genau, schreibt ihn auf das Tischset. «Elle est à toi, cette chanson ...»**. Zu Hause erwarten uns die Samstagabendserien auf M6, doch erst müssen wir uns den vereisten Rebenweg hochkämpfen, rutschend, fluchend, lachend, mit diesem Lied über die Solidarität, dem Dank des bedürftigen Fremden und Aussenseiters an den hilfsbereiten Menschen aus der Auvergne. Der Abend hat sich eingeprägt - nie waren wir uns so ähnlich und nahe.

Warum kennt sie ausgerechnet diesen schwierigen Text auswendig? Was geht in ihr vor? Welche Vorstellung hat sie von sich selbst? Sie scheint nicht gefühlvoller zu sein als andere, Horrorfilme schaut sie mit ungerührter Miene, aber manchmal ging sie auch spontan an Grossmutters Krankenbett und las ihr aus «Harry Potter» vor. Aggressivität kann sie nicht leiden, gab auch nie zurück, wenn eine ihrer Schwestern mit ihr streiten wollte. Unvergesslich die erste Schneeballschlacht, denn sie liess uns alle in völliger Ratlosigkeit zurück: Kelly weigerte sich strikt, jemandem Schnee anzuwerfen, wir weigerten uns zu begreifen, dass jemand das nicht lustig findet.

Wir gingen auf die Suche nach Jugendbüchern und Filmen, in denen Behinderung und Solidarität auf gescheite Art thematisiert wird. Helen Keller, diese wahre PionierInnengeschichte eines taubblinden Mädchens, das im 19. Jahrhundert Lesen und Schreiben lernte, war lange eine Favoritin.

An ihrem 21. Geburtstag organisierte Kelly eine Party im Wohnheim Clair Ruisseau, einer von vielen Institutionen der Stiftung La Pimpinière in Tavannes, wo sie nach ihrer Ausbildung einzog. Kelly lockte den schwer kranken Lucien in den Garten herunter und tanzte mit ihm: Sachte und strahlend wiegte sie mit ihren 153 cm Körpergrösse den zwei Meter langen Mitbewohner zum Rap von Eminem.

Die Arbeit

Vom Bahnhof Malleray bis zur Cafeteria L’Aubue oberhalb des Dorfs ist es eine gute Viertelstunde zu Fuss. Kelly holt unterwegs das Brot, zieht Punkt 8 Uhr 45 ihre Arbeitsschürze an und bereitet das Znüni für die anderen Angestellten vor, eine Equipe von rund einem Dutzend Leuten: Küchenpersonal, Service- und Hausangestellte, der Abwart, zwei junge Zivildienstleistende, Kelly selbst und vier weitere junge HilfsarbeiterInnen. Sie arbeitet sechs Stunden täglich mit einer Stunde Mittagspause, um 15 Uhr 45 ist Feierabend. Der dreiviertelstündige Arbeitsweg zählt zur Arbeitszeit. Sie bekam erst kürzlich eine Lohnerhöhung, weil ihr Chef zeigen wollte, dass er mit ihr zufrieden ist. Sie verdient nun 501.35 Franken im Monat.

Offiziell ist sie Hilfsabwartin. Die Stelle war ursprünglich für einen Mann ausgeschrieben, das Profil wurde für Kelly angepasst. Genau genommen ist sie mehrheitlich Putzfrau. Aber sie putzt, wie eine Hausfrau auch, die Räume und Badezimmer von Leuten, die sie gern hat. Dass ihr das Putzen selbst rasend Freude bereitet, kann man wohl nicht behaupten, aber sie ist sehr stolz darauf, dass sie ihre Arbeit gut macht.

Kürzlich bekamen Kelly und ihre KollegInnen eine Weiterbildung im Umgang mit Geld. Zählen könne sie gut, erzählt sie, aber das richtige Herausgeben sei sehr schwierig. Seit sie selbst kocht, erhält sie Haushaltgeld und kauft die Lebensmittel ein. Eine Betreuerin schaut ab und zu vorbei, bespricht den Wochenablauf, organisiert Ausflüge. Kellys Mutter ist ihr Vormund und regelt mit ihr die Finanzen. Ihr Budget: Neben dem Lohn hat sie eine IV-Rente von 4100 Franken. An die Stiftung, die die Wohnung gemietet hat, gehen 3400 Franken für Essen, Miete und Betreuung, 200 Franken an die Krankenkasse. Dazu kommen Rechnungen für Zahnarzt, Brille, Telefon, Zugabo, Ausgaben für Kleider und Freizeit und 1500 Franken Steuern im Jahr.

Die Autonomie

Sie sei sturer geworden, finden Eltern und Schwestern. Beim Nachfragen zeichnen sich ganz verschiedene Sturheiten ab: Die eine heisst, dass Kelly sich nicht mehr so leicht lenken lässt wie früher. Klingt eigentlich nach neuem Selbstbewusstsein, dass sie jetzt im Zweifelsfall erst mal nein sagt. Was sehr wichtig ist, etwa wenn sie, wie kürzlich geschehen, in der Stadt von einem Typen angemacht wird, der ihr den Hund abkaufen will für achthundert Franken. Sie habe einfach nein gesagt, auch als er insistierte, mit ihr zum Geldautomaten wollte.

Die zweite Art von Sturheit kommt in unklaren Situationen vor oder wenn jemand versucht, sie von dem abzubringen, was sie als richtig und falsch gelernt hat. Sie braucht feste Regeln, eine Struktur, an der sie sich orientieren kann. Eventualitäten oder spontane Programmänderungen überfordern sie schnell. Nur selten ist sie beim Wählen ganz souverän: Vor einem Gestell mit Filmen etwa oder einer Speisekarte. Selbst wenn die auf Italienisch geschrieben ist, findet Kelly darauf ihr Lieblingsgericht mit Nudeln und Sauce.

Essen ist ihre grosse Leidenschaft. Sie führt einen heroischen Dauerkampf mit dem Gewicht. Liest sie aus ihrem Tagebuch vor, klingt es wie bei Bridget Jones: «Über Ostern drei Kilo zugenommen. Ab sofort keine Schokolade mehr!» Der Arzt habe ihr gesagt, sie müsse mehr Sport treiben und weniger essen, sagt sie, auch ihrem Herz zuliebe, das etwas angeschlagen ist. Ansonsten hat Kelly eine sehr robuste Gesundheit, war viel seltener krank als andere Kinder. Möglich, dass da auch die Gene ihrer ländlichen Vorfahren durchschlagen: Farmer in Kanada, starke, zähe Grossmütter und ein Emmentaler Schwingerkönig.

Die dritte Art von Sturheit ist reziprok. Sie kann zu Tränen führen, etwa wenn Kelly einen neuen Badeanzug braucht. Sie packt einen sehr teuren Bikini, probiert ihn an - mindestens drei Nummern zu klein, praktisch kein Stoff dran. Grässlich! Den und keinen anderen, bockt sie! Da hilft nichts, das wird ein Kampf aufs Äusserste in der stickigen Umkleidekabine. Verloren hat, wer zuerst erschöpft ist.

Die Liebe

Ihr erstes Liebesobjekt war der Götti. Kelly war etwa sechzehn und zeigte alle Anzeichen von Verknalltheit: Sie tat blöd, kicherte, errötete, guckte schmachtend. Sie solle sich den aus dem Kopf schlagen, wurde ihr erklärt, der Götti habe schon eine Frau und sei ausserdem viel zu alt für sie. Sie brach zuerst in Verzweiflung aus, entliebte sich aber bald.

Die Eltern wollen es ja nicht wahrhaben, wenn ihre Kinder sich für die Sexualität zu interessieren beginnen. Dabei sah man in jenem Frühsommer ein paar Jahre später, als Thierry immer öfter zu Besuch kam, von weitem, dass sich da was anbahnte: absichtlich-zufällige Berührungen, Gänsehaut, Verlegenheit, die selbstbewusste Art, mit der Kelly nun ihre Kurven zur Schau stellte. Thierry und sie gingen viel aus; er war sehr selbständig, kannte viele Leute. Zwar dominierte er gern, aber immerhin gab er ihr zuliebe den EHC La Chaux-de-Fonds auf und wurde Bielfan. Sie möchten zusammen eine Wohnung und einen kleinen Hund, träumte Kelly damals. Ihre Familie mochte den gut erzogenen, freundlichen Bauernsohn, der in Grandson eine Anlehre als Abwart gemacht hat, gern. Mit Unterbrüchen dauerte die Beziehung zu Thierry über drei Jahre.

Dann wurde Kelly eines Abends am Hockeymatch von ihrer Schwester beim Küssen ertappt. Der nicht schlecht aussehende Typ im gepflegten Countryoutfit war eindeutig viel älter als Kelly und eindeutig weniger wohlerzogen als Thierry. José, der neue Mann in ihrem Leben, ist 48, er wirkt cool und etwas grosspurig.

Im Zug, Kellys Natel klingelt. Sie schaut auf das Display, «ach, bloss José, der will wissen, wann ich zurückkomme», sie drückt die Abweisetaste, «dabei habe ich ihm gesagt, er solle das Festnetz benutzen. Bevor er mich kannte, hatte er nie Geld, viel zu hohe Natelrechnungen. Er sagt, noch nie habe er eine Freundin gehabt, die so gut zu ihm schaut.» Sie bemuttert ihn, versucht ihn zu lenken. Sie realisiert ihren Einfluss sehr genau, geniesst ihn.

Wir treffen Emina, die im Wohnheim arbeitet und die letzten drei Jahre Kellys Betreuerin und Vertraute war, in der «Rotonde» in Biel. Die beiden sind gleich alt, tratschen freundschaftlich über Kellys Freund. Ist José immer noch so aufbrausend? Kann sie sich gegen ihn durchsetzen? Hält er sich an die Abmachungen oder steht er dauernd vor ihrer Haustür? Zeitweise hat er Kelly richtiggehend belagert, sechzigmal am Tag angerufen. Dann haben sie Regeln aufgestellt: Dienstag und Donnerstag gehen sie abends zusammen aus, am Mittwoch wird telefoniert. Emina neckt Kelly, sie gebe zu oft nach, sei zu gutmütig. Kelly verteidigt ihn, recht gelassen und selbstsicher, man merkt, dass dieses Thema nicht zum ersten Mal aufkommt: Ja, er hält sich daran, meistens. Man muss eben langsam reden mit ihm, damit etwas in seinen Kopf reingeht. Der Doktor hat mir erklärt, was mit José los ist, es hatte bei seiner Geburt Probleme gegeben. Und José ist viel ruhiger, seit er mit mir ist.

Dann geht sie weg, tanzen, und danach nach Hause, in ihre eigene Wohnung, ihr eigenes Leben. Ihre Schwester Kim fragt: Wer sagt denn, dass Menschen, bloss weil sie von der Norm abweichen, weniger glücklich sind als andere?

* Kelly ist Nichte und Patenkind der Autorin











Kellys Mutter:

«Dank Kelly habe ich ausserordentliche Leute kennen gelernt, viele von ihnen über die Elternvereinigung insieme im Berner Jura, die wirklich einen Gemeinschaftssinn leben, in der Freizeit eigene Aktivitäten entwickeln und einen starken Zusammenhalt haben. Kelly machte mir nie Probleme. Sorgen schon, etwa als sie begann, auszugehen, und spätnachts den Regionalzug im Jura nahm. Das finden viele gefährlich. Wir mussten nicht kämpfen, es war eigentlich einfach, vor allem auch dank ihrer kompetenten und engagierten LehrerInnen. Gut war auch, dass sie kein Einzelkind war. Ihre jüngeren Schwestern haben uns davor bewahrt, uns zu sehr auf Kelly zu fixieren.

Im Nachhinein bin ich nicht sicher, ob es richtig war, ihr die harten Erfahrungen in der Oberstufe zuzumuten. Wäre sie ohne die heute weniger gut in der Lage, in dieser manchmal bösen Welt zurechtzukommen? - Heute hat sie ihr eigenes Leben, ihre eigenen Freunde. Wir lernen viel von ihr. Bald kann sie uns sogar zeigen, wie man Velos flickt, sie macht gerade einen Kurs.»

Kellys Vater:

«Nach Kellys Geburt haben wir uns gesagt: Wenn also ein Kind auf sechshundert mit einem Downsyndrom geboren wird, dann hat dieses gut gewählt. Wir sind eine Grossfamilie und haben ein gutes Umfeld, wir können das verkraften. Ihre Grosstante und ich hatten eine Mission: Wir gingen immer raus mit Kelly, stellten sie den anderen Kindern und den Nachbarn vor, um den Leuten im Quartier ihre Befangenheit zu nehmen. Kelly hat einen riesigen Bekanntenkreis.

Das Beste war, dass schon sehr früh, als Kelly etwa jährig war, eine junge Heilpädagogin regelmässig zu uns nach Hause kam. Sie war sehr positiv, hat eigentlich fast mehr uns Eltern therapiert. Wir waren nicht mehr so hilflos, sie hat uns quasi ausgebildet und gelobt. Diese Früherziehung war elementar,

vor allem, dass Kelly sehr intensiv stimuliert wurde. Am Anfang haben wir sehr vieles gemacht, Therapien und Ärztebesuche, haben uns informiert. Wichtig war, dass wir mit der Zeit merkten, wann es genug ist. Wir hatten dann eigentlich ein ganz normales Familienleben.»

Kellys jüngere Schwester Kim:

«Als wir klein waren, war mir nicht bewusst, dass Kelly behindert ist. Sie war die ältere und eine Konkurrenz wie meine jüngere Schwester auch. Ich fand auch später, man sehe es nicht, aber die Leute haben es schon gemerkt. Am wohlsten war mir mit Freundinnen, die Kelly kannten und von denen ich wusste, dass sie mit ihr kein Problem hatten.

Kelly war mal im selben Schulhaus, aber ich sah sie kaum. Die Typen in ihrer Klasse fanden wir supercool. Das waren die asozialen, die sich nicht disziplinieren liessen. Es war sicher nicht leicht für sie, aber dort hat sie wenigstens gelernt, sich zu verteidigen. Richtig stolz auf sie war ich jeweils in den Ferien. Wenn wir abends ausgingen, war sie der Star. Sie zieht sich gut an, ist immer auf der Bühne, tanzt supergut.»

Kellys jüngste Schwester Carly:

«Kelly und ich hatten zusammen ein Zimmer. Ich konnte sie zu allem überreden. Wenn ich zum Beispiel Kim ärgern wollte, schickte ich Kelly vor. Manchmal habe ich sie ausgenützt, konnte sie dazu bringen, das Sonntagsbrot zu holen oder den Meersäulikäfig zu putzen, obwohl ich an der Reihe gewesen wäre. Das drehte ich so, dass Kelly glaubte, ich täte ihr einen Gefallen. Ich hatte nie das Gefühl, ich müsse für sie verantwortlich sein. Sie ist einfach meine Schwester, wie Kim auch.

Mit Thierry, ihrem ersten Freund, war es einfacher als mit José. Ich hatte den Horror, als meine Freundin am Hockeymatch plötzlich sagte, schau, dort versucht jemand Kelly zu küssen, und es ist nicht Thierry. Sie kann zwar nicht wirklich etwas vor uns verstecken, aber dass sie mit José zusammen ist, wollte sie geheim halten. Wir waren alle dagegen, aber sie hat sich durchgesetzt.»

Kellys Chef:

«Kelly ist so etwas wie meine Agenda. Sie hat ein sehr gutes Gedächtnis, vergisst nie einen Termin. Wenn das Programm geändert wurde, erinnert sie mich daran, etwa wenn ich am nächsten Tag beim Bäcker vorbeimuss, weil sie beim Zahnarzt ist. Sie ist sehr genau und pünktlich. Ich kann ihr vertrauen, brauche sie nicht zu kontrollieren. Am Morgen hat sie ihre fixen Aufgaben, nachmittags hilft sie mir bei allem, was gerade anfällt. Da sind wir oft draussen, wischen die Blätter von den Wegen, oder sie putzt unseren Transportbus. Sie macht auch Stellvertretungen in den Wohneinheiten, wenn eine Hausangestellte krank ist. Das macht sie sehr gut, sie kennt auch alle Bewohner.

Manchmal beobachte ich sie bei der Arbeit, um zu sehen, ob sie klarkommt, aber ihrem Gesichtsausdruck kann ich nichts entnehmen. Sie wirkt stets gleich, sehr kontrolliert, fast schon reserviert. Natürlich, wenn wir scherzen, in der Pause, dann ist sie ganz anders, dann lacht sie gern.»

Kellys Betreuerin Emina:

«Kelly war die Erste, für die ich Bezugsperson war, wir sind gleich alt und kamen zur gleichen Zeit ins Wohnheim Clair Ruisseau. Sie hat mir viel Freude gemacht. Kelly ist initiativ und kontaktfreudig, man merkt, dass sie aus einer Familie kommt, die gerne feiert und wo immer etwas los ist. Dass sie hier wohnte, hat den anderen viele Türen geöffnet. Da es für sie selbstverständlich war, allein auszugehen - etwas, was vorher undenkbar war -, wurde mit ihr und den Eltern extra ein Vertrag abgeschlossen, der ihr Recht auf Ausgang regelte. Heute gehen auch ein paar von den anderen abends mal ohne Begleitung aus. Und ihre Meerschweinchen waren die ersten Haustiere bei uns.

Kelly braucht lange, bis sie sich jemandem anvertraut. Eigentlich hat sie erst in letzter Zeit begonnen, wirklich von sich zu erzählen. Als ich erfuhr, dass Kellys Herz erweitert ist, fand ich das im doppelten Sinn zutreffend: Sie hat ein grosses Herz, nicht nur physisch, sie ist sehr grosszügig und hilfsbereit.»