Care-Arbeit: Wen kümmerts?
Gegen 600 000 Menschen in der Schweiz betreuen oder pflegen unterstützungsbedürftige Angehörige, schätzt das Bundesamt für Gesundheit. Was das im Alltag bedeutet – und warum es so schwierig ist, sich in der Rolle zurechtzufinden.
Ein Freund meinte einmal zu mir, dass kein Mensch dazu verpflichtet sei, die eigenen Eltern zu pflegen. «Eine sehr männliche Aussage», befand eine Freundin dazu. «Eine sehr therapeutische Aussage», meinte eine andere, die ihn besser kennt. Er habe mir damit meine Handlungsoptionen aufzeigen wollen in einer Situation, die mich manchmal zum Verzweifeln bringt.
Vor sieben Jahren wurde bei meiner Mutter eine Trigeminusneuralgie diagnostiziert. Eine Nervenkrankheit – nicht lebensbedrohlich, aber unheilbar –, die Schmerzattacken im Gesicht verursacht, auf einer Skala von eins bis zehn eine Zwölf, sagt sie. Ihre Leidensgeschichte brachte unsere Familie, allen voran natürlich meine Mutter selbst, immer wieder an den Rand des Ertragbaren. Wir erdulden viel, zusammen, mit- und manchmal gegeneinander, halten durch, so gut es geht. Und wir lernen viel über das Gesundheitssystem – vor allem über dessen Grenzen: dass die Feuerwehr meine Mutter in der Not zwar mit dem Kran aus dem dritten Stock unseres alten Hauses bergen kann, dass sich für die Organisation ihres Alltags nach der Reha aber niemand zuständig fühlt. Dass sie im Altersheim zwar die Tabletten nicht selbst mitbringen darf, aber niemand fragt, wer sie denn für sie zurechtlegt, sobald sie wieder zu Hause ist.
Der Kommentar meines Freundes ärgerte mich. Ich weiss, dass ich grundsätzlich freiwillig für meine Mutter da bin, wie sie es auch immer für mich war. Er hat mich aber auch darin bestärkt, mich mit dem Rollenbild der pflegenden Angehörigen auseinanderzusetzen, schon mit dreissig Jahren, früher als andere Menschen. Wenn es nicht meine Pflicht ist, meine Eltern zu pflegen – warum tue ich es trotzdem? Ja, wer pflegt denn eigentlich die eigenen Angehörigen? Und warum ist es so schwierig, sich in dieser Rolle zurechtzufinden?
Diagnose und Krankheit
An die Anfangszeit der Krankheit meiner Mutter 2016 erinnere ich mich nur diffus. Wir gingen von entzündeten Zähnen aus, denn sie klagte über stechende Schmerzen in der Mundhöhle, als ob sie zu schnell auf ein Stück Eis gebissen hätte. Nach erfolglosen Untersuchungen beim Zahnarzt las sie nächtelang Blogeinträge im Internet und nervte uns mit Geschichten über diese grauenerregende Krankheit, von der wir alle noch nie gehört hatten. Sie verursache die neben Cluster-Kopfschmerzen stärksten für den Menschen vorstellbaren Schmerzen und führe unter Betroffenen zu Depressionen und erhöhten Suizidraten. Einige Monate später der Schock: Der Neurologe bestätigte die Diagnose.
Die Jahre danach waren gezeichnet von der Krankheit. Auf Phasen der Ruhe, die Hoffnung auf Linderung brachten, folgten neue Phasen mit Schmerzattacken, bis zu hundert am Tag, teilweise über Stunden hinweg. Wie oft sassen wir bestürzt da, strichen meiner Mutter über den Rücken und sprachen ihr gut zu, während sie die Schmerzen aushalten musste, zum Teil während der ganzen Nacht. Die medizinischen Fachpersonen ergriffen stets die gleichen Massnahmen: Medikamente, immer mehr, immer wieder neue. Zu Spitzenzeiten nahm meine Mutter 35 Tabletten am Tag mit entsprechenden Nebenwirkungen, von Müdigkeit und Verwirrung bis hin zu einer Lungenembolie mit Infarkt, die sie beinahe umgebracht hätte. Die Dosierung und die Einnahme regelte sie selbst, sie liess auch nicht zu, dass wir halfen, auch wenn sie immer wieder vergass, welche Tabletten sie schon genommen hatte.
Die Situation in der Schweiz
Laut einer vom Bundesamt für Gesundheit in Auftrag gegebenen Studie betreuten und pflegten im Jahr 2018 schätzungsweise 592 000 Personen in der Schweiz ihnen nahestehende Menschen. Laut einer Studie, die von Stand By You Schweiz (ehemals VASK Schweiz), dem Verein Angehöriger und Vertrauter von Menschen mit psychischen Erkrankungen, in Auftrag gegeben wurde, sind 2,1 Millionen Menschen in der Schweiz Angehörige oder Vertraute von psychisch Erkrankten. Die Schätzungen variieren also beträchtlich je nach Messung und Definition.
Die Unterstützung pflegender und betreuender Angehöriger wird in der Schweiz zum Teil auf nationaler, zum Teil auf kantonaler oder auch auf Gemeindeebene geregelt und dementsprechend unterschiedlich gehandhabt. In einigen Kantonen können pflegende Angehörige von der Spitex und anderen Organisationen wie der Caritas angestellt werden. Die Krankenkasse unterscheidet dabei zwischen Pflege – Hilfe bei der Körperpflege, beim Essen oder beim Gehen beispielsweise –, die bezahlt wird, und unbezahlten Betreuungsaufgaben wie Gesellschaft leisten, zusammen spazieren gehen oder Büroarbeiten erledigen.
Etwa ein Jahr nach der Embolie stürzte meine Mutter schwer, musste erneut ins Spital und in die Reha. Als sie wieder zu Hause war, sorgten wir dafür, dass immer jemand ein Auge auf sie hatte. Meistens war mein Vater da, der wegen der Coronapandemie im Homeoffice arbeitete. Ging er weg, sprang ich ein, manchmal auch meine Schwester. Ich lebe im Haus meiner Eltern, in einer eigenen Wohnung im Erdgeschoss. Sie schauen regelmässig zu meiner Tochter, und wir essen häufig zusammen. Deswegen war klar, dass ich auch meiner Mutter helfen würde, so gut es ging.
Es ging aber nicht wirklich gut. Ich fühlte mich im unteren Stock mehr und mehr wie eine Alarmanlage, versuchte, meiner Familie die Schwere der Situation aufzuzeigen, machte fatalistische Prognosen, überzeichnete auch, während mein Vater die Situation kleinredete und meine Mutter jegliche externe Hilfe ablehnte. Ich war deswegen oft wütend auf sie. Im Nachhinein kann ich verstehen, warum sie sich der Realität verweigerte: Es muss furchtbar sein, die eigene Selbstständigkeit wegbrechen zu sehen.
Die Situation zu Hause spitzte sich immer mehr zu. An den Moment der Eskalation erinnere ich mich genau: Es ist Wochenende, mein Vater nicht da. Meine Schwester hat bei meiner Mutter übernachtet, Sonntag übernehme ich. Ich versuche, ihre Medikamenteneinnahme zumindest teilweise zu überwachen: «Du darfst die Tabletten nur nehmen, wenn ich dabei bin», sage ich, und sie nickt. Nur zwei Stunden später komme ich wieder vorbei. Ihre Freundin ist zu Besuch und meint, meine Mutter habe gerade die nächste Dosis genommen – fünf Stunden zu früh. Der Telmed-Dienst empfiehlt mir zu warten; solange nichts Auffälliges passiere, müsse meine Mutter nicht in den Notfall. Ich warte also, nachdem wir mit Ach und Krach die steile Treppe zum Schlafzimmer hochgekrochen sind, damit sie ihren Rausch ausschlafen kann, und versuche, nicht in Panik zu geraten. Am Montag früh rufe ich den Hausarzt an: «Meine Mutter kann nicht mehr zu Hause bleiben.» Daraufhin wird sie in die psychiatrische Klinik eingewiesen, um ihren Medikamentenkonsum schnellstmöglich zu reduzieren.
Danach begann ich endlich, mich mit meiner Rolle auseinanderzusetzen, holte mir professionelle Hilfe und schrieb unter «Care Taking Responsabilities» die Pflege meiner Mutter in meinen Lebenslauf. Sollen es ruhig alle wissen.
Iris und Franziska
Meine Recherche über andere Betroffene führt mich zu Caritas Care, einem Programm des Hilfswerks, das pflegende Angehörige anstellt und begleitet. An einem regnerischen Mittwoch im April fahre ich also zu Iris Nydegger, die seit Ende Januar 2023 beim Programm teilnimmt. «Meine Mutter war bis zum Hirnschlag trotz ihrer achtzig Jahre fit wie ein Turnschuh und lebte allein in Dietikon. Ich lebte bereits hier», erzählt sie mir in ihrer Wohnung direkt am Bahnhof Luzern. Der Rollator steht in der Ecke, die Tabletten liegen bereit auf dem Tisch, die Mutter schaut in ihrem Zimmer fern. «2018 dann der Hirnschlag. Beim Frontallappen gab es die grössten Schäden, dort, wo die Persönlichkeit sitzt. Meine Mutter hat sich verändert. Sie hat jetzt plötzlich Humor. Den hatte sie vorher nicht.»
Was sich aber am meisten verändert habe, seien die Zuständigkeiten in ihrer Beziehung: «Vorher war mein Mami immer für mich da. Nach dem Hirnschlag musste ich das Leben für uns beide managen. Mich zerriss es zwischen der Pflege meiner Mutter in Dietikon, meiner Arbeit in Zug und meinem Leben in Luzern», erzählt die sechzigjährige Lehrerin und ehemalige PH-Dozentin. Deswegen holte sie ihre Mutter vor zwei Jahren zu sich und kümmert sich nun Vollzeit zu Hause um sie.
Einige Wochen zuvor bin ich vom Verein Stand By You Schweiz in Bern, vormals Vereinigung Angehöriger psychisch Kranker (VASK), zu einer Gesprächsgruppe eingeladen. Hier kommen die Angehörigen meistens den Verwandtschaftsbeziehungen entsprechend zusammen, Kinder, Partner:innen oder, wie an diesem Abend, die Eltern psychisch Kranker. Dort lerne ich Franziska Neff kennen, die eigentlich anders heisst. «Ich habe viel Energie reingebuttert. Als Mutter das Beste fürs Kind zu wollen, das ist ja normal, auch über die eigenen Grenzen hinaus», erzählt mir die 57-Jährige am Telefon.
Dass ihr Sohn mit grossen Herausforderungen konfrontiert ist, wurde schon im Kleinkindalter klar: «Eine Betreuerin in der Kita sprach mich an, weil sich mein Sohn sehr auffällig verhalten habe: Könnte es ADHS sein? Ich ging weinend nach Hause, widmete mich dann aber voller Zuversicht und Elan dem Thema. Ich mobilisierte alle Ressourcen. Ich arbeitete in diesem Gebiet und kannte die Anlaufstellen. Heilpädagogik, Früherziehung, Medikation, Homöopathie, das ganze Programm. Der Kindergarten lief gut, aber in der Schule wurde es ganz schnell schwierig. Natürlich, die Hyperaktiven fallen auf.»
Recht auf Unterstützung
Eltern sind verpflichtet, sich um ihre minderjährigen Kinder zu kümmern, das steht auch so im Gesetz. Anders bei erwachsenen Menschen, die wegen Alter oder Krankheit Unterstützung benötigen: Nicht die Blutsverwandten, sondern der Sozialstaat kümmert sich um deren finanzielle Absicherung und Pflege. Es ist ein Versprechen unserer Moderne: Du musst dich nicht mehr um deine Eltern kümmern, und du musst auch nicht mehr unbedingt Kinder zeugen, damit sich später jemand um dich kümmert. Alle haben ein Recht auf Unterstützung bei Krankheit und Alter.
Dieses Versprechen relativiert sich in der Realität, denn institutionelle Pflege ist eine Holschuld, und sowieso fehlen die Kapazitäten: Gesundheitseinrichtungen sind unterfinanziert, ihr Personal chronisch überlastet, Zuständigkeiten oft unklar, und auch finanzielle Unterstützung muss bei Sozialhilfe oder Invalidenversicherung (IV) kompliziert beantragt werden. Übrig bleibt dann die Diskrepanz zwischen der Aussenwahrnehmung, dass die Pflege der Angehörigen keine Pflicht ist, und der Erfahrung, dass nirgendwo einfach von selbst Hilfe auftaucht, wenn die Mutter krank oder das Kind psychisch instabil ist. Lieb gemeinte Kommentare – «Du musst das nicht tun!» – erscheinen dann wie Hohn.
Während die Grundschulzeit trotz aller Herausforderungen recht gut verlief, tat sich Neffs Sohn mit dem Einstieg ins Erwachsenenleben ausserordentlich schwer: «Er kam in diese Superpubertät als ADHSler», erzählt sie, inklusive Drogenkonsum und Ausbildungsabbrüchen. Neff übernahm seine administrativen Angelegenheiten, auch nach der Volljährigkeit, suchte Ausbildungsplätze für ihn oder vereinbarte Gespräche bei Beratungsstellen. Bald hatten sie denn auch alle Institutionen im Raum Bern abgeklappert: «Im Nachhinein überlege ich mir manchmal, ob es uns geholfen hätte, wäre mein Sohn in jungen Jahren mal richtig straffällig geworden. Dann hätte sich nämlich das Jugendgericht mit seinen geordneten Strukturen eingeschaltet. Dadurch, dass nichts Grösseres passierte, stemmten wir alles allein», sagt sie. Es könne eben auch ein Stolperstein sein, wenn man als Angehörige Ressourcen habe: «Dann denken die Zuständigen in den Institutionen: Die sind so fit, die machen das schon. Heute habe ich das Gefühl, dass vielleicht auch mal eine Fachperson sagen sollte: ‹Sie müssen das nicht alleine können, auch wenn Sie resilient wirken.›»
Neffs Sohn wohnt denn auch mit 23 Jahren noch zu Hause: «Natürlich gab es auch schon Stimmen aus dem Umfeld: ‹Er ist doch jetzt volljährig, sollte er nicht gehen?›», erzählt sie. «Man bekommt so viele Ratschläge als betreuende Angehörige, und manchmal fühlen sie sich eher an wie Schläge. Da helfen mir die anderen Eltern bei der VASK, weil sie mich darin bestärken, das Umfeld auch mal aussen vor zu lassen. Ich spüre selbst am besten, was in der Situation das Richtige ist.»
Auch ich hatte den Eindruck, dass viele Menschen in den Spitälern, Rehakliniken und Altersheimen, in denen meine Mutter behandelt wurde, sich grosse Mühe geben, damit es ihren Patient:innen gut geht. Schwierig wird es, sobald die Person als gesund genug befunden und nach Hause geschickt wird. Kaum wer fragt, wie sie sich dort zurechtfinden soll, ob die Infrastruktur auch für eingeschränkt mobile Personen stimmt. Auch nicht, wer Tagesstrukturen schaffe oder die Medikamente kontrolliere. Mit diesen Aufgaben bleiben die Angehörigen allein zurück. «Ich war sogar bei der Kesb zur Beratung», erzählt mein Vater. «Die gelten in den Medien doch immer als aufdringlich. Ich hätte gewünscht, dass sie sich aufdrängen, sich der Situation annehmen würden, aber das haben sie nicht getan. Die waren froh, mit uns keine Arbeit zu haben.»
Keine Klarheit über die eigene Rolle
Es braucht also Menschen, die in der Not da sind, um die Lücken im Gesundheitssystem zu schliessen – auch wenn es so nicht sein sollte. Das sind trotz aller Unabhängigkeit meist die Blutsverwandten – Eltern, Kinder, Geschwister – und die Partner:innen. Und vor allem Frauen, die in der Schweiz rund sechzig Prozent der unbezahlte Care-Arbeit leisten. Sie helfen, oft auch über die eigenen Belastungsgrenzen hinaus, übernehmen Verantwortung, pflegen und betreuen. Ohne Weisung oder Abmachungen, natürlich ohne Ausbildung oder Bezahlung und allzu oft ohne Klarheit über die eigene Rolle. Dadurch wird ein grosser Teil von Care-Arbeit unsichtbar.
Emblematisch für das fehlende Rollenbewusstsein betreuender und pflegender Angehöriger ist der Reflex, stets zu betonen, dass man natürlich gerne zu den eigenen Liebsten schaue und mit vollem Herzen dabei sei. Es sich nicht anders wünschen würde. Diese Zurückhaltung, Pflege als Arbeit und Pflicht zu definieren. Noch schwieriger wird es bei der Betreuung, das heisst beim Trösten, Organisieren, Strukturgeben, Dasein: Tätigkeiten der Angehörigen, die von der Krankenkasse explizit nicht bezahlt und im Gegensatz zu Körperhygiene oder Tabletten verabreichen nicht als Arbeit anerkannt werden. Deshalb ist Care-Arbeit auch als Politikum so komplex: Als pflegende Angehörige finanzielle Ansprüche an die Allgemeinheit zu stellen, würde bedeuten, die Pflege und die Betreuung als Arbeit zu definieren. Doch wer will sich schon für etwas bezahlen lassen, das man aus Liebe und nicht aus Pflicht tut?
Immerhin machte eine vom BAG in Auftrag gegebene Studie vor drei Jahren das Ausmass der unbezahlten Care-Arbeit sichtbar und brachte damit Bewegung in die politische Diskussion (vgl. «Die Situation in der Schweiz»). Dadurch erlebten Programme wie Caritas Care einen Aufschwung. Bis heute ist es aber nicht möglich, sich für als «Betreuungsaufgaben» definierte Arbeit bezahlen zu lassen.
Bei Iris Nydegger bildete sich das Rollenbewusstsein als pflegende Angehörige erst allmählich aus. «Ich empfand die Intimpflege immer als meine rote Linie, ich konnte mir nicht vorstellen, meiner Mutter beim Toilettengang zu helfen», sagt sie. «Das ist heute nicht mehr so. Ich konnte langsam reinwachsen, sie wurde nicht von einem Tag auf den andern so pflegebedürftig wie jetzt.»
Ich hingegen erlebte die Ausdehnung meiner roten Linien eher als Zäsur. Einer dieser Momente, in denen ich mir auf einen Schlag meiner neuen Rolle bewusst wurde, war Ende 2021. Ich besuchte meine Mutter regelmässig im Altersheim, häufig auch am Mittag. Beim ersten dieser Besuche bringt eine Pflegerin gerade das Essen und sagt zu mir: «Schön, dass Sie da sind, dann können Sie Ihrer Mutter gleich mit dem Essen helfen», und geht wieder. Ich denke mir, dass ich garantiert nicht meine Mutter füttern würde, schaue ihr zu, wie sie erfolglos versucht, schon nur die Gabel in die Hand zu nehmen, und stelle fest, dass sie das allein nicht kann. Und so schneide ich die Schupfnudeln klein und helfe meiner Mutter beim Essen, Biss für Biss.
«Ich arbeite jetzt daran, da zu sein mit dem guten Herz, aber gleichzeitig meinen Sohn seinen eigenen Weg gehen zu lassen», sagt Franziska Neff. Auch hier helfe es, andere Eltern zu kennen, die psychisch instabile Kinder haben. «Sie zeigen mir, dass auch ich nicht so weitermachen kann, bis er vierzig oder fünfzig Jahre alt ist, sondern mich auch mal lösen, zu mir schauen, meinen eigenen Weg gehen muss. Schon für die Kinder da sein, aber nicht mehr jeden Eiertanz mitmachen.»
Verteilt auf vielen Schultern
Sie trage ihre Situation allein, trotz all der Anteilnahme, die ihr viele Menschen im Umfeld entgegenbrächten, sagt Iris Nydegger. «Seit ich bei Caritas Care angestellt bin, fühle ich mich weniger einsam, vor allem durch meine Begleiterin. Da ist jetzt eine Person, die schaut, dass es meiner Mutter und mir gut geht, und auch dafür bezahlt wird. Das ist für mich der wichtigste Teil des Programms.» Natürlich habe sie finanziell schon zurückstecken müssen, seitdem sie sich vollzeitlich um ihre Mutter kümmere, weswegen die Bezahlung auch eine grosse Hilfe sei. «Hingegen raubt es mir viel Energie, dass ich jeden Abend noch einen Pflegerapport für die Krankenkasse schreiben muss. Ich würde mir wünschen, dass wir pflegende Angehörige, die eh schon eine Siebentagewoche haben, zumindest am Wochenende vom Papierkram verschont blieben.»
Es sei nicht so, dass sie es nicht machen möchte, sagt auch Franziska Neff. Er sei ihr Sohn, sie würde die Verbindung zu ihm nie aufgeben. Aber vielleicht wäre es schön, mehr Schultern zu haben, die mittragen.
Auch wir haben die Lasten nach der Rückkehr meiner Mutter nach Hause auf mehr Schultern verteilt. Vor allem stellte meine Mutter eine Freundin der Familie an, die sie nun an vier Nachmittagen die Woche begleitet. Dies war der entscheidende Schritt, um die Situation zu stabilisieren.
Ich möchte weiterhin für meine Mutter da sein, nicht nur aus Pflicht, sondern auch aus Liebe. Und überlege mir oft, wer denn mich pflegen sollte, wenn ich alt oder krank werde. An wen würde ich diesen Anspruch stellen? Mein Vater hingegen sagt, er habe sich das noch nie überlegt. Er komme eh nach seiner Mutter, die noch mit neunzig Jahren selbstständig zu Hause lebt. Er müsse im Alter nicht gepflegt werden.
«Seit der Volljährigkeit arbeitet mein Sohn das erste Mal in einem geregelten Setting. Das stimmt mich zuversichtlich», sagt Franziska Neff. «Er hat auch wieder mit Sport angefangen, seine wichtigste Ressource. Das alles geht in eine gute Richtung. Und ich versuche zu geniessen, was jetzt ist, und gleichzeitig parat zu sein, wenn es ihm wieder schlechter geht.»
Und meine Eltern? Die sind auf Kreuzfahrt. Unglaublich, aber wahr. Es war eine Zitterpartie bis zur letzten Minute: Würde meine Mutter eine so grosse Reise noch schaffen? Zum Glück betreibt mein Vater einen Blog, damit ich zumindest eine Ahnung davon bekomme, wie es ihnen geht. Und ich versuche, die Ruhe zu geniessen, um parat zu sein, wenn es wieder schlechter läuft.