Streit ums Urheberrecht: Schöne neue Weltbibliothek
Der US-amerikanische Google-Konzern will die weltweiten Buchbestände digitalisieren. Deutschsprachige Verleger prozessieren dagegen, vorläufig erfolglos. Ist der Buchhandel bedroht?
«Gehen Sie mal in die Zentralbibliothek. Da sitzen die Besucher und scannen ganze Bücher auf die Festplatten ihrer Laptops.» Winfried Stephan aus der Geschäftsleitung des Diogenes-Verlags in Zürich weiss, dass die Digitalisierung die Buchbranche längst erreicht hat. Das hält er keineswegs für einen Nachteil: Wer früher kopiert habe, der scanne heute eben. Und wer den neuen Suter umsonst lesen wolle, verbringe ohnehin den ganzen Tag lesend in der Buchhandlung. Ob man wegen UmsonstleserInnen und KopiererInnen mehr oder weniger Bücher verkaufe, lasse sich nicht genau messen.
Skeptisch wird Stephan allerdings, wenn man auf das derzeit weltweit grösste Kopierprojekt zu sprechen kommt, das «Google Book Search»-Programm. Der amerikanische Kommunikationsriese Google hat Ende 2004 damit begonnen, die Bestände der grössten amerikanischen Bibliotheken wie der New York Public Library, der Library of Congress oder der Bibliotheken der Universitäten von Harvard, Stanford und Michigan zu digitalisieren. Diese enthalten auch viele Werke der europäischen Literatur. Google Book Search will so die Basis für eine zunächst fünfzehn Millionen Titel umfassende digitale Weltbibliothek schaffen. Jens Redmer, Sprecher von Google Deutschland, sieht damit einen «Traum der Menschheit» in Erfüllung gehen: Überall auf der Welt habe man bald zu jeder Zeit per Stichwortsuche Zugang zum universellen Wissen und könne die gesuchte Literatur recherchieren. Aber diese «eigentlich interessante Geschichte» hat laut Winfried Stephan einen Haken: Nicht wenige aus der europäischen Buchbranche fürchten eine Monopolstellung des US-amerikanischen Unternehmens. Zudem sind urheberrechtliche Fragen ungeklärt.
Umstritten ist zum Beispiel Googles Praxis, die Buchbestände von Bibliotheken zu erfassen und dabei die Fragen nach dem Copyright hintanzustellen. In den Augen vieler VerlegerInnen kommt dieses Vorgehen einem Raub gleich. RechteinhaberInnen müssen sich also bei Google melden, um eine Sperrung ihrer Titel bei der Volltextsuche in der virtuellen Bibliothek zu erwirken, statt dass sich Google rechtfertigen müsste. Google erklärt sein «unbürokratisches» Vorgehen mit der notwendigen Dynamik, ohne die das Vorhaben sich nicht oder nicht rasch genug verwirklichen liesse.
Aus der Sicht des buchproduzierenden Gewerbes ist die Geschichte jedoch wesentlich ambivalenter. Google finanziert sich über Werbung und möchte mit der Volltextbuchsuche - Idealismus hin oder her - vor allem den Publikumsverkehr erhöhen. Die NutzerInnen mögen von einem erweiterten kostenfreien Angebot über Google zunächst profitieren. Doch wie sieht das langfristig aus?
Misstrauisch waren die EuropäerInnen von Anfang an, als die Pläne für die Digitalisierung unter «Google Print» firmierten. Google Print: Viele europäische Verlagshäuser sahen darin die unverhohlene Ankündigung zum kostenfreien Print, dem Ausdruck ganzer Bücher. Noch scheint dies beim Stand der Technik für private Nutzer unrentabel. Tintenpatronen oder gar die Anschaffung eines Geräts für den privaten «print on demand», den professionellen Digitaldruck einzelner Buchexemplare, sind sehr kostspielig. Doch die Erstellung professioneller Raubkopien würde sich stark vereinfachen.
Google reagierte auf die Befürchtungen und änderte den Namen über Nacht in Google Book Search. Vieles sei missverstanden worden, erklärte Redmer, und ging bei den grossen Verlagen Klinken putzen. Google wirbt nun für direkte Kooperationsverträge mit den grösseren deutschsprachigen Verlagen. Einige Verlagshäuser zögerten nicht und liessen sich vom geschäftlichen Nutzen der digitalen Google-Verbreitung überzeugen. Laut Redmer handelt es sich bei Google Book Search um «ein reines Promotionsverfahren für Bücher». Die bei der Volltextsuche erscheinenden Buchausschnitte könnten schliesslich nicht auf die Festplatte privater Computer geladen und auch nicht ausgedruckt werden. Die Bücher seien zudem weder vollständig lesbar noch kopierbar, es sei denn, es handle sich um rechtefreie Werke schon lange verstorbener Persönlichkeiten. Google Book Search würde so vor allem dem Verkauf älterer Ausgaben und der Erforschung vergessener Titel dienen.
«Das kommt harmlos daher, ist aus Sicht der Verleger aber eine heisse Sache», sagt Martin Jann, Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes (SBVV). Schliesslich gehe es hier um die Frage, auf wessen Kosten produziert und verdient werde. Sorgen machen sich vor allem die wissenschaftlichen Fachverlage. Sie fürchten, dass die zielgenaue Suche nach einzelnen Stichworten und Abschnitten in ihren Werken im Internet den Kauf und die Gesamtlektüre der Werke ersetze. Für David Marc Hoffmann, Leiter des Basler Schwabe-Verlags, würde dies die Produktion gefährden. «Niemand liest Harry Potter im Netz», sagt Hoffmann. Aber: «Wir haben viele wissenschaftliche Sammelbände im Programm. Würden wir die im Netz freigeben, würden sich die Leute einfach den betreffenden Aufsatz herunterladen, und wir könnten den Verkauf vergessen.» Und damit auch die Produktion, die ohne Verkaufserlöse nicht finanzierbar wäre.
Hoffmann sitzt als beobachtender Delegierter des SBVV in der Taskforce Volltext online des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Der Börsenverein unterstützt derzeit ein Rechtsverfahren, das die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt (WBG) gegen Google anstrengt. Die WBG will Google untersagen, Bücher aus ihrem Programm für die Volltextsuche «ganz oder teilweise digital zu erfassen». Insbesondere das Einscannen der Bibliotheksbestände ohne vorherige urheberrechtliche Genehmigung steht im Zentrum des Verfahrens, das letzten Mittwoch vor dem Landgericht Hamburg verhandelt wurde.
Das Landgericht befand aber, dass es sich für die Beurteilung des Einscannens von Buchinhalten in den USA nicht zuständig sieht. Darauf zog die WBG ihren Antrag im Verlauf der Verhandlung zurück. WBG und Börsenverein werden nun möglicherweise ein neues Verfahren anstrengen. In den USA sind in der gleichen Sache weitere Verfahren gegen Google hängig. Doch die Debatte dürfte die Branche ungeachtet des juristischen Ausgangs so oder so weiterhin bewegen. «Die Probleme kommen ja nicht von Amazon oder Google», sagt David Marc Hoffmann. Sie resultierten vielmehr aus der allgemeinen technischen Entwicklung und dem nachvollziehbaren Wunsch nach Verfügbarkeit.
Nach Meinung von Jean-Noël Jeanneney sollten die EuropäerInnen Googles Aufspüren der Bedürfnisse der InternetnutzerInnen mit dem Aufbau eigener Institutionen begegnen. Jeanneney ist Direktor der Französischen Nationalbibliothek; im Berliner Qualitätsverlag Klaus Wagenbach ist dieses Frühjahr seine Streitschrift «Googles Herausforderung» auf Deutsch erschienen. Jeanneney plädiert für die Einrichtung einer aus öffentlichen Mitteln zu finanzierenden digitalen europäischen Bibliothek. In einer Vormachtstellung von Konzernen wie Google liege die Gefahr einer kulturellen Dominanz Angloamerikas, ebenso drohe die einseitige Ausrichtung des Wissens- und Bildungssektors auf privatkapitalistische Interessen.
Unbestritten ist in der Branche, dass die Digitalisierung das Geschäft mit älteren Titeln ankurbeln kann. Die kurzfristige Nachfrage nach den immer nur aktuellsten Büchern ist für den gesamten Handel ein grosses Problem. Was nicht heute verkauft wird, fliegt morgen ins Altpapier. Der Internetbuchhändler Amazon spricht von einem deutlich gewachsenen Umsatz bei den so genannten Backlisttiteln, den Büchern der ab-ägelaufenen Saison, seit er ab 2003 vermehrt digitalisierte Leseproben anbot. Doch fraglich ist auch hier: Wer macht das Geschäft? Die Sortimentsbuchhandlungen jedenfalls in der Regel nicht. Und selbst grössere Verlage und deren AutorInnen haben prozentual desto geringer an Umsätzen und Gewinnspannen teil, je grösser ein Verkaufsriese wie Amazon wird, der mit seiner Marktmacht die Einkaufsrabatte diktiert. Dass der technisch-wissenschaftliche Fortschritt allerdings auch den Kleinen helfen kann, hat die erfolgreiche Internetplattform der europäischen Buchhandelsantiquariate (ZVAB) verdeutlicht. Noch nie war es so leicht wie heute, so schnell und kostengünstig über das Internet an ein vergriffenes Buch zu gelangen.
Derzeit arbeitet man beim Börsenverein des deutschen Buchhandels am Aufbau einer eigenen Internetplattform. Der Holtzbrinck-Konzern soll diese für die Verlage gegen eine Gebühr bewirtschaften, und die VerlegerInnen würden dann selber bestimmen, ob ganze Bücher oder Auszüge - frei oder gegen Entgelt - online für die NutzerInnen einsehbar sind. So bliebe das Urheberrecht der Verlage gewahrt, meint Hoffmann vom Schwabe Verlag. Das Wort Verleger komme schliesslich nicht von ungefähr von «Geld vorlegen».
Auch Stephan von Diogenes lässt deutliche Sympathien für das «neutrale Portal» des Börsenvereins erkennen, bei dem die Rechte sowie die kompletten Datensätze der Bücher unter Hoheit der jeweiligen Verlagshäuser blieben. Die Suchmaschine des Börsenvereins soll inklusive einem Einkaufssystem frühestens Ende 2007 und mit etwa 100 000 Titeln an den Start gehen. Logisch aber, dass die dort vorhandenen Daten auch zu googeln sein werden. ◊