GSoA 1989: Die letzte Schlacht um die Seele des Volkes

Nr. 28 –

Die Abstimmung über die Abschaffung der Armee spaltete 1989 die Schweiz. Das wäre heute undenkbar.

«Diese Abstimmung hatte, trotz der grossen Minderheit, das Gute, dass das schweizerische Volk seine Seele wiederfand, die in dem rein materialistischen Geiste des Zeitalters verloren zu gehen drohte, und seine inneren Gegner besser kennen lernte.»

Dieses Zitat stammt nicht aus der Zeit der Armeeabschaffungsinitiative von 1989, sondern aus dem Jahre 1907, als nach äusserst heftigen Debatten die Stimmbürger die neue Militärorganisation annahmen. Der Autor dieser Zeilen, Carl Hilty, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, Nationalrat und Oberauditor der Schweizer Armee, zählte zu den führenden Intellektuellen des Freisinns. Die Opponenten der neuen Militärorganisation - der «innere Gegner» - umfassten immerhin 45 Prozent der an der Abstimmung teilnehmenden Bürger.

Armee, Militär und Rüstung waren in der Schweiz des 20. Jahrhunderts keine Sach-, sondern Weltanschauungsfragen, und die Armee stellte keine der Gesellschaft und der Politik unterstellte Institution dar, sondern war Ausdruck der höchsten Sinngebung des Landes. Dies drückte sich beispielsweise in einem auch anlässlich der Abschaffungsinitiative oft vorgebrachten Schlagwort aus: «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee.» Demzufolge würde die Abschaffung der Armee das Ende der Schweiz bedeuten.

Ein Blick auf die Geschichte der letzten zweihundert Jahre zeigt, dass die Armee zwar nicht der Schweiz gleichzusetzen, ihre gesellschaftspolitische Rolle aber von grösster Bedeutung war. Die Generäle der beiden Weltkriege, Ulrich Wille und Henri Guisan, sind nationale Kultfiguren, und das Offizierskorps bildete bis vor wenigen Jahren die unbestrittene Führungsschicht des Landes. Das Bekenntnis zur militärischen Landesverteidigung schliesslich ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Eintritt ins schweizerische Konkordanzsystem.

Hinter der geradezu religiösen Wertschätzung der Armee stand nicht nur die Idee der Landesverteidigung nach aussen, sondern ebenso sehr jene der Bewahrung der innern, der so genannten «bürgerlichen» Ordnung. In der Tat wurde die Armee ebenso oft im Innern wie gegen aussen, an den Grenzen, eingesetzt. Wichtiger noch waren die erzieherischen Zielsetzungen. General Wille beispielsweise war der Meinung, man solle nicht «den Soldaten durch den Verstand erziehen», sondern «den Verstand durch den Soldaten», und die Armee sei «das höchste Mittel zur Volkserziehung», womit allein «die Menschheit männlich und gesund erhalten werden» könne. Ausgehend von diesem Gedankengut verfestigte sich in der Öffentlichkeit die Vorstellung, die Armee sei eine «Schule der Nation».

Schweiz ohne Waffen

Trotz dieser gesellschaftspolitischen Dominanz des Militärs hat die Schweiz auch eine lange pazifistische Tradition. 1874 kritisierten die Lehrer der Westschweiz den obligatorischen Militärdienst mit dem Argument: «Man kann sich Pestalozzi nicht in Uniform vorstellen.» Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen sogar drei Nobelpreise für Frieden in die Schweiz - doch wer kennt heute noch die Namen der Preisträger?* Es würde zu weit führen, hier den pazifistischen oder antimilitaristischen Bewegungen im Einzelnen nachzugehen. Trotz gesellschaftlicher Diskriminierungen und Polizeirepressionen traten sie immer wieder öffentlich in Erscheinung und provozierten oft heftige und meist gehässige Auseinandersetzungen. Da die Antimilitaristen nicht selten bei der Linken beheimatet waren, galten sie grundsätzlich als subversive Landesverräter und Totengräber der bürgerlichen Ordnung. Noch 1975 schrieb E. A. Kägi in der NZZ, die Antimilitaristen wollten in Tat und Wahrheit «den Kampfgeist der Armee zersetzen und sie letzten Endes handlungsunfähig machen, um, wenn sie dereinst die Stunde der Machtergreifung für gekommen erachten, nicht mehr mit namhaftem Widerstand der militärischen Ordnungsmacht rechnen zu müssen». Kägi lässt mit seinen Äusserungen erkennen, dass die Auseinandersetzungen um die Armee letztlich einem latenten Bürgerkrieg gleichkamen.

Angefacht durch die 68er-Bewegungen war es in den 1970er-Jahren zu neuen armeekritischen Vorstössen gekommen. Dazu gehörten etwa die 1969 gestartete Volksinitiative für ein Waffenausfuhrverbot, Roman Brodmanns 1972 veröffentlichte Politfiktion «Schweiz ohne Waffen» oder die 1977 und 1984 vom Volk zurückgewiesenen Zivildienstinitiativen. Die Zahl der Dienstverweigerer stieg zwischen 1968 und 1974 von 88 auf 545. Die pazifistischen und armeekritischen Bewegungen organisierten schliesslich 1981 und 1983 grosse nationale Demonstrationen gegen die internationale Aufrüstung in Bern, an denen je rund 40 000 Personen teilnahmen.

In dieser Ambiance fand 1982 in Solothurn die Gründung der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) statt. 1985, nach dem Scheitern der zweiten Zivildienstvorlage, wurde die Volksinitiative «Für eine Schweiz ohne Armee und für eine umfassende Friedenspolitik» lanciert. Es sollten, wie die InitiantInnen schrieben, «dem helvetisch erstarrten ‹Polipott› (...) utopische Horizonte» entgegengesetzt werden. Obwohl weder die GegnerInnen noch die BefürworterInnen ernsthaft mit einem Erfolg der Initiative rechneten, entwickelte sich eine öffentliche Schlacht ohnegleichen. Der Bundesrat versuchte sogar, das 1973 verabschiedete Konzept der Sicherheitspolitik - eine unter dem Stichwort «Gesamtverteidigung» lancierte Militarisierung der Schweiz - nun als Mittel der Friedenspolitik anzupreisen.

Weniger Staat - weniger Armee

Die Initiative wurde bekanntlich am 26. November 1989, siebzehn Tage nach dem Fall der Mauer in Berlin, mit 1 904 476 gegen 1 052 442 Stimmen abgelehnt. Allein schon der Erfolg der Unterschriftensammlung wurde vielerorts als Demütigung empfunden. Das Abstimmungsergebnis selber wirkte, zumindest im ersten Augenblick, als Schock. Nicht wenige glaubten, das Volk habe nun doch seine Seele verloren.

Umfragen zeigten, dass zumindest die jungen Leute die Armee bestenfalls noch als notwendiges Übel, aber nicht mehr als sinngebendes Leitbild verstanden. Das Eidgenössische Militärdepartement hatte zuletzt noch verzweifelt versucht, der armeekritischen Stimmung mit einem patriotisch-folkloristischen Fest entgegenzutreten. So kam es 1989 unter dem Titel «Diamant» zu einer bombastischen nationalen Feier, mit der sich die Schweiz die Peinlichkeit erlaubte, als einziges Land der Welt den Kriegsbeginn, also den Anfang der von Nazideutschland angezettelten Schlächterei, zu feiern.

Wenn auch der Kampf um die Armeeabschaffungsinitiative der GSoA eine emotionsgeladene Stimmung heraufbeschwor, so handelte es sich jedoch kaum um eine der entscheidenden Weichenstellungen der schweizerischen Politik. 1989 begann der Zerfall der Sowjetunion. Die damit grundsätzlich veränderten militärischen und strategischen Rahmenbedingungen entzogen dem helvetischen Militärgeist seine emotionale Rhetorik. Und mit dem Bericht 90 zur Sicherheitspolitik zeigte der Bundesrat an, dass für die Zukunft eine neue Armee gesucht werden müsse.

Die eigentliche, für die Sinngebung entscheidende Umwandlung der Schweiz erfolgte jedoch in einem ganz andern Feld. Es ging um einen politisch-gesellschaftlichen Wandel, der vom Freisinn 1979 mit dem Schlachtruf «Weniger Staat - mehr Freiheit» eingeleitet worden war. Mit den neoliberalen Offensiven, dem Umbau der Altersvorsorge (Stichwort Dreisäulenprinzip) und dem politischen, von der SVP getragenen Rechtsrutsch wurden in der Schweiz mehr und tiefere gesellschaftliche Werte verändert, als dies mit der Armeedebatte der Fall war.

So paradox es tönt, die Armeeabschaffungsinitiative trug sogar dazu bei, den unter dem Zeichen der neoliberalen Erneuerung anvisierten gesellschaftlichen Wandel durchzusetzen. Denn angesichts der neuen wirtschaftlichen Zielvorstellungen - Globalisierung, Rationalisierung und kurzfristige Gewinnoptimierung - erwiesen sich Militärausgaben und Offizierskarrieren als lästige Kosten. Die grossen Unternehmen waren nicht mehr bereit, ihre Kader während Wochen der Armee zur Verfügung zu stellen, und die multinationalen Gesellschaften verloren zusehends das Interesse an einer «nationalen» Gesamtverteidigung. Die globalisierte Wirtschaftselite kümmert sich nicht mehr um die Seele der Nation.

Hans Ulrich Jost ist emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Lausanne.

* 1901 Henri Dunant, Gründer des Roten Kreuzes; 1902 Elie Ducommun und Charles Albert Gobat von der «interparlamentarischen Union für internationale Schiedsgerichte»; 1910 Bureau International Permanent de la Paix; dazu noch 1917 das Internationale Komitee vom Roten Kreuz.


Schweiz feiert Kriegsausbruch

Nach dem sensationell guten Ergebnis der GSoA-Initiative veröffentlichte die WOZ als Hommage eine Karte mit allen Kantonen und Gemeinden, die die Initiative angenommen hatten. Vor allem im Kanton Jura waren es einige.

Vor der Abstimmung hatte sich die Begeisterung der WOZ für die GSoA-Initiative hingegen in Grenzen gehalten. Einerseits weil in den achtziger Jahren längst nicht alle Linken einen pazifistischen Kurs verfolgten. Im revolutionären Kampf - so der Tenor - muss man auch zur Waffe greifen können. Andererseits hielt man im WOZ-Umfeld zu den parlamentarisch agierenden Gruppen Distanz. Die GSoA war ganz klar in diesem Umfeld entstanden. Andreas Gross - heute SP-Nationalrat - war Mitglied der Juso, Josef Lang agitierte für die trotzkistische Sozialistische Arbeiterpartei (SAP).

Die GSoA hatte ihre Initiative langsam und zielstrebig vorbereitet - und für Panik in den Reihen des Establishments gesorgt. Die Generäle im EMD - heute VBS - nahmen die Initiative sehr ernst und starteten eine der absurdesten Kampagnen, die die politische Schweiz je gesehen hat. Mit «Diamant» schufen sie eine grosse Plattform, um die Mobilmachung der Armee im September 1939 zu feiern. Dies wiederum veranlasste die WOZ zur Feststellung, dass die Schweiz das einzige Land sei, das den Kriegsanfang feiere. Diese Lesart ging durch die internationale Presse - und machte aus den «Diamant»-Feiern einen propagandistischen Rohrkrepierer.

Nach 1989 nahm die WOZ dann die GSoA ernst. Sie war - auch wegen personeller Verflechtungen - an der Initiative «Stop F/A-18» beteiligt, die 1993 nur knapp abgelehnt wurde. Andreas Gross und der ehemalige WOZ-Buchhalter Adrian Schmid gaben zwei Jahre später via WOZ auch ihren Austritt aus der GSoA bekannt.

Johannes Wartenweiler