«Sturmflut»: Wechselgesang
Es beginnt im Pianissimo. Zwei Schwestern verabschieden sich voneinander, sie werden ein Wochenende lang ihre Plätze tauschen. Lidy besucht an Stelle von Armanda auf der Insel Duiveland deren Patenkind, während Armanda bei Lidys Mann und Tochter in Amsterdam bleibt. Was als harmloser Rollentausch beginnt, wird zur Entscheidung über Leben und Tod. Denn in dieser Nacht zerstört eine verheerende Sturmflut ganz Duiveland. Lidy bleibt vermisst. Die zurückgebliebene Schwester fügt sich indessen immer mehr in das Leben ihrer Schwester ein und heiratet schliesslich sogar deren Mann Sjoerd.
Margriet de Moor verbindet ihre Geschichte von zwei Schwestern mit der historischen Katastrophe in den Niederlanden, der im Februar 1953 über 1800 Menschen zum Opfer fielen. Mit Lidy taucht die Autorin ein in jene apokalyptische Nacht und beschreibt den Überlebenskampf der Menschen, die den Winden und den Wassermassen schutzlos ausgeliefert waren. Lidy kann sich gemeinsam mit anderen Gestrandeten auf den Dachboden eines Bauernhofes retten, doch am Ende werden alle vom Wasser fortgespült. Margriet de Moor erzählt schonungslos, sie skizziert Schockbilder, die sich mit den medialen Erlebnisberichten der jüngsten Überschwemmungskatastrophen vermischen.
Im Wechsel von Kapiteln und Abschnitten wird Lidys stundenlangem Überlebenskampf das eher ereignislose Leben ihrer Schwester gegenübergestellt. Allerdings widerspiegelt der innere Sturm in der Seele Armandas, die sich für den Tod ihrer Schwester verantwortlich fühlt, das Fortissimo der realen tobenden Naturgewalten. Der grosse Mittelteil des Romans ist fein verwobene Kontrapunktik: Zu Beginn noch zeitgleich angesetzt, driften die beiden Erzählebenen immer mehr auseinander. Eine einzige Nacht wird gegen ein ganzes Leben aufgewogen. Alles mündet in einen Wechselgesang der Schwestern - so ist am Ende nicht mehr so klar, wer da ertrunken ist.
Margriet de Moor: Sturmflut. Hanser Verlag, München 2005. 349 Seiten. Fr. 38.70