Spanien: Freiwillige schrubben, der Staat schweigt
Auch fast drei Wochen nach dem verheerenden Hochwasser in der Region Valencia bleibt die Hilfe des Staates spärlich. Doch die Solidarität der Menschen untereinander ist gross.
Francisco Giner Rando explodiert. Seit dem ersten Tag ist er als Betroffener und Freiwilliger in seinem Quartier unterwegs, «im Kriegsgebiet», wie er sagt – erschöpft vom Helfen, geladen vor Wut: «Wie kann es sein, dass wir bis heute keine staatliche Hilfe erhalten haben?», brüllt er ins Aufnahmegerät. «Unsere Politiker sind Mörder, denn sie wissen, was passiert ist, und sie schweigen bis heute.»
Giner Rando sitzt in seinem weissen Schutzanzug auf einem Plastikstuhl am Strassenrand irgendwo in Catarroja, einer Kleinstadt, die an Valencia grenzt. Seine Gummistiefel sind schlammverklebt, im Hintergrund dröhnt eine Polizeisirene. Gleich um die Ecke haben Dutzende von Freiwilligen eine Menschenkette gebildet, um Kübel voller Schlamm aus einer Tiefgarage zu schleppen. Sie kippen die säuerlich riechende Masse auf die Strasse und schieben sie mit Besen in Richtung Kanalisation.
Es ist Tag elf nach der Flutkatastrophe bei Valencia, und die geschwollenen Augen Giner Randos widerspiegeln, was er seit dem 29. Oktober gesehen hat: die in den Wehen liegende Frau, die ins Spital wollte, wegen des Schlamms aber kaum die Haustür aufbrachte. Oder den Mann aus seiner Nachbarschaft, der alleine lebt, aber wegen Alterssenilität nicht verstand, warum er seit drei Tagen weder Wasser noch Licht hatte. Giner Rando und seine Freundin Alejandra Inés Vásquez Salinas, eine Krankenpflegerin, schabten die Fäkalien von seinen Beinen und Füssen, wuschen Kopf und Körper und zogen ihn frisch an.
Kaum hatten die Nachbar:innen des Betagten mitbekommen, dass Hilfe gekommen war, öffnete sich eine Tür nach der anderen. Es fehlte an Trinkwasser, an Lebensmitteln, an Medikamenten. «Während wir hier sprechen, sterben Menschen in ihren Wohnungen», sagt Giner Rando. «Nur werden sie nicht mehr offiziell mit der Flut in Verbindung gebracht.» Was sich in Spanien derzeit abspiele, sei eines Rechtsstaats unwürdig, ja beschämend.
Immer noch gibt es Vermisste
Ganz Spanien diskutiert über die Katastrophe, die dafür Verantwortlichen und ihre Bewältigung. Vor zehn Tagen empörten sich im Stadtzentrum Valencias 130 000 Menschen und forderten den Rücktritt der Regionalregierung, Einzelne auch von jener in Madrid.
Doch bis heute will niemand klare Kante zeigen: weder die Regionalregierung, die ihre Katastrophenwarnung erst losschickte, als die ersten Menschen bereits ertrunken waren, noch die Beobachtungsstelle regionaler Gewässer, die an diesem Tag ihre Aufmerksamkeit auf den Fluss Magro richtete, die Rambla del Poyo aber ausser Acht liess. Dieser Kanal sollte die südlichen Vororte Valencias bis zu drei Meter unter Wasser setzen. Auch in der Hauptstadt scheint man die Überschwemmung bis jetzt nur halbwegs ernst zu nehmen. Ministerpräsident Pedro Sánchez wäre zwar befugt gewesen, Katastrophenalarm auszulösen und Evakuierungen anzuordnen, stattdessen verliert sich der Sozialist in Schuldzuweisungen an die konservative Regionalregierung.
Von der Flut betroffen sind in der Provinz Valencia 75 Gemeinden mit 845 000 Einwohner:innen, verteilt auf 530 Quadratkilometer. Das ist mehr als die Fläche des Kantons Baselland. 1522 Kilometer Strassen, 99 Kilometer Bahnstrecke sowie Zehntausende von Hektaren Landwirtschaftsfläche. Beschädigt oder ganz zerstört wurden rund 120 000 Autos, 26 Brücken sowie unzählige Werkstätten, Fabriken und Produktionsanlagen. Ein Drittel der Arbeitsplätze der Provinz liegt im Überschwemmungsgebiet. 219 Menschen starben, auch fast 3000 Kühe und zahlreiche Haustiere kamen um. Bei Redaktionsschluss wurden offiziell noch elf Personen vermisst.
In den südlichen Vororten Valencias, die besonders schwer getroffen wurden, messen die Wohnhäuser selten über vier Stockwerke. Hier sind Zehntausende auf staatliche Unterstützungsgelder angewiesen, andere haben keine Papiere und leben von der Hand in den Mund. Viele pendeln täglich nach Valencia zur Arbeit; sie leben hier, weil sie sich die Miete in der aufstrebenden Metropole nicht mehr leisten können.
Das Bett wird zum Boot
Zu ihnen zählen auch Mario Torre Valero und Ana María Jiménez Ballester, deren Vermieterin den Mietzins von 400 auf 800 Euro pro Monat erhöhen wollte. In Erwartung eines Babys entschieden sich die beiden Anfang Jahr, in die Peripherie zu ziehen, in ein kleines Häuschen, wenige Strassen neben der Rambla del Poyo. Der 37-jährige Pöstler hat am Abend der Katastrophe gerade den Hochstuhl seiner sieben Monate alten Tochter zusammengebaut, als seine Schwester im Familienchat schreibt, dass Wasser ins Häuschen der Eltern in Paiporta laufe. Sie ist dort bei ihrem Vater zu Besuch, nur wenige Kilometer kanalaufwärts.
In den Hügeln im Westen der Stadt hat es innert weniger Stunden so viel geregnet wie sonst in einem Jahr. Die Wassermassen preschen Richtung Küste, reissen Brücken, Gleise und Bäume mit sich, brechen Garagentore und Haustüren auf und fluten das Hab und Gut von Torre Valeros Eltern. Das Bett, auf das sich die Schwester mit Tochter und Hund gesetzt hat, wird zum Bötchen und nähert sich erschreckend schnell der Zimmerdecke. Der Vater steht hüfttief im kalten Wasser, kann sich am Ende aber auf ein Möbel retten. Valencias Vororte sind überschwemmt, ohne dass dort ein Tropfen Regen gefallen wäre.
Währenddessen steigen in Catarroja Mario Torre Valero und Ana María Jiménez Ballester mit ihrer Tochter in den Estrich. Danach evakuiert Torre Valero auch die drei Katzen, stellt im Wohnzimmer das Nötigste aufs Sofa und klettert schliesslich mit ein paar Wertsachen in der Hand wieder hinauf zu Frau und Tochter. Vom Estrich aus sieht er, wie die Waschmaschine im Wasser verschwindet, und überlegt sich, wie die Familie notfalls aufs Dach kommt. «Meine Frau beklagt sich sonst, dass ich ein langsamer Typ bin», sagt Torre Valero in seinem inzwischen schlammfreien Häuschen und lacht. «Aber in dieser Nacht lief alles instinktiv, und ich war selber überrascht, wie schnell ich handelte.»
Als es in den Morgenstunden zu regnen beginnt, gerät Torre Valero doch kurz in Panik. Erst als es hell wird und er realisiert, dass das Leben seiner Familie gerettet ist, beginnt er zu weinen.
Die erste Woche übernachtet seine Familie im unverputzten Estrich, zwischen Kartonschachteln und Katzen-WC unter dem nicht isolierten Dach. Frau und Tochter ziehen später zum Schwager nach Valencia, Torre Valero schrubbt weiter. Wie Francisco Giner Rando fühlt er sich von den Behörden alleingelassen, erträgt nur schwer, dass bis zum vierten Tag nach der Überschwemmung weder Polizei noch Militär im Quartier auftauchen. Umso mehr freut er sich ob der Nachbarschaftshilfe und der Freiwilligen. «Oft werden die jungen Menschen heute kritisiert, dass sie nichts anderes als ihr Handy im Kopf hätten, aber ohne ihre Hilfe würden wir hier immer noch im Schlamm sitzen.»
Die Hilfsgüter kommen an
Tatsächlich sind es vor allem junge Menschen, die ins Katastrophengebiet reisen. Die ersten klettern bereits am Morgen danach über die Dächer der angeschwemmten Autos, klopfen an Haustüren und Fenster und suchen nach Überlebenden. Angst und Misstrauen sind zu diesem Zeitpunkt gross, sodass sie zuerst mit Räuber:innen verwechselt werden – auch diese gab und gibt es – und von den Nachbar:innen alles Böse zu hören kriegen.
Die Organisation läuft zunächst mündlich, später werden Chatgruppen eröffnet, schliesslich installieren lokale Programmierer:innen eine interaktive Onlinekarte. Dort können Betroffene Adresse und Bedürfnisse melden, Freiwillige ihre Fähigkeiten und ihre Disponibilität kundtun. Millionen von Menschen haben die Seite in den letzten Wochen aufgerufen. Selbst die Behörden greifen auf das Tool zurück.
In den Baumärkten ganz Spaniens fehlt es bald einmal an Stiefeln, Handschuhen, Schaufeln und Eimern: alles leer gekauft von Hilfsorganisationen, Spender:innen und Freiwilligen aus dem In- und Ausland. In den Quartieren haben die Nachbar:innen spontan Coiffeursalons in Apotheken und leer stehende Lokale in Sammelstellen für Lebensmittel verwandelt.
Joana Alejandra und ihr Mann Jony Alexander bewirtschaften eine Sammelstelle in Catarroja. Die Hilfsgüter kämen oft in der Nacht, wenn die Zugangsstrassen leer seien, erzählen sie. Der Schlamm ist hier bereits weggeräumt, und die Lieferungen aus dem Baskenland, Madrid und Murcia können problemlos ins Ladeninnere gebracht werden. «Viele fürchten, dass ihre Hilfslieferungen bei den Gemeindeverwaltungen untergehen, und bringen sie deshalb zu uns ins Quartier», erklärt Alexander.
Mit Einkaufswagen klappern Freiwillige danach einen Wohnblock nach dem anderen ab und verteilen Lebensmittel, Shampoo, WC-Papier, Waschmittel und Trinkwasser. Zwar ist die Unterstützung inzwischen derart gross, dass einzelne Spenden aus Platzgründen auf der Strasse zwischengelagert und nachts mit einer Plastikplane zugedeckt werden müssen. Doch gerade ältere Menschen, Schwangere, Behinderte oder Familien mit Kindern, für die der Gang über die verschlammten Strassen zur zentralen Sammelstelle der Gemeinde ein Risiko ist, sind dankbar für den Lieferdienst.
Dasselbe gilt für die Gesundheitsversorgung. Freiwillige Krankenpfleger:innen, Ärztinnen und Psychologen bieten ihren Dienst in den Quartieren an, sowohl für Betroffene als auch für Helfende. Immer wieder behandeln sie kleinere Schnittwunden an Beinen, Armen und Köpfen. Zudem warnten Epidemiolog:innen nach einer Woche schon vor möglichen Infektionskrankheiten, die man sich im schlammigen Wasser zuziehen könne, sie empfehlen das Tragen von Gesichtsmasken und Schutzbrillen.
Doch dem Gesundheitspersonal bereitet vor allem der psychische Aspekt Sorgen. Freiwillige sind während ihres Einsatzes auch auf Leichen gestossen und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Hinzu kommen das tägliche Leid der Betroffenen und das Gefühl, damit alleingelassen zu werden. «Es ist normal, dass du Angst, Sorgen, Traurigkeit oder unbändige Wut verspürst», steht auf einem A4-Blatt bei einem Hauseingang. «Das ist eine normale Reaktion auf eine abnormale Situation.» Darunter diverse Telefonnummern von Psycholog:innen und anderen Fachpersonen, etwa zur Suizidprävention.
Soldat:innen helfen auf eigene Faust
Seit der Flutkatastrophe drückt sich an Spaniens Mittelmeerküste Normalität durch Alarmbereitschaft aus. Vergangene Woche, als erneut Starkregen über der Region niederging, blieben sämtliche Schulen geschlossen, diverse Firmen baten ihre Mitarbeiter:innen, zu Hause zu bleiben. In den Vororten Valencias, wo abends sonst die Menschen ihre Stühle auf die Strasse stellen, um die frische Abendbrise bei einem Schwatz mit den Nachbar:innen zu geniessen, stehen heute Berge von kaputten Tischen, Sofas, Teppichen, Regalen, Pfannen, Kinderspielsachen, Fernsehern und Türen. Darüber liegen Schlamm und ein latenter Geruch von Abwassern, Benzin und Verwesung.
Auch in der Strasse von Sole Perales in Catarroja sieht es nach Endzeitstimmung aus. Ihre Eltern haben fast alles verloren. Um die 6000 Euro Soforthilfe der Regionalregierung zu beantragen, ist Perales heute zum Gemeindehaus von Catarroja gekommen. Doch als sie erfährt, dass die Beamt:innen nur von Montag bis Freitag arbeiten und heute, am Samstag, nicht, verliert sie die Fassung: «Hier warten Hunderte von Menschen auf Hilfe, und ihr macht Wochenende!»
Nach ein paar Minuten erklärt die Frau ihren Ärger – muss sich zunächst aber von einer Gemeindemitarbeiterin losreissen, die sie offenbar am Interview hindern will. «Libertad de expresión», Meinungsfreiheit, schnauzt Perales sie an, ehe sie von den unhaltbaren Zuständen in ihrem Quartier berichtet, der fehlenden Hilfe des Staates und von digitalen Formularen, die nicht funktionieren. Am Ende seien es die Freiwilligen gewesen, die die Wohnung ihrer Eltern halbwegs bewohnbar gemacht hätten, sowohl Zivilist:innen als auch Soldat:innen.
Derzeit läuft mit rund 7500 Soldat:innen der grösste Militäreinsatz Spaniens zu Friedenszeiten; viele, die nicht einberufen wurden, sind auf eigene Faust an die Ostküste gereist. Sie haben die Empfehlungen ihrer Vorgesetzten ignoriert, an ihren Wohnorten zu bleiben und sich in Bereitschaft zu halten. Hand in Hand mit den freiwilligen Zivilist:innen versuchen sie, etwas Ordnung ins Chaos zu bringen.
Immerhin haben die lokalen Behörden mittlerweile damit begonnen, Quartiere abzusperren, damit Polizei, Militär, Feuerwehr und Rettungsdienst den Abtransport von Schutt und Schlamm koordinieren können – täglich mehrere Tausend Tonnen. Denn der Schlamm, den die Freiwilligen in die Kanalisation drücken, hat diese teilweise kollabieren lassen. Sole Perales will niemandem einen Vorwurf machen. Höchstens den Behörden. «Keiner hat uns auf eine solche Katastrophe vorbereitet, und niemand weiss, was in einer solchen Situation zu tun ist.»