Cabaret-Tänzerinnen: Trinken bis zum Umfallen
Drei Viertel aller Tänzerinnen in Schweizer Cabarets stammen aus Osteuropa. Bis vor kurzem war Julia eine von ihnen. Ein Rückblick.
Sie wartet auf Perron 4, gross, mit langen blonden Haaren, in T-Shirt und Jeans. Die Beschreibung am Telefon war präzis. Auf der Terrasse des Cafés hinter dem Bahnhof werden die Modalitäten geregelt: keine persönlichen Daten. «Man soll mich nicht erkennen», sagt Julia (Name geändert). «Ich habe mit meiner Vergangenheit abgeschlossen.» Doch vor den Leuten aus dem Cabaret-Business fürchtet sie sich noch immer. «Die mögen keine ‹troublemaker›.» Julia hat sich gegen einen ihrer Chefs gewehrt, mit Erfolg. Damit machte sie sich unbeliebt.
«Immerhin bin ich heute in einer vergleichsweise guten Situation», sagt die ehemalige Tänzerin. «Meine Familie ist nicht auf finanzielle Unterstützung angewiesen, ich habe kein Kind, und in der Zwischenzeit habe ich die Jahresaufenthaltsbewilligung B bekommen.» Andere Frauen, mit denen Julia zusammengearbeitet hat, hatten Kinder, kranke Familienangehörige oder Schulden: «Das macht erpressbar. Wenn die Frauen so unter Druck stehen, trauen sie sich nicht, sich zu wehren, auch wenn ihnen der Cabaret-Besitzer am Monatsende keinen Lohn ausbezahlt oder Abzüge macht, von denen im Vertrag nichts steht. Die Angst vor dem Verlust des Engagements ist stärker.»
Mehrfach hat Julia gehört, dass Tänzerinnen, die wegen Unregelmässigkeiten gegen einen Cabaret-Besitzer vorgehen wollten, massiv eingeschüchtert wurden - bis zur Drohung, man werde sich an Familienangehörigen im Heimatland rächen. Sie selber hat zum Glück nichts dergleichen erlebt.
Julia ist dreissig Jahre alt und kommt aus Russland. Nach der Matura begann sie mit einem Sprachstudium an einer privaten Hochschule. «Das ist teuer. Meine Eltern konnten mir kein Geld geben, und so verdiente ich mir schon in meiner Heimatstadt den Unterhalt mit Strippen. Ich habe während der Schulzeit gern getanzt und war Mitglied einer Modern-Dance-Gruppe.»
Zuerst Japan
Wie viele Tänzerinnen aus osteuropäischen Ländern liess sich Julia nach Asien anwerben. In Japan zum Beispiel herrschten klare Vertragsbedingungen, erklärt sie. Es gebe dort keinen Zwang zum Alkoholkonsum. In den Clubs habe man essen und trinken können, was man wollte, und die Kunden hätten pro Stunde, die sie mit der Tänzerin verbrachten, bezahlt. Überdies hätten Japaner eine wesentlich respektvollere Art als Schweizer im Umgang mit den Tänzerinnen. Julia kehrte nach Hause zurück, legte die ersten Diplomprüfungen ab. Doch bald sah sie sich wiederum in Geldnöten.
«Weil man sich in asiatischen Ländern auf halbjährige Aufenthalte festlegen muss und auch die ganzen Formalitäten rund ums Einreisevisum ziemlich lange dauern, entschloss ich mich, in die Schweiz zu kommen. Das geht schneller. Die Agentur, die ich kontaktierte, regelte alles für mich, ich musste nur Fotos und eine Kopie meines Passes besorgen, dann konnte ich auf der Schweizer Botschaft die Papiere abholen.» Dort habe man ihr einen Prospekt mit Infos und Kontaktadressen in der Schweiz mitgegeben: falls Probleme auftauchten. Julia war schon bald froh um die Anlaufstellen - anders als die meisten anderen Frauen hatte sie das Faltblatt nicht gleich weggeworfen. «Was unsere Rechte und Pflichten in der Schweiz sind, hat uns niemand gesagt. Stell dir vor: Zwei Botschaftsangestellte und hundert Frauen, die ein Visum wollen - da bleibt nicht viel Zeit für ein Gespräch!»
Dann die Schweiz
Ja und dann die Schweiz. Eine kleinere Stadt als erste Etappe, als nächste ein Zürcher Vergnügungsviertel. Julia erinnert sich gut an Orte und Namen. Die Interieurs dagegen waren immer ähnlich: überall Boudoir-Kitsch, die gerüschten Vorhänge, die Tischchen, die lange Bar, die Bühne mit der Stange, an der die Frauen tanzen. «Am schwersten war es als Neuling ohne Sprachkenntnisse; man weiss nichts über die Arbeitsbedingungen», sagt Julia. Einmal habe ein Cabaret-Besitzer am Monatsende gar nichts bezahlt und irgendwas von Abzügen und schlechtem Geschäftsgang erzählt. An anderen Orten sei sie anständig behandelt worden. Da konnte sie einfach nur ihre Show zeigen und musste nicht die Männer zum Trinken animieren.
«Der Mindestlohn liegt bei 2300 Franken netto; man arbeitet acht Stunden, morgens um vier oder fünf Uhr ist Schluss, manchmal, wenn viel Betrieb war, dauerte es länger, aber Zuschläge gibts deswegen keine», erzählt Julia. «Am schlimmsten war der Alkohol.» Sie wusste zwar, dass die Cabaret-Tänzerinnen in der Schweiz Champagner trinken müssen, aber nicht, dass der Umsatz der Cabarets in erster Linie auf der Anzahl der Flaschen beruht, die die Kunden pro Abend für die Tänzerin bestellen. 500 Franken, je nach Marke auch 700 Franken kostet eine Flasche, die man im Supermarkt für 40, 50 Franken kaufen kann. «Und so läuft das: Du tanzt, dann gehst du zu einem Kunden, fängst ein Gespräch an und fragst, ob er dir eine Flasche spendieren würde. Innerhalb einer Stunde muss die Flasche leer sein, und du musst versuchen, möglichst sofort die nächste Flasche auf dem Tisch zu haben. Die Kunden selber trinken gar nicht besonders gerne Champagner, hätten wohl lieber ein Bier, aber auch du musst trinken, auch wenns dir widersteht.» Alka-Seltzer und harntreibende Tees wegen der vielen konsumierten Flüssigkeit haben sie und ihre Kolleginnen massenweise runtergespült: Alkohol schwemmt auf, gibt Tränensäcke unter den Augen, Cellulitis und geschwollene Füsse.
«Manchmal schaffst du es, den Champagner irgendwohin zu leeren, aber manche Kunden merken das und werden zornig. Dann wollen sie nicht zahlen, und schliesslich werden dir die 500 Franken vom Lohn abgezogen. Unzufriedene Kunden sind schlecht fürs Geschäft, und du bekommst Ärger mit dem Cabaret-Besitzer. Auf die Barkeeper ist nicht zu zählen, die stehen manchmal auf der anderen Seite. Monatlich wird festgelegt, wie viel Umsatz du machen musst. Wenn du das Soll von beispielsweise fünf Flaschen pro Arbeitstag schaffst, kriegst du Umsatzbeteiligung, wenn nicht, musst du mit Abzügen beim Lohn rechnen, und im schlimmsten Fall droht der Besitzer, den Vertrag nicht mehr zu erneuern. Dann stehst du am Monatsende ohne Engagement und ohne Unterkunft da.» Nach einer Pause fügt Julia hinzu: «Ich bin entsetzt über die Arbeitsbedingungen, wie sie in einem zivilisierten Land wie der Schweiz vorkommen. Und keiner schaut gerne hin.» Doch dass sich die Frauen nicht häufiger wehren, wundert Julia nicht. «Das steckt tief drin, das Misstrauen gegenüber den Behörden und der Polizei.»
Cabaret-Tänzerinnen kommen mit einer sogenannten Kurzaufenthaltsbewilligung L ins Land. Das Mindestalter ist zwanzig Jahre. «Das ist einfach viel zu jung», kritisiert Julia. «In diesem Alter hat man keine Erfahrungen. Der Alkohol ist das eine, manche Frauen konsumieren auch Drogen, Medikamente, das macht einen kaputt, schon nach kurzer Zeit.» Und das Zynische daran sei, dass in den Arbeitsverträgen für Cabaret-Tänzerinnen explizit festgehalten sei, dass niemand zum Konsum von Alkohol oder zur Prostitution gezwungen werde. Doch eigentlich drehe sich alles rund um die Prostitution, da müsse man sich nichts vormachen. «Wenn Kunden hunderte von Franken hinblättern, wollen sie ja was dafür.» In manchen Cabarets seien in den oberen Stockwerken Zimmer, wo die Frauen mit den Kunden hingehen oder sie gehen in ein Hotel in der Nähe.
Julia hat den Absprung geschafft. Mehr als ein Jahr ist das her. Heute studiert sie Wirtschaftswissenschaften an einer Schweizer Universität und möchte später für eine international tätige Organisation oder Unternehmung arbeiten. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich heute mit einer Teilzeitstelle als Sekretärin.
Hinter den Samtportieren
Zwischen Zürich und Genf, Trimbach und Mendrisio gibt es rund 350 Cabarets und Nachtclubs. Wie viele Tänzerinnen allabendlich auf helvetischen Bühnen stehen, ist nicht ganz einfach zu beziffern. Immerhin: 2005 waren rund 6000 Einreisen zu verzeichnen gewesen (mehrmalige Einreisen mitgezählt); allein im Kanton Schwyz waren 400 Tänzerinnen gemeldet. Noch vor ein paar Jahren stammten die Frauen vorwiegend aus Thailand, Brasilien und der Dominikanischen Republik, heute kommen sie mehrheitlich aus der Ukraine, Russland, Rumänien oder den baltischen Staaten.
Ein Grossteil der Tänzerinnen ist im Besitz einer Kurzaufenthaltsbewilligung. Für höchstens acht Monate dürfen sie in Schweizer Cabarets arbeiten und wechseln während dieser Zeit von Monat zu Monat den Arbeitsort. Ein Monat ohne Engagement liegt drin; wer keinen neuen Vertrag kriegt, ist draussen. Das macht die Frauen abhängig von Arbeitgebern und Vermittlungsagenturen. Im Cabaret wird auf Umsatz gearbeitet. Obwohl Tänzerinnen laut Vertrag nicht dazu gezwungen werden dürfen, Kunden zu animieren, selber Alkohol zu konsumieren oder sexuelle Dienstleistungen zu erbringen, ist die Praxis eine andere. Dazu kommen häufig Unregelmässigkeiten bei den Lohnabrechnungen, schlechte Arbeitsbedingungen und Schulden, die abzuzahlen sind.
Tanzen ist prekäre Arbeit, und über das, was hinter den Samtportieren mancher Etablissements vor sich geht, erfährt die Öffentlichkeit wenig. Die Cabaretiers geben sich gerne bedeckt und reden von wenigen schwarzen Schafen in der Branche.
Studien und eine Veranstaltung
Seit seiner Gründung 1985 berät das FIZ (Fraueninformationszentrum für Frauen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa) immer wieder Cabaret-Tänzerinnen, die sich wegen Missbräuchen an eine unabhängige Stelle wenden. Jetzt hat das FIZ, das sich für die Rechte der Frauen auch auf politischer Ebene einsetzt, eine Studie in Auftrag gegeben, um mehr zu erfahren über die Arbeits- und Lebensbedingungen der Cabaret-Tänzerinnen in der Schweiz. Die Forscherinnen Janine Dahinden und Fabienne Stants vom Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien in Neuenburg haben siebzig Cabaret-Tänzerinnen, aber auch Nachtclub-BesitzerInnen, Behörden- und InteressenvertreterInnen interviewt. Die 200 Seiten starke Studie erscheint gleichzeitig auch in einer Kurzfassung; sie beschreibt nicht nur die aktuelle Situation, sondern diskutiert mögliche Verbesserungen für die Tänzerinnen in den Cabarets.
• «Champagner, Plüsch und prekäre Arbeit». Präsentation der Studie und Podiumsdiskussion. Konferenzzentrum Walcheturm, Walchestrasse 6 (Stampfenbachplatz), Zürich, Mittwoch, 30. August, 18 Uhr.
• «Arbeits- und Lebensbedingungen von Cabaret-Tänzerinnen in der Schweiz», Studie von Janine Dahinden und Fabienne Stants vom SFM Swiss Forum for Migration and Population Studies, Universität Neuenburg. Die Studie kostet dreissig Franken und kann bei www.fiz-info.ch bestellt werden.
• «Champagner, Plüsch und prekäre Arbeit. Arbeits- und Lebensbedingungen von Cabaret-Tänzerinnen in der Schweiz». Die Kurzfassung der Studie kostet zwölf Franken und kann bei www.fiz-info.ch bestellt werden.