Klima: Lasst die Niederlande untergehn
Warum es toller ist, über Triebtäter als über Energie zu reden.
Gefühle bringen den Menschen zum Denken. Nicht umgekehrt. Wer es nicht glaubt, muss nur zwei aktuelle Debatten anschauen. Bei der einen geht es um einen Gefangenen, der Krebs hat. Man gewährt ihm Hafturlaub. Er vergewaltigt eine Prostituierte, vielleicht auch mehrere. Es stellt sich heraus, dass er früher regelmässig Frauen vergewaltigte, deshalb verwahrt war, als untherapierbar gilt, trotzdem im offenen Strafvollzug war und sich unbegleitet rumtreiben durfte. Unverständlich. Die Gemüter kochen. Die Verwahrungsdebatte ist wieder voll im Gang. Man fordert hundertprozentige Sicherheit, die Täter sollten das Restrisiko tragen, sagte zum Beispiel Anita Chabaan diese Woche im «Club» des Schweizer Fernsehens. Weg mit den JuristInnen, weg mit der Menschenrechtskonvention. Die Schweiz ist eine direkte Demokratie und habe das Recht, sich zu schützen. Das Volk wolle, dass man Sexual- und Gewaltdelinquenten lebenslänglich wegsperre, so stehe es heute in der Verfassung. Chabaan darf das sagen, brachte sie doch im Alleingang die Verwahrungsinitiative durch.
Die andere Debatte war den Medien einige wenige Zeilen wert: Umweltorganisationen präsentieren Klimamasterplan. Sechzig Organisationen haben sich zusammengeschlossen, um die 2000-Watt-Gesellschaft zu propagieren. Sie sagen, der Klimawandel werde die Schweiz jährlich drei Milliarden Franken kosten, wenn wir nichts tun. Die Niederlande und Bangladesch würden im Meer versinken. Es komme zu fünfzig bis hundert Millionen Klimaflüchtlingen. Das ist nicht sexy - wie es die Medien gern haben. Sexy wäre, wenn erneut zerstörerische Unwetter übers Land gezogen wären wie vor einem Jahr. Wenn nicht nur der Juli, sondern auch der August superheiss gewesen wären. Oder wenn die Niederlande bereits unter Wasser stünden. Dann hätten die Leute von der «Allianz für eine verantwortungsvolle Klimapolitik» im «Club» auftreten dürfen. Aber ProphetInnen, die einem den Offroader und die Ferien in Australien vermiesen, sind keine guten Menschen.
Gute Menschen bekämpfen das Böse wie Frau Chabaan. Und das Böse muss Namen und Gesichter haben. So Unfassbares wie Energie löst keine Gefühle aus. Das Zeugs kommt aus der Steckdose oder aus der Zapfsäule. Ist sauber, verlässlich, unverständlich.
Einen Vergewaltiger kann sich jeder vorstellen. Doch wie sieht ein Watt aus? Das könnte kaum jemand beantworten, aber alle wissen, dass diese Watts für unser gutes Leben verantwortlich sind. Früher, als die Watts noch nicht in rauer Menge verfügbar waren, musste man schuften. Sklaverei war eine Form, sich fremde Watts anzueignen. Napoleon liess zum Beispiel die Sklaverei verbieten, bis er merkte, dass ihm die Gratiskraft fehlte. Also liess er die Sklaverei aus ökonomischen Gründen wieder zu. Ein Mensch leistet höchstens 200 Watt. Und beansprucht 6000. Das heisst, dreissig Menschen müssten für jeden Einzelnen von uns schuften, wenn wir die fremde Energie nicht hätten. Die Umweltorganisationen wollen nun, dass ein Individuum nur noch die Energie von zehn Arbeitskräften beansprucht.
Aber eben: Energie hat keine Persönlichkeit. Doch dank ihr können wir wie FeudalherrInnen leben. Sind die EnergiesklavInnen weg, beginnt voraussichtlich das grosse Hauen und Stechen. Oder anders ausgedrückt: Viele soziale Konflikte sind gar nie ausgebrochen, weil billige Energie die Umverteilungsfrage zugedeckt hat. Der moderne Sozialstaat hat sich parallel zum Energiekonsum entwickelt. Ist er ohne exzessiven Energieverbrauch überhaupt überlebensfähig?
Energiefragen beschwören Emotionen, die mächtiger sind als die Angst vor Triebtätern: Wir sind die Bösewichte. Wir sollten uns selbst beschränken - was nach einer brutalen Selbstbestrafung riecht, sollten wir doch so leben müssen wie die Armen dieser Erde, die nur 2000 Watt beanspruchen ...
Theoretisch wäre mit viel weniger Energie ein gutes Leben möglich. Die Umweltorganisationen haben es mit ihrem «Wegweiser in die 2000-Watt-Gesellschaft» aufgezeigt. Niemand müsste darben. Doch um das rechtzeitig anzugehen, müsste das Denken an die Emotionen herankommen. Aber wie?