Justiz: Der Mord in Zollikerberg
Am 16. März erscheint «Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens», das neue Buch von WOZ-Redaktorin Susan Boos. Ein Vorabdruck – über das Verbrechen, das den Schweizer Strafvollzug bis heute prägt.
Es ist der 30. Oktober 1993, ein Samstag. In Bosnien herrscht Krieg. In Sarajevo wird geschossen, mindestens zwanzig Menschen sterben dort an diesem Tag. Die baskische Untergrundorganisation Eta lässt eine Geisel frei. In der Schweiz trifft sich die CVP zur Delegiertenversammlung.
Das Thema ist die innere Sicherheit. Der damalige Justizminister Arnold Koller listet auf, was sein Departement alles geplant hat, von neuen Strafnormen gegen das organisierte Verbrechen bis zu den sogenannten Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht. Er sagt, das verbreitete Gefühl der Unsicherheit könne nicht allein auf die Kriminalität zurückgeführt werden, sondern müsse andere Ursachen haben. Im letzten Jahr sei die Gesamtkriminalität gesunken. «Die Gefahr, auf der Strasse zu verunglücken oder gar überfallen zu werden, ist wesentlich kleiner, als im eigenen Haushalt zu verunglücken», sagt der CVP-Bundesrat.
An diesem Tag geschieht ein Mord, der die Schweiz verändern wird. «Zollikerberg ZH – Die 20-jährige Pfadiführerin Pasquale Brumann ist am Samstag in einem Waldstück in der Nähe ihres Wohnortes von einem unbekannten Täter umgebracht worden. Die angehende Krankenschwester hätte am Samstag um 13 Uhr bei ihrer Pfadigruppe sein sollen – erschien jedoch nicht beim Treffpunkt Allmend-Zollikon. Die Polizei suchte bereits am Samstag das Gelände mit Hunden ab, gestern halfen Pfadfinder. Gegen 15 Uhr wurde die junge Frau gefunden – verscharrt im losen Waldboden», schreibt der «Blick» am Montag, dem 1. November.
Ein Prozess gegen die Justiz
Die Boulevardzeitung setzt eine Gruppe Reporter auf den Fall an. Einige Tage später berichten sie: «Der sonnige Samstag sollte für die angehende Krankenschwester und begeisterte Pfadiführerin Pasquale Brumann ein besonderer Freudentag werden: In den letzten Monaten hatte sie rund ein Dutzend Pfadis zu Führern ausgebildet und wollte ihnen an einer kleinen Feier die Urkunden überreichen. Fröhlich marschierte sie durch den lichtdurchfluteten Herbstwald. Zwischen 12.45 Uhr und 13 Uhr muss Pasquale ihrem Mörder begegnet sein. Der hat sie auf bestialische Weise umgebracht. Die nackte, misshandelte, stark verschmutzte Leiche wurde von den Suchtrupps der Polizei am Sonntag gefunden. Verscharrt unter einem Baumstrunk. […] Zu den Hinweisen, dass der jungen Pfadiführerin die Kehle durchtrennt worden ist, wollte Polizeisprecher Markus Atzenweiler noch keine Stellung nehmen, schloss ein Sexualdelikt auch nicht aus.»
Eine Woche nach der Tat folgt das Geständnis. Es war ein Häftling auf Freigang. Der «Blick» schreibt: «Der zweifache Frauenmörder Erich Hauert (34) gestand gestern, Pasquale Brumann (20) mit einem Messer getötet zu haben. Als ob nichts geschehen wäre, war der Sex-Killer Erich Hauert am Sonntagabend nach seinem Hafturlaub wieder in die Strafanstalt Regensdorf zurückgekehrt. Ein Mithäftling zu BLICK: ‹Aber er trug andere Kleider und hatte Kratzspuren. Das fiel nach Bekanntwerden des Mordes auf.› Für die Tatzeit hatte Hauert kein Alibi. Am Tatort soll ein Schuhabdruck gefunden worden sein, der auf Hauerts Grösse passt. Weiter wurden Spuren von Sperma auf dem nackten Körper der jungen Frau gefunden.»
Nicht nur der «Blick», dieses Mal berichten auch alle anderen Zeitungen atemlos. Es ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Hauert ist acht Jahre zuvor wegen zweifachen Mordes, zehn Vergewaltigungen und mehreren Raubüberfällen zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Trotzdem darf er alleine seinen Therapeuten aufsuchen. Bei einem dieser Freigänge kauft er sich Klebeband und ein Messer. Er geht in den Wald, der nicht weit von der Praxis seines Therapeuten liegt. Es ist der Wald von Zollikerberg, einem Dorf zwischen Zürichsee und Greifensee. Dort gibt es keinen Berg, der Zollikerberg heisst, aber eben diesen Wald. Pasquale Brumann durchquert ihn und wird zu Hauerts Opfer, zufällig; es hätte auch eine andere Frau treffen können.
Die Leute sind schockiert. In Leserbriefspalten wird die Todesstrafe gefordert. Doch der Zorn richtet sich vor allem gegen die, die zugelassen haben, dass Hauert sich frei bewegen durfte.
«Es war ein Psychiatriemord! Nie können Triebtäter als geheilt bezeichnet werden. Hafturlaub für Schwerstverbrecher – wir alle waren ahnungslos. Aber das in den Augen der Spezialisten dumme Volk darf ja betrogen werden. Unsere Meinung interessiert keinen. Wie lange noch?», schreibt R. S. aus Zürich.
«An die Herren Psychiater, Therapeuten, Psychologen, Sozialhelfer: Bald könnt ihr euren Schützling wieder in die Arme schliessen, ihn trösten, ihm gut zureden, Verständnis zeigen, und er kann guten Mutes sein, nach ein paar Jährchen das Gefängnis wieder verlassen zu dürfen. Was, wenn eure Kinder Opfer von Gewalt würden?», schreibt R. D. aus Winterthur.
«Empörend! Schon wieder wurde einem Schwerverbrecher Urlaub gewährt, der ja eigentlich nach zwei Morden und 10 Vergewaltigungen eher an den Galgen gehörte. Herr Leuenberger, wenn Sie nur einen Funken Mitgefühl für die schwergeprüfte Familie Brumann haben, übernehmen Sie die politische Verantwortung und treten Sie zurück», schreibt W. B. aus Richterswil ZH.
Drei Jahre später findet der Prozess statt. Es ist mehr als ein Prozess gegen einen Mörder. Es ist auch ein Prozess gegen die Justiz. Schon Mitte der achtziger Jahre war Hauert begutachtet worden. Der Psychiater schreibt, Hauert habe einen «starken Drang zur aggressiven Bemächtigung der Umwelt». Tötungsfantasien und eine zu geringe Ich-Stärke zu ihrer Abwehr ergäben eine unheilvolle Kombination. «In solchen Perioden ist die Gefahr gross, dass die aggressiven Strebungen und möglicherweise auch Grössenfantasien ins Verhalten durchschlagen.»
Hauert hat alle Frauen nach einem ähnlichen Muster umgebracht: Einstiche im Rücken, Schnitte am Hals, bis zum Durchschneiden der Kehle. Eine neunzehnjährige Velofahrerin holte er bei Solothurn vom Rad, quälte sie, schlug sie mit einer Stahlrute, bis sie sich nicht mehr regte. Dass sie überlebte, war ein Wunder. Die Taten gleichen denen eines Serienkillers, die immer brutaler werden. Die Leute mögen solche Geschichten, wenn sie im Fernsehen kommen. Nur ist es dieses Mal real.
Erich wird 1959 als unerwünschtes Kind in Basel geboren. Der Vater ist Alkoholiker und erschiesst sich, als der Junge elf Jahre alt ist. Seine Mutter arbeitet als Kellnerin und hat kaum Zeit, sich um ihren Sohn zu kümmern. Erich bekommt einen Vormund, wird zuerst in einer Pflegefamilie und später in Heimen untergebracht. In der Pflegefamilie wird er täglich mit dem Teppichklopfer misshandelt. Im Kinderheim gibt es Stockschläge. Als Erich einmal erwischt wird, wie er Brotreste im Klo entsorgen will, wird er gezwungen, das Brot herauszufischen und aufzuessen.
Erich macht bei der Migros eine Lehre. Er absolviert die Rekrutenschule und wäre Unteroffizier geworden, wenn er nicht bei einem bewaffneten Raubüberfall erwischt worden wäre. Er lebt als Einzelgänger, hält Frauen für hochnäsig und berechnend.
Als er nach den beiden ersten Tötungsdelikten begutachtet wird, sagt er, die beiden Frauen seien an ihrem Tod mitschuldig gewesen, weil sie sich übertrieben gewehrt hätten. Er hält die beiden Tötungen für «Schicksal», «Pech», «unglückliche Umstände».
Egal wie schlimm seine Kindheit war, Hauert gehört zu den Menschen, die man nie mehr in Freiheit sehen möchte. Ein grausamer Mensch, der mit allergrösster Wahrscheinlichkeit nicht zu therapieren wäre.
Das Zürcher Obergericht verurteilt ihn im September 1996 zu einer lebenslänglichen Zuchthausstrafe und schiebt die Strafe zugunsten einer Verwahrung auf unbestimmte Zeit auf. Hauerts Verteidiger hatte wegen verminderter Zurechnungsfähigkeit eine Strafe von nur fünfzehn Jahren beantragt. Allerdings findet auch er, Hauert müsse auf unbestimmte Zeit verwahrt werden. Der Verteidiger fügte an: Dieser Antrag ergehe mit dem Einverständnis seines Mandanten, Hauert habe das Sicherungsbedürfnis der Öffentlichkeit anerkannt. Er wird nie mehr freikommen.
Moritz Leuenberger in Erklärungsnot
Vom ersten Tag nach dem Mord an steht der monumentale Vorwurf im Raum: Wie konnte das passieren?
In der Verantwortung ist Moritz Leuenberger. Seine Karriere beginnt als Anwalt in Zürich. Zwanzig Jahre lang hat er in der Langstrasse ein Büro. Viele Jahre sitzt er im Nationalrat. 1991 wird er in die Zürcher Regierung gewählt. Bei Hauerts Hafturlaub ist er der zuständige Justizdirektor. Er müsste die Frage beantworten können, wie der Mord passieren konnte. Vier Jahre später wird der Sozialdemokrat in den Bundesrat gewählt werden und fünfzehn Jahre lang dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation vorstehen.
Wir verabreden uns im Bistro des Bernhard-Theaters, das gleich neben dem Zürcher Opernhaus liegt. Es regnet wie verrückt. Moritz Leuenberger kommt herein, sein Regenmantel klatschnass, zwei schwere Taschen in den Händen. Material für eine Sitzung, die er nachher hier noch haben wird. Das Bernhard-Theater ist seine neue Wirkungsstätte. Regelmässig veranstaltet er im Theater Sonntagsmatineen und unterhält sich mit Gästen – Schriftstellerinnen, Filmemachern oder Politikerinnen. Er sagt, er sei jetzt unter die Entertainer gegangen, und lacht. Es gehe in den Matineen nicht um Politik, mehr witzig, vergnügt und unterhaltsam sollten sie sein. Der Mann scheint nicht zu altern. Schmales Gesicht, schlank und dasselbe skeptische Lächeln wie früher.
Wie war das im Oktober 1993? Wann hatte er das erste Mal vom Mordfall gehört?
Leuenberger bestellt sich ein heisses Zitronenwasser. Er habe in der Zeitung über den Mord gelesen; daran könne er sich gut erinnern. «Die schreckliche Tat passierte ja in unmittelbarer Nähe. Aber ich hatte nicht im Entferntesten daran gedacht, dass ich später etwas damit zu tun bekommen könnte.»
Erst Tage später begriff er, dass er in einen Mediensturm katapultiert worden war. Er weiss nicht mehr genau, an welchem Tag es exakt war, aber der Regierungsrat war auf einem Ausflug. Dort erfuhr er, dass die Tat von einem Rückfalltäter auf Urlaub begangen worden war. Als er nach Hause kam, stand ein Journalist vor seiner Haustür. Er wollte ein Interview. Leuenberger verweigerte es; das sei ihm später vorgeworfen worden. «Ich stand in jenem Moment nicht über der Sache, insofern habe ich nicht adäquat reagiert. Aber es hat mich auch mitgenommen, ich war paralysiert. Das gibt es halt.»
Noch am selben Abend stellte sich Leuenberger den Medien. Er beantwortete die Fragen, so weit er das überhaupt konnte. Als erste Massnahme erliess er für sämtliche Gewalt- und Sexualtäter eine Urlaubssperre. «Diese Urlaubssperre war gesetzeswidrig. Das war mir damals bewusst», sagt er. «Die Emotionen sind aber dermassen hochgegangen, dass ich das gegeneinander abgewogen habe. Und interessanterweise hat es keinen einzigen Rekurs gegeben. Sogar die Häftlinge haben es irgendwie als politische Massnahme akzeptiert. Aber ich weiss, es war eine populistische Reaktion.» Später setzte er eine Kommission ein, die sämtliche Urlaubsgesuche beurteilen musste.
Als Leuenberger sein Amt antrat, schaute er alle Unterschriftenregelungen an. Er wollte wissen, was er selber entscheiden musste und was er delegieren konnte. Vor seinem Amtsantritt war ein Beamter dafür zuständig, ob ein Häftling in den Urlaub durfte oder nicht. Egal für welche Tat er einsass. Leuenberger änderte das. Er ordnete an, dass bei Gefangenen, die ein Gewaltdelikt begangen hatten, er persönlich unterschreiben musste, bevor der Häftling Freigang bekam.
Hauert wäre ein solcher Häftling gewesen, ohne jeden Zweifel. Doch niemand unterbreitete Leuenberger das Dossier Hauert zur Unterschrift. Man liess ihn raus. Leuenberger wusste von nichts. «Ich könnte jetzt sagen: Wäre mir dieses Urlaubsgesuch gezeigt worden, hätte ich das niemals gestattet», sagt er nachdenklich, «aber das kann ich ja ehrlicherweise gar nicht wissen. Wenn es mir nämlich gezeigt worden wäre, hätten sie mir wohl erläutert, warum das so sein müsse, und dann hätte ich vielleicht unterschrieben. Ich weiss es einfach nicht.»
Verschiedene Medien werfen Leuenberger noch Jahre nach der Tat vor, er sei informiert gewesen und habe doch nichts unternommen. Ein Staatsanwalt sagt im Fernsehen, er habe schon lange vor dem Mord an Pasquale Brumann vor dem lockeren Strafvollzug gewarnt; niemand habe auf ihn gehört. Die «Weltwoche» doppelt nach und schreibt, der besagte Staatsanwalt habe Leuenberger «mehrfach vor der drohenden Gefahr gewarnt». Skandalös sei, wie Leuenberger das alles vertuscht habe, nur um sich die Wahl in den Bundesrat zu sichern.
«Sie haben mich richtig gehasst»
Leuenberger erinnert sich an diese Vorwürfe. Er erzählt aus dem Innern seines Departements: «Als ich das Amt des Justizdirektors antrat, traf ich auf eine total feindliche Verwaltung – sie haben mich richtig gehasst.» Damals hatte er noch keine Erfahrung in der Exekutive. Er habe versucht, mit den Beamten, die bereits für die Direktion gearbeitet hatten, irgendwie auszukommen. Die wichtigste Person war der Generalsekretär, den schon seine Vorgängerin eingesetzt hatte. Dieser Mann mochte seinen neuen Chef nicht. «Nach der Direktionsverteilung im Regierungsrat hat er seine Leute zusammengetrommelt und zu ihnen gesagt: ‹Man hat uns den Abschaum zugeteilt.› Mit dem Abschaum meinte er mich», erzählt Leuenberger. «Als ich das erfuhr, hätte ich ihm sofort kündigen müssen. Stattdessen habe ich immer wieder probiert, mit ihm auszukommen. Die ersten zwei Jahre in der Justizdirektion waren für mich die Hölle.» Der Generalsekretär habe alles hintertrieben und ihm systematisch Informationen vorenthalten. Deshalb, so sagt Leuenberger heute, könne es durchaus sein, dass die Justizdirektion informiert gewesen war. «Aber ich selber hatte mit besagtem Staatsanwalt nie direkten Kontakt in dieser Sache.»
Kurz nach dem Mord sollte Leuenberger vor dem Kantonsrat eine Erklärung abgeben. Der Generalsekretär schrieb ihm einen Entwurf. «Wenn ich eine solche Erklärung abgegeben hätte, das wäre mein politisches Todesurteil gewesen. Vermutlich hat er das auch gewollt», konstatiert Leuenberger. «Er schrieb in etwa: Dieser Mordfall sei die Folge des linken Strafvollzugs, jetzt könne man sehen, wohin der ganze übersteigerte Sozialgedanke führe, und so weiter. Dabei hatte der Generalsekretär diesen Strafvollzug seit Jahren selber zu verantworten, wollte aber die Fehler, die bei Hauert gemacht worden waren, mir und meiner politischen Herkunft in die Schuhe schieben.» In diesem Moment sei ihm klar gewesen, dass er seinen Generalsekretär entlassen musste. Was er dann auch tat.
Leuenberger nimmt aus einem Mäppchen die Erklärung, die er danach selber verfasste. Er hält ein dreiseitiges, ziemlich vergilbtes Papier in den Händen. Datiert vom 8. November 1993:
«Letztes Wochenende wurde in Zollikerberg die zwanzigjährige Frau Pasquale Brumann ermordet.
Als wir von diesem Verbrechen erfuhren, fragten wir uns entsetzt, wie ist so etwas möglich, was hat diese Frau durchgemacht, welche Schmerzen leidet die Familie, jetzt und immer. Wir denken an unsere und an befreundete Kinder und Frauen und auch an uns selber. Mit der Familie fragen wir: Warum? Wir haben Angst und sind verunsichert.
Im Namen des Regierungsrates des Kantons Zürich spreche ich den Angehörigen des Opfers unser schmerzlich empfundenes Mit- und Beileid aus. Sie haben nicht nur Anrecht auf unser Mitgefühl, sondern auch auf materielle und rechtliche Hilfe zur Bewältigung ihrer Probleme und Durchsetzung ihrer Rechte. […]
Der Täter ist ein aus der Strafanstalt Regensdorf [heute JVA Pöschwies] beurlaubter Gefangener. Dieser Urlaub ist somit eine Mitursache des Verbrechens. Diese Mitursache hat der Staat gesetzt und zu verantworten. […]
Ferner ist es unsere Pflicht, alles Erdenkliche zu unternehmen, dass sich eine auch nur viel geringere Katastrophe nicht wiederholt. […]
Selbst wenn über 95 Prozent aller Urlaube unproblematisch verlaufen, dürfen wir uns nach einem derartigen Ereignis nicht rechtfertigend auf den Standpunkt stellen, es seien keine Fehler begangen worden, absolute Sicherheit sei ja doch nie zu erreichen, und zur Tagesordnung übergehen. […]
Bei der Frage der Gefährlichkeit oder Rückfälligkeit eines Täters hat die Öffentlichkeit den Anspruch, dass im Zweifel für ihre Sicherheit entschieden wird.»
Im Zweifel für die Sicherheit
Leuenbergers Rede war eine historische Rede, die bis heute Auswirkungen hat. Das Credo «im Zweifel für die Sicherheit» gilt seither und führt dazu, dass mehr Menschen präventiv im Gefängnis bleiben.
Leuenberger war selber Verteidiger. Hat der Fall Hauert seinen Blick aufs Strafen verändert? Nein, sagt er, aber die Rolle als Regierungsrat sei eine andere gewesen. «Als Verteidiger hat man die Aufgabe, sich prioritär für die Interessen seines Mandanten einzusetzen. Als Regierungsrat musste ich mir dann sagen: Mein Mandant ist die Allgemeinheit. Das sind sehr viel mehr Menschen, deren Interessen ich vertreten muss. Ich persönlich habe die Rache als Motiv für den Strafvollzug nie akzeptieren können. Es geht darum, eine sinnvolle Strafe zu verhängen, die den Täter resozialisiert und verhindert, dass er rückfällig wird. Ihn aus Rache hart zu bestrafen, kann kein Kriterium sein. Es kommt doch darauf an, dass er nicht rückfällig wird, und da kann eine harte Strafe das Gegenteil bewirken. Als Justizdirektor habe ich gemerkt, Opfer denken anders. Für sie ist die Rache wichtig. Das ist nicht auszumerzen, das ist in allen Menschen tief verwurzelt. Gegen den Ruf nach harten Strafen kann man nicht viel ausrichten. Wenn der Staat es aufgibt, dieses Element in die Strafbemessung aufzunehmen, laufen wir wieder in Privatfehden hinein. Der Staat hat die Strafe monopolisiert. Er hat gesagt: Ich sorge dafür, dass Gerechtigkeit da ist; die Vergeltung übernehme ich. Wenn er nun sagt: Die Rache spielt bei der Höhe der Strafe überhaupt keine Rolle – was ich persönlich finde –, nährt er den Gedanken bei den Opfern, sie müssten sich selber rächen, wenn der Staat es nicht tut.» Deshalb sei die Härte der Strafen ein notwendiges Kriterium.
Als Anwalt hatte er Klienten, denen die Verwahrung drohte. «Aber das habe ich immer vorzeitig abgebremst, indem ich mit den Bezirks- und Staatsanwälten vorher geredet habe, damit sie den Antrag vor Gericht gar nicht stellen.» Selbstverständlich habe er immer versucht, eine Verwahrung abzuwenden, das sei die Aufgabe eines Verteidigers. «Die Verwahrung ist ein nachvollziehbares Konstrukt – jemand wird für immer weggesperrt, und dann hat man Sicherheit. Nur geht das Konstrukt nicht auf. Irgendwann ist der Betreffende achtzig, ist vielleicht invalid, kann gar kein Delikt mehr begehen und kostet im Gefängnis enorm viel Geld. Deshalb muss jeder Fall von Verwahrung immer wieder einmal angeschaut werden. Gerade die lebenslängliche Verwahrung ist ein Schlagwort; in der Umsetzung funktioniert sie so nie.»
Das Schweizer Massnahmenrecht
Artikel 64 des Strafgesetzbuchs (StGB) regelt die eigentliche Verwahrung. Das Gericht verhängt sie, wenn es davon ausgeht, dass die Öffentlichkeit vor einer Person geschützt werden muss, weil diese als gefährlich respektive psychisch gestört und nicht therapierbar eingeschätzt wird. Die verwahrten Täter:innen sind für gewöhnlich in einer geschlossenen Strafanstalt untergebracht.
Artikel 59 StGB wird gerne als «kleine Verwahrung» bezeichnet. Sie wird verhängt, wenn das Gericht Straftäter:innen für psychisch gestört, aber therapierbar hält. Es ordnet deshalb anstelle der Strafe, die relativ gering sein kann, eine «stationäre Massnahme» an, die in einem spezialisierten, offenen Massnahmenzentrum oder der Psychiatrie vollzogen wird. Die Massnahme kann unbeschränkt verlängert werden.
Archipele der Verwahrung : Auge um Auge
Was tun mit gefährlichen Menschen? Mit Männern, die gemordet oder Kinder missbraucht haben? Und die eventuell wieder rückfällig werden? Sie lassen sich vielleicht resozialisieren, aber eben nur vielleicht. Deshalb wurde die Verwahrung eingeführt, die unbefristete Haft – um die Gesellschaft vor denen zu schützen, die es wieder tun könnten.
Für ihr Buch hat WOZ-Redaktorin Susan Boos mit Fachleuten, Verwahrten und deren Angehörigen gesprochen. Der berühmte Gutachter Frank Urbaniok erzählt, wie er sein Diagnosemodell Fotres entwickelt hat, mit dem festgestellt werden soll, wer wirklich gefährlich ist und drinnen bleiben muss. Herr Vogt berichtet, warum er es nicht aushält, länger verwahrt zu sein, und sich gerne mit Exit das Leben nähme. Frau Scherrer macht sich Vorwürfe, weil sie glaubt, sie sei mitschuldig, dass ihr Sohn als Pädophiler verwahrt worden ist.
Susan Boos reiste durch die Archipele der Verwahrung – vom Schweizer System, in dem Verwahrte gewöhnliche Gefangene sind, über Deutschland, wo sie in besonders eingerichteten Gefängnissen leben, und die Niederlande, wo man ihnen hinter Zäunen ein möglichst normales Leben bieten möchte, bis nach Österreich, wo es nicht gelingt, ein längst überkommenes System zu ändern. Zurück in der Schweiz, trifft sie den Berner Rechtsprofessor Martino Mona, der erklärt, warum es im Rechtsstaat keine Verwahrung geben sollte und was er mit gefährlichen Menschen täte.
Präventiv Leute wegzusperren, ist verlockend – weil niemand mehr die Verantwortung übernehmen möchte, wenn jemand rückfällig wird. Dann braucht man nicht über Sinn und Zweck des Strafens nachzudenken. Was müsste man mit gefährlichen Menschen tun, wenn es kein unbefristetes Wegsperren geben dürfte? Welche Strafe müsste jemand für einen brutalen Mord verbüssen, damit es als gerecht empfunden würde? Oder für die Vergewaltigung eines Kindes? Darum geht es in diesem Buch – und auch um die unangenehme Frage, ob es vielleicht schärfere Strafen braucht, um vom präventiven Strafen wegzukommen. Eine Debatte, die wehtut und doch dringend nötig ist.
Susan Boos: «Auge um Auge. Die Grenzen des präventiven Strafens». Rotpunktverlag. Zürich 2022. 240 Seiten. 28 Franken. Erscheint am 16. März. Vernissage am Dienstag, 5. April 2022, im «Sphères» in Zürich.